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Frankfurt

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Insgesamt 778 Bewertungen
Bewertung vom 28.06.2025
Taylor, Austin

Das Gefühl von Unendlichkeit


gut

Was haben ein Hörsaal, ein Urknall und eine Chemie-Vorlesung gemeinsam? Ganz einfach: Das Gefühl von Unendlichkeit. Dieser Roman ist kein stiller Leseabend mit Kamillentee – das ist ein Leuchtfeuer aus Emotion, Wissenschaft und ganz großer Gefühlsexplosion.
Nicht Taylor Swift, die Sängerin – sondern Austin Taylor, die Autorin, hat mit diesem Debüt ein Werk geschaffen, das sich nicht in gängige Genres pressen lässt. Es ist Romance, ja – aber nicht süßlich. Es ist Wissenschaft, ja – aber nicht trocken. Und es ist Drama, aber eines mit echtem Tiefgang, das einen in Harvard absetzt und nicht eher loslässt, bis man auch selbst kurz davor ist, die Thermodynamik des Herzens zu berechnen.
Zoe ist klug, ehrgeizig, analytisch – aber dann kommt Jack. Auch er ist kein klassischer Bookboyfriend, sondern ein vielschichtiger Charakter mit Schatten und Substanz. Zwischen Vorlesungssaalsarkasmus, nächtelangen Gesprächen und einem intellektuellen Battle um die Gunst der Professorenschaft knistert es gewaltig. Und dann? Dann entdecken die beiden etwas, das nicht nur die Welt der Chemie auf den Kopf stellt, sondern bald auch ihr Leben.
Was Austin Taylor hier gelingt, ist nicht weniger als eine Explosion aus Intellekt und Intimität. Die Autorin bringt ihr eigenes Wissen ein – und ja, das merkt man. Manchmal wird es chemisch, manchmal wird es politisch, oft wird es persönlich.
Ja, das Buch hat Passagen, die etwas ausufern, und gegen Ende zieht ein dramatischer Nebel auf, der sich nicht ganz lichtet – aber das tut der Wucht der Geschichte keinen Abbruch. Statt Standard-Happy-End gibt’s Erkenntnisse, Reibung, Schmerz, Entwicklung. Genau das, was man sich von echter Literatur wünscht.
Mein Fazit:
Austin Taylor hat mit Das Gefühl von Unendlichkeit ein Debüt hingelegt, das sich nicht brav an Konventionen hält, sondern mit einem lauten Knall über die Seiten fegt. Für Leser:innen, die keine Angst vor Gefühl und Gehirn in Kombination haben und auch nicht klassiche Romance suchen.

Bewertung vom 28.06.2025
Bradley, Kaliane

Das Ministerium der Zeit


sehr gut

Ich lese ja wirklich vieles – aber Das Ministerium der Zeit hat meine Vorstellung von „originell“ noch mal neu kartografiert. Gelesen habe ich es, weil es im Podcast Zwei Seiten empfohlen wurde. Ich hatte Lust auf etwas, das anders ist. Und bekam ein Buch, das nicht nur anders, sondern auch herrlich seltsam, klug und emotional verwirrend ist.
Die Ausgangslage: Eine junge Frau bekommt einen Job in einem geheimnisvollen Ministerium, das Zeitreisen ermöglicht. Ihre Aufgabe? Einen echten viktorianischen Polarforscher – Commander Graham Gore, historisch verbürgt und moralisch irgendwo zwischen „gentleman“ und „verzweifelt überfordert“ – ins 21. Jahrhundert einzuführen. Gore wird also ins London von heute geholt und lernt zwischen Spotify, Bussen mit WLAN und „Frauen wohnen hier auch einfach so?“ das moderne Leben kennen. Und sie – unsere Ich-Erzählerin mit kambodschanischen Wurzeln – soll ihn begleiten. Als „Brücke“. Als Mitbewohnerin. Als Mensch, der erklären soll, was hier eigentlich Sache ist.
Was daraus entsteht, ist eine Zeitreise-Romanze ohne Kitsch, ein Science-Fiction-Roman ohne Raumschiffe, ein literarischer Tanz über die großen Themen: Kolonialismus, Identität, Sprache, Nähe, Gewalt, Macht, Erinnerung, Verlust. Und: Liebe. Ja, es wird auch romantisch – aber auf die leise, verdrehte, bittersüße Art. Kein großes Tamtam. Dafür Blicke, Dialoge, Momente, die lange nachhallen.
Bradleys Stil ist dabei etwas ganz Eigenes: gleichzeitig intellektuell und verspielt, bildstark und lakonisch, oft mit einem trockenen Witz, der mich mitten im Satz hat auflachen lassen. Und dann wieder poetisch und traurig, wie ein Gedicht, das zu spät auf dem Anrufbeantworter ankommt.
Commander Gore? Ein absoluter Szenendieb. Sein trockener Humor, seine Verlorenheit, sein Mut, sich in diese seltsame Welt hineinzutasten – all das macht ihn zu einer Figur, die man nicht vergisst. Unsere namenlose Erzählerin hingegen wirkt oft wie ein Gegenpol: kontrolliert, vorsichtig, manchmal fast zu zurückgenommen – und gerade deshalb faszinierend.
Aber: Irgendwann, so im letzten Viertel, rutscht das Buch ein wenig ins narrative Chaos. Geheimnisse überschlagen sich, politische Verschwörungen tauchen auf, die Zeit springt, die Perspektiven auch, und ich hatte kurz das Gefühl, als hätte jemand im Ministerium vergessen, die Chronologie zu sichern. Es wird wirr, manchmal zu sehr. Aber irgendwie passt auch das wieder zu dieser Geschichte, die sich nie ganz greifen lässt – wie die Zeit selbst.
Mein Fazit:
Dieses Buch ist wie ein handgeschriebener Brief aus einer anderen Epoche, der in einem modernen Briefkasten landet und genau im richtigen Moment gelesen wird. Es ist nicht perfekt, aber es will auch gar nicht perfekt sein. Es will überraschen, berühren, zum Nachdenken bringen – und genau das tut es.

