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Frankfurt

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Insgesamt 738 Bewertungen
Bewertung vom 31.03.2025
HEN NA E - Seltsame Bilder
Uketsu

HEN NA E - Seltsame Bilder


sehr gut

Selten so eine Kuriosität in Buchformat in den Händen gehalten. Geschrieben hat es ein Mensch, der sich Uketsu nennt, wer sich dahinter verbirgt, weiß niemand, da diese Person sich nicht zu erkennen gibt. Dann ist dieser Kriminalroman so aufgebaut, dass Bilder eine sehr zentrale Rolle spielen und die sind auch alle abgedruckt zwischen dem Text.
Ich kann schon mal verraten, dass es mir ganz gut gefallen hat, weil es einfach mal was andere ist mit diesen Bildern zu arbeiten beim Lesen. Sonst sehr japanisch zurückhaltend und leise im Ton. Obwohl es auch zu sehr blutigen und horrormäßigen Szenen kommt.
Dieses durchschimmernde Böse zwischen all den vermeintlich normalen Schichten macht den Roman aus.
Auch die Übersetzung aus dem Japanischen von Heike Patzschke ist sehr zu loben. Liest sich flüssig und gut. Toll fand ich, dass neben den Zeichnungen die Schriftzeichen vom Original erhalten geblieben ist und nur daneben die deutsche Übersetzung stand.
Schwer etwas über den Inhalt zu schreiben ohne zu spoilern. Es beginnt mit einer Vorlesung in der eine Psychologin auf die Kraft der Bilder eingeht und wie bei traumatisierten Menschen das Gezeichnete genau angeschaut werden sollte. Dann gibt es einen Cut und 3 verschiedene Kapitel folgen. Zunächst war ich verwundert, ob das alles einen Sinn erbeben wird und – einziger spoiler – ja, es ergibt einen Sinn. Aber lest selbst!
Fazit: Für alle Krimifans, die gerne mal was anderes lesen und sich mit Hilfe der Bilder auf die Färten begibt!

Bewertung vom 26.03.2025
Die Lungenschwimmprobe
Renberg, Tore

Die Lungenschwimmprobe


sehr gut

Tore Renberg legt mit Die Lungenschwimmprobe einen historischen Roman vor, der nicht nur spannend erzählt, sondern auch tief in die Abgründe einer Zeit eintaucht, in der Wissenschaft gegen Aberglauben, Gerechtigkeit gegen Machtmissbrauch und Menschlichkeit gegen Fanatismus kämpft. Die Geschichte um die junge Anna Voigt, die im Leipzig des Jahres 1681 des Kindsmords beschuldigt wird, ist spannend erzählt und entfaltet sich zu einem vielschichtigen Gesellschaftsbild des 17. Jahrhunderts. Wer an historischen Stoffen interessiert ist, hat hier einen Volltreffer!
Was dieses Buch ausmacht, ist seine kluge Mischung aus historischer Genauigkeit und erzählerischer Kraft. Der Norweger Tore Renberg versteht es, authentische Figuren zum Leben zu erwecken – der fortschrittliche Arzt, der mit seiner bahnbrechenden Methode den Grundstein für die moderne Rechtsmedizin legt, der mutige Anwalt, der gegen alle Widerstände kämpft, und der unbarmherzige Ankläger, der mehr einem Inquisitor als einem Richter gleicht. Doch auch die Nebenfiguren haben Gewicht und machen die Erzählung noch glaubhafter. Besonders gelungen ist die Art, wie er die barocke Welt mit all ihren Widersprüchen und Grausamkeiten einfängt – vom Rechtssystem, das Frauen wie Anna schutzlos zurücklässt, bis hin zur Allgegenwärtigkeit der Kirche, die nicht nur Trost, sondern auch unbarmherzige Kontrolle ausübt.
Das Buch liest sich trotz seiner über 700 Seiten flüssig, denn Tore Renbergs Sprache ist direkt, klar und gleichzeitig voller Atmosphäre. Er vermeidet blumige Übertreibungen und setzt stattdessen auf eine Bildkraft, die das Geschehen fast greifbar macht. Man riecht förmlich den modrigen Kerker, spürt die Kälte der Folterkammer und das beklemmende Gefühl der Ohnmacht, das Anna und viele andere Frauen ihrer Zeit durchleben mussten.
Außerdem ist der Roman sehr gut übersetzt von Karoline Hippe und Ina Kronenberger, wie ich finde, auch wenn ich es mangels Norwegischkenntnissen nur aus Laienperspektive beurteilen kann.
Besonders gelungen ist die Verknüpfung von historischem Geschehen mit emotionaler Tiefe. Hier wird nicht nur ein Prozess erzählt, sondern das Schicksal eines Mädchens, das sich in einer Welt behaupten muss, die ihre Stimme nicht hören will. Und damit wird das Buch auch über seine Zeit hinaus relevant – es zeigt, wie schwer es ist, gegen festgefahrene Strukturen anzukämpfen und wie kostbar jedes bisschen Fortschritt ist.
Sehr gern gelesen.