Bewertung vom 28.06.2025
Bendix, Caspar

Born to perform - Sei das Rad, nicht der Hamster


gut

Also ehrlich – ich hab’s gelesen, weil ich dachte: „Komm, das klingt wie Stromberg auf Speed.“ Und ganz falsch lag ich damit nicht. Das Cover? Eher Business-Ratgeber-Vibes – sah aus, als müsste ich gleich meine Work-Life-Balance optimieren und einen Meditationskurs buchen. Aber nein: Born to perform ist kein Sachbuch, sondern eine Büro-Satire mit Herz, Hirn und einer gehörigen Portion Selbstironie.
Unser Held Bo Martens ist so ein typischer Typ, der nach dem Studium erstmal mit offenen Fragen kämpft – beruflich, emotional und vermutlich auch beim Wäschewaschen. Gut, dass ihm Dr. Thomas Meermann zur Seite steht – eine wandelnde PowerPoint-Folie in Anzugform, die mit hohlen Businessphrasen um sich schmeißt wie andere mit Konfetti. Und das ist ehrlich gesagt auch der größte Spaßfaktor des Buches.
Was dann passiert? Bo verliebt sich in seine Zahnärztin (natürlich! Irgendwer muss ja schöne Zähne haben in der Story), und sein bester Kumpel Jan – ein etwas zu selbstsicherer Lehrer mit dem Charme eines überzuckerten Energydrinks – beschließt, dass man Meermanns Management-Sprüche wunderbar auf das Datingleben übertragen kann. Drei Wochen Zeit fürs perfekte Date – was kann da schon schiefgehen?
Die Story selbst ist jetzt keine literarische Offenbarung – aber sie macht einfach Laune. Man merkt schnell: Wer Resturlaub oder Millionär von Tommy Jaud mochte, wird hier auch seinen Spaß haben. Und wer schon mal in einem Großraumbüro saß und dachte: „Bin ich hier im Film oder ist das wirklich das Leben?“ – der wird sich eh wie zu Hause fühlen.
Die Charaktere sind sympathisch überzeichnet, die Sprüche sitzen (meistens), und der Humor pendelt irgendwo zwischen Schmunzeln und lautem Prusten beim Lesen in der S-Bahn (sorry an die Mitreisenden). Ja, es gibt eine Liebesgeschichte – aber die hält sich schön im Hintergrund. Viel wichtiger sind eh die ganzen schrägen Manager-Tipps und die Situationskomik.
Fazit: Born to perform ist keine literarische Raketenwissenschaft – aber ein kurzweiliger Trip durch PowerPoint-Hölle, Zahnarztliebe und Lebensoptimierung. Nichts, was ewig im Gedächtnis bleibt, aber definitiv was fürs Wochenende auf der Couch oder als Lese-Snack in der Mittagspause. Wer Stromberg mag, wird Bo lieben. Und wer das Büroleben kennt, wird sich zwischen den Zeilen verdammt oft wiedererkennen.