Bewertung vom 24.03.2025
Hier draußen
Behm, Martina

Hier draußen


sehr gut

Landleben, Idylle, Naturverbundenheit – so romantisch sich diese Begriffe auch anhören mögen, in Martina Behms Roman "Hier draußen" zeigt sich schnell: Das Dorfleben hat seine eigenen Tücken. Fehrdorf, ein kleines holsteinisches Dorf, wird für die Großstädter Ingo und Lara Fenske zur Herausforderung. Die Menschen dort wissen, wo sie hingehören – nur die Neuzugezogenen straucheln. Und als Ingo auf dem Heimweg einen weißen Hirsch anfährt, geraten Aberglauben, Traditionen und die gut gehüteten Geheimnisse der Dorfbewohner ins Wanken.
Martina Behm bringt mit feinem Humor und einem messerscharfen Blick für Details das Spannungsfeld zwischen Stadt und Land auf den Punkt. Ihre Figuren sind keine Klischees, sondern vielschichtig und lebendig. Besonders beeindruckend ist, wie sie verschiedene Perspektiven einnimmt: Mal erleben wir eine Szene durch die Augen eines Jungbauern, für den eine Rinderflucht vor allem peinlich ist, mal aus Sicht der wortkargen Landbewohner oder der überforderten Neuankömmlinge. Diese erzählerische Dynamik hält das Buch spannend und sorgt für eine außergewöhnliche Lebendigkeit.
Ein besonderes Highlight ist die atmosphärische Dichte: Staubige Landstraßen, schwere Landmaschinen, der weiße Passat der Fenskes – die Bilder, die die Autorin zeichnet, lassen mich mitten ins Geschehen eintauchen. Dazu kommt ihre schnörkellose, pointierte Sprache, die das Buch zu einer echten Leseperle macht. Besonders gelungen ist auch, wie sie die ungeschönte Realität des Landlebens zeigt: das harte Dasein der Landfrauen, die Herausforderungen der Landwirtschaft und die Frage, was "Bio" wirklich bedeutet.
"Hier draußen" ist ein Roman, der viel mehr ist als nur eine Stadt-gegen-Land-Geschichte. Er ist scharf beobachtet, klug erzählt und wunderbar unaufgeregt in seinem Humor. Wer literarische Unterhaltung ohne Kitsch und Klischees sucht, wird an diesem Buch große Freude haben. Und nach dem letzten Satz bleibt nur eine Frage: Wann kommt mehr von Martina Behm?