Bewertung vom 28.06.2025
Nicholas, Anna

Das Teufelshorn


sehr gut

Ein Krimi mit mediterranem Flair, viel Atmosphäre – und einer Ermittlerin, die man sofort ins Herz schließt.
Im kleinen mallorquinischen Ort Sant Martí, wo der Duft von Pinien in der Luft liegt und der Cortado unter der Sonne besonders gut schmeckt, wird der Alltag jäh durch eine düstere Nachricht erschüttert: Ein kleines Mädchen ist am Strand verschwunden. Die Polizei ist ratlos – und ruft Isabel Flores zu Hilfe, eine ehemalige Kommissarin mit messerscharfem Verstand und feiner Intuition, die sich inzwischen eigentlich lieber um Ferienimmobilien kümmert als um Verbrechen.
Doch Isabel lässt sich nicht lange bitten. Sie beginnt zu ermitteln – zunächst vorsichtig, dann immer tiefer in das dörfliche Netz aus Beziehungen, kleinen Lügen und gut gehüteten Geheimnissen eintauchend. Bald erschüttert ein weiterer Fall die Gemeinde: Ein älterer Mann wird brutal ermordet. Gibt es eine Verbindung?
Was den Roman besonders macht:
Das Teufelshorn punktet nicht mit atemloser Action oder übertriebener Brutalität, sondern mit Atmosphäre, Lokalkolorit und Charaktertiefe. Anna Nicholas gelingt es, Mallorca abseits der Touristenzentren zu schildern – als Ort voller Schönheit, aber auch voller Widersprüche. Die Protagonistin Isabel ist angenehm unaufgeregt, klug und reflektiert – eine Heldin, der man gerne durch schattige Gassen und über heiße Pflastersteine folgt.
Statt platter Polizeiklischees begegnet uns hier eine Frau mit Geschichte, einem Frettchen als Haustier und einem feinen Gespür für Menschen. Der Humor blitzt immer wieder durch, ohne die Spannung zu mindern. Auch Nebenfiguren wie Polizist Tolo oder Assistent Pep sind lebendig und charmant gezeichnet.
Die Handlung entwickelt sich in zwei spannenden Strängen – Entführung und Mord – und bleibt dabei immer nachvollziehbar. Zwar sind manche Wendungen vorhersehbar und nicht jede Figur bis ins Detail ausgearbeitet, doch das schmälert das Lesevergnügen kaum.
Fazit:
Ein gelungener Reihenauftakt mit Herz, Hirn und herrlichem Mittelmeerflair. Wer kluge Krimis mit ruhiger Erzählweise, sympathischer Ermittlerin und mediterraner Kulisse liebt, liegt mit Das Teufelshorn genau richtig. Hoffentlich bleibt es nicht bei diesem einen Fall für Isabel Flores!

Bewertung vom 15.06.2025
Rubin, Gareth

Holmes & Moriarty (eBook, ePUB)


sehr gut

Was wäre, wenn Sherlock Holmes und sein Erzfeind Professor Moriarty gezwungen wären, gemeinsame Sache zu machen? Gareth Rubin geht dieser elektrisierenden Frage in seinem neuen Kriminalroman Holmes & Moriarty auf fesselnde und überraschend klassische Weise nach – und liefert dabei ein packendes Abenteuer im viktorianischen London voller Wendungen, Tempo und Doyleschem Flair.
Im Jahr 1889 wird Holmes von einem jungen Schauspieler engagiert, der ein beunruhigendes Publikumserlebnis schildert: Jeden Abend dieselben Zuschauer – immer in anderer Verkleidung. Was zunächst wie ein exzentrischer Theater-Krimi beginnt, entwickelt sich rasch zu einer größeren, gefährlicheren Verschwörung.
Parallel dazu geraten Professor Moriarty und sein Gefährte Sebastian Moran selbst unter Verdacht – und müssen sich verstecken. Bald kreuzen sich die Wege der ewigen Gegenspieler, und es wird klar: Nur gemeinsam könnten sie verhindern, dass eine dunkle Macht London – vielleicht sogar die Welt – ins Chaos stürzt.
Rubin spielt meisterhaft mit den bekannten Figuren des Holmes-Kosmos. Er bleibt nah am Originalton Arthur Conan Doyles, ergänzt diesen aber mit einer eigenen, modernen Raffinesse. Der Krimi balanciert zwischen klassischem Whodunit, düsterer Bedrohung und einem reizvollen Spiel mit Rollen und Loyalitäten.
Fazit:
Ein clever konstruierter Krimi mit kultigem Setting, origineller Prämisse und hohem Unterhaltungswert. Fans von Holmes, Doyles Stil und feinem britischem Humor kommen hier voll auf ihre Kosten – und erleben das wohl ungewöhnlichste Ermittler-Duo der Baker Street.
4,5 von 5 Sternen.

Bewertung vom 15.06.2025
Bernard, Carine

Lavendel-Wut / Lavendel-Morde Bd.7


sehr gut

Nach einer langen Pause habe ich mich mit dem siebten Band Lavendelwut zurück in die Welt von Lilou Braque gewagt – und war sofort wieder mitten drin im südfranzösischen Flair! Obwohl ich nur den ersten Band Lavendel-Tod kannte, fiel der Wiedereinstieg wunderbar leicht. Carine Bernard schafft es auch diesmal, ihren Wohlfühl-Krimi mit viel Lokalkolorit und sympathischen Figuren lebendig zu gestalten. Die Beschreibung vom Markt in Carpentras und dem Mont Ventoux, da merkte ich, dass die Autorin diese Gegend liebt und es trefflich, aber auch kurz beschrieben bekommt.
Der Fall – ein toter Radfahrer am Mont Ventoux mit mysteriöser Vergangenheit – ist spannend genug, ohne zu überfordern. Genau die richtige Dosis Krimi für entspannte Sommertage. Natürlich stehen nicht nur Ermittlungen im Fokus, sondern auch Lilous Privatleben und der besondere Charme der Provence: Lavendelfelder, Radfahr-Mythen und französisches Lebensgefühl inklusive.
Vor allem hat mir gut gefallen, dass Lilou innere Ambivalenzen hat, die wir auch gezeigt bekommen. Sehr menschlich und authentisch.
Die Balance zwischen Leichtigkeit und Krimi funktioniert erneut sehr gut. Wer auf düstere Thriller hofft, ist hier falsch – wer eine charmante Ermittlerin, stimmungsvolle Schauplätze und ein gutes Maß an Spannung sucht, wird sich bestens unterhalten fühlen.
Lavendelwut ist ein Krimi, der sympathisch, atmosphärisch und mit Herzblut erzählt wird. Ideal für Frankreich-Liebhaber:innen und Fans von Cosy Crime. Merci, Carine Bernard, für diesen kleinen Urlaub zwischen den Seiten!

Bewertung vom 15.06.2025
Noort, Tamar

Der Schlaf der Anderen


ausgezeichnet

Nach dem gefeierten Debüt Die Ewigkeit ist ein guter Ort, mit dem Tamar Noort Publikum und Kritik gleichermaßen für sich gewann, legt die Hamburger Literaturpreisträgerin (2019) nun mit Der Schlaf der Anderen ihren zweiten Roman vor – und beweist erneut, dass sie eine besondere Stimme in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist. Wo ihr Erstling mit leiser Melancholie von Lebensentwürfen und Sehnsüchten erzählte, taucht sie nun noch tiefer in das Zwielicht der Zwischenräume ein – zwischen Wachsein und Schlaf, Funktionieren und Scheitern, Nähe und Fremdheit.
Im Mittelpunkt stehen zwei Frauen: Janis, die nachts als Aufsicht im Schlaflabor arbeitet, und Sina, eine Lehrerin, die durch Schlaflosigkeit und Lebensüberdruss an ihre Grenzen gerät. In einer schlaflosen Nacht kreuzen sich ihre Wege. Was zunächst wie ein flüchtiges Zusammentreffen erscheint, wird zum Auslöser eines feinen, fast schwebenden Romans über Selbstverlust, Freundschaft und die stille Rebellion gegen ein Leben im Takt der anderen.
Janis und Sina sind wie Gegenpole eines Lebenskompasses. Die eine hat sich dem Rhythmus der Nacht verschrieben, lebt zurückgezogen und scheinbar souverän im Stillstand. Die andere taumelt durch einen geregelten Alltag, der sie systematisch zermürbt: Ehemann, Kinder, Schule – die Rollen, die Sina innehat, füllen sie längst nicht mehr aus, sie engen sie ein. Tamar Noort gelingt es mit großer Empathie, beide Perspektiven greifbar zu machen. Dabei bedient sie sich eines klugen stilistischen Kniffs: Während Janis in der Ich-Perspektive spricht, wird Sinas Geschichte aus der dritten Person erzählt – ein literarischer Spiegel ihrer jeweiligen Selbstwahrnehmung.
Die Beziehung der beiden Frauen ist von Anfang an fragil, beinahe flüchtig, und doch hinterlässt sie Spuren. Ihre zarte Freundschaft ist kein Paukenschlag, sondern ein leiser Akkord, der lange nachhallt. Tamar Noort braucht keine großen Gesten – sie schreibt eindringlich, atmosphärisch dicht und mit dem feinen Sensorium für das Unausgesprochene. Es ist diese stille Kraft, die schon Die Ewigkeit ist ein guter Ort auszeichnete – und die auch Der Schlaf der Anderen durchzieht.
Die Erzählung kratzt nie nur an der Oberfläche. Tamar Noort schafft es, existenzielle Themen wie Burnout, weibliche Unsichtbarkeit und emotionale Isolation in einen poetischen Kontext zu setzen, ohne je ins Pathetische abzurutschen. Stattdessen legt sie feine Schichten der Innenwelt frei – mit einem Schreibstil, der klar, sinnlich und stets voller Respekt für ihre Figuren bleibt.
Das Cover – eine nachdenklich dreinblickende Frau mit Teetasse (mit zu großen Händen?) – trifft den Ton des Romans perfekt: Der Schlaf der Anderen ist ein Buch, das innehalten lässt. Es lädt ein, Fragen zu stellen, ohne zwingend Antworten zu geben. Und es erinnert uns daran, dass nicht jede Veränderung laut beginnt – manchmal reicht eine Begegnung in der Nacht, um alles in Bewegung zu setzen.
Tamar Noort hat mit ihrem zweiten Roman ein stilles, kraftvolles Werk geschaffen, das lange nachwirkt. Der Schlaf der Anderen ist keine leichte Lektüre – aber eine, die mit großer Genauigkeit von den Zumutungen des Alltags erzählt und der Kraft der Zwischenmenschlichkeit.

Bewertung vom 15.06.2025
Usami, Rin

Kankos Reise


sehr gut

Ich lese gerne asiatische Literatur – sie öffnet oft Türen in innere Welten, in denen nicht das Gesagte, sondern das Ungesagte am lautesten spricht. Kankos Reise von Rin Usami ist so ein Buch. Schmal im Umfang, aber inhaltlich schwergewichtig. Es erzählt von Kanko, einer 17-Jährigen, die in einem fragilen, dysfunktionalen Familiensystem ihren Platz sucht – und fast daran zerbricht.
Ihre Mutter trinkt, seit einem Schlaganfall ist sie verändert; der Vater ist gewalttätig, die Brüder längst ausgezogen. Kanko bleibt. Weil sie noch zur Schule geht, weil sie nicht anders kann, weil das Leben manchmal einfach nicht die Wahl lässt.
Was mich tief beeindruckt hat, ist der Ton des Buches – leise, beinahe zurückgenommen, und gerade deshalb umso eindringlicher. Die Sprache ist schlicht und präzise, der Schmerz sitzt zwischen den Zeilen. Große Emotionen werden nicht benannt, sondern gespürt. Dialoge gibt es kaum – stattdessen Gedanken, Bilder, Erinnerungsfetzen, die sich langsam zu einem erschütternden Familienporträt zusammensetzen.
Auf einer Reise zur Beerdigung der Großmutter wird das fragile Gleichgewicht innerhalb der Familie auf die Probe gestellt. Es ist keine klassische Entwicklungsgeschichte – nichts wird „gelöst“, niemand wird „gerettet“. Und trotzdem entsteht eine Ahnung von Veränderung, ein zarter Hoffnungsschimmer im Grauschleier.
Mich hat das Buch bewegt. Nicht auf eine laute, dramatische Art – sondern auf die Weise, wie ein Lied, das man fast nicht hört, lange nachklingt. Für alle, die sich für psychologisch feine, stille Literatur interessieren, die Schmerz nicht scheut und Nähe im Schweigen findet, ist dieses Buch eine Entdeckung.
Wunderbar sprachlich aus dem Japanischen ins Deutsche übertragen von Luise Steggewentz.

Bewertung vom 14.06.2025
Peppler, Rebekah

Le Sud


gut

Kochbücher sind einer meiner Leidenschaften und ich liiiiiiebe es sie nach Rezepten zu durchforsten. Dabei dürfen sie gerne ansprechend gestaltet sein und mich komplett einnehmen. Soviel zur Vorrede. Nun zu diesem Kochbuch le SUD von Rebekah Peppler mit Fotografien von Joann Pal.
Hier bin ich in einem starken Zwiespalt, seit einer Woche blättere ich darin herum versinke in den MEGA tollen Fotografien und liebe einfach den nonchalanten Vibe dieses Buches. Einfach traumhaft bei Hitze hier zu blättern und sich in Südfrankreich wieder zu finden. Die Gestaltung, das Flair, die Fotografien, toll in Szene gesetzt. Das hat Joann Pal super gut gemacht.
Nun kommen wir zum Rest. Also gut, dass über dem Titel Rezepte und Geschichten aus Südfrankreich steht. Es ist aus meiner Sicht mehr Coffeetable Book und ein tolles Geschenk für Südfrankreich Liebhaber als ein brauchbares Kochbuch. Warum? Weil ich für „La Piscine“ kein Buch brauche: Glas, Eiswürfel und dann den Wein. Was hier aber auch passiert. Ist eine Erzählung in Speisen und Genuss. Das ist wiederum toll.
Ihr seht ich bin amivalent was dieses Buch angeht. Würde aber sagen: Tolles Geschenk, liest und schaut sich gut an. Aber bitte nicht als praktisches Kochbuch verstehen.

Bewertung vom 14.06.2025
Pásztor, Susann

Von hier aus weiter


sehr gut

Ein Roman, der mich mit seiner leisen Kraft tief berührt hat – weil er sich traut, vom Tod zu erzählen, ohne ins Dramatische abzurutschen, und vom Leben, ohne es zu beschönigen.
Im Zentrum steht Marlene, eine pensionierte Lehrerin, die nach dem Suizid ihres langjährigen Partners Rolf völlig aus der Bahn geworfen wird. Doch statt der erwartbaren Trauer begegnet uns eine Frau, die wütend ist – enttäuscht, zurückgelassen, in ihrer Selbstbestimmung verletzt. Susann Pásztor gelingt es, diese vielschichtige Emotion in eine literarische Form zu bringen, die weder pathetisch noch distanziert wirkt. Die Sprache ist klar, pointiert und mit trockenem Humor durchzogen – oft lakonisch, manchmal scharf, aber nie gefühllos.
Was ich besonders mochte: Die Figuren sind nicht einfach "sympathisch", sondern glaubwürdig. Marlene, Jack, Isa – sie alle tragen ihre Widersprüche mit sich, und genau dadurch wachsen sie einem ans Herz. Jack, der ehemalige Schüler mit den Kochkünsten und den eigenen inneren Baustellen, wird nie zur bloßen Trostfigur. Und auch die Ärztin Isa, still, umsichtig und warmherzig, ist mehr als nur Beiwerk.
Die Handlung wirkt auf den ersten Blick unspektakulär – eine langsame Annäherung an das Leben, unterbrochen von einem Roadtrip Richtung Wien. Doch gerade in dieser entschleunigten Erzählweise liegt die Kraft des Romans: Er nimmt sich Zeit für die Zwischentöne, für Gesten, Blicke, innere Monologe. Dass Susann Pásztor selbst als Sterbebegleiterin arbeitet, spürt man auf jeder Seite: Ihre Beobachtungen sind präzise, ihr Ton ist respektvoll, aber nicht sentimental.
Formal überzeugt der Roman durch die kunstvolle Verbindung von Gegenwart und Rückblenden, durch die feine Symbolik (das leere Haus, das sich wieder füllt) und durch seine dichte Atmosphäre. Einzelne Szenen – wie eine grotesk-komische Toilettenszene auf der Trauerfeier oder ein unerklärliche Rosenstrauß – bewegen sich auf dem schmalen Grat zwischen Skurrilität und Tiefe. Gefällt mir gut. Nicht alles wird aufgelöst, aber genau das lässt Raum für eigene Deutungen.
Für mich war Von hier aus weiter ein Buch, das tröstet, ohne zu belehren. Es zeigt, dass es manchmal keine großen Antworten braucht – sondern nur ein paar unerwartete Begegnungen, gutes Essen und die Erlaubnis, weiterzumachen.
Fazit: Ein kluger, warmherziger Roman über Verlust, Zorn, Freundschaft und zweite Chancen – geschrieben mit Feingefühl, Witz und literarischer Leichtigkeit. Klare Leseempfehlung!