Bewertung vom 22.03.2025
Portrait meiner Mutter mit Geistern
Edel, Rabea

Portrait meiner Mutter mit Geistern


weniger gut

Ein Buch, dem man sich mit Konzentration widmen sollte

Rabea Edels Roman "Portrait meiner Mutter mit Geistern" entfaltet eine vielschichtige Familiengeschichte, die sich über mehrere Generationen erstreckt. Im Mittelpunkt steht die Beziehung zwischen Raisa und ihrer Mutter Martha, die von unausgesprochenen Wahrheiten und generationsübergreifenden Traumata geprägt ist. Die Autorin verknüpft persönliche Schicksale mit historischen Bezügen und schafft eine poetische Reflexion über Erinnerung, Verlust und das Erbe der Vergangenheit.
Allerdings verliert sich der Roman zunehmend in einer komplexen, fast labyrinthischen Erzählstruktur. Zeitsprünge, Perspektivwechsel und lose Enden erschweren die Orientierung und lassen manche Handlungsstränge unvollendet erscheinen. Während kunstvolle Konstruktionen durchaus ihren Reiz haben, fehlte mir an manchen Stellen die innere Stringenz – zu oft hatte ich das Gefühl, dass einzelne Fäden ins Leere laufen oder nicht konsequent weiterentwickelt wurden. Diese narrative Unübersichtlichkeit schuf leider auch eine emotionale Distanz zu den Figuren, wodurch es mir schwerfiel, vollständig in ihre Schicksale einzutauchen.
Leider half dann auch die Ahnentafel nicht, da es dort Brüche zum Text gibt und die Jahreszahlen teilweise nicht stimmen können.
"Portrait meiner Mutter mit Geistern" ist zweifellos Ein Roman mit viel literarischem Feingefühl und starken Momenten. Doch wer sich eine stringent erzählte Geschichte mit klaren Linien wünscht, könnte sich in den kunstvollen Verästelungen verlieren. Trotz meiner Schwierigkeiten mit dem Aufbau des Romans erkenne ich das handwerkliche Können und die poetische Kraft der Autorin an. Insgesamt vergebe ich 2 von 5 Sternen und empfehle das Buch Leser:innen, die Freude an experimenteller, verschachtelter Erzählweise haben.
Vielleicht ist es einfach nicht meines oder mir fehlte momentan die Konzentration auf diesen Text.

Bewertung vom 18.03.2025
Die Fletchers von Long Island
Brodesser-Akner, Taffy

Die Fletchers von Long Island


sehr gut

Ein Roman, der es in sich hat. Wer leicht besaitet ist, lieber liegen lassen. Hier wird im wahrsten Sinne des Wortes keiner mit Samthandschuhen angefasst.
“Unsere Großmütter hatten uns oft gesagt, egal, wie glühend wir andere beneideten, würden wir alle das Bündel unserer Sorgen auf einen Haufen werfen, und jeder dürfte sich ein beliebiges Bündel aussuchen, dann würden wir am Ende doch zu unserem eigenen Sorgenbündel greifen, garantiert. Wir waren uns nie sicher, ob unsere Großmütter recht hatten” (S. 22)
Wir lernen eine reiche Familie kennen, die in einem wohlsituierten Ort auf Long Island leben. Reich, überheblich, jüdisch und alle mit Dachschaden. Und diesen Dachschäden geht das Buch nach. Der Auslöser allen Übels ist eine Entführung des Vaters, Carl, im Jahr 1980. Prägt alle, keiner spricht drüber.
Ein Sprung in die Gegenwart. Nach und nach lernen wir alle drei Kinder kennen und was sie umtreibt, wie sie ticken und was ihre dunkelsten Geheimnisse sind. Da ist der große Bruder Nathan, sehr ängstlich, immer auf der Hut, dass etwas passieren könnte. Arbeitet in einer großen Kanzlei in Manhattan, aber ist eigentlich menschenscheu. Dann der aufmüpfige mittlere Bruder, der nur Beamer genannt wird. Sunnyboy, Drehbuchschreiber in Hollywood, mittlerweile weit weg von seiner Mischpocke und versucht sich selbst auf irritierende Weise zu kontrollieren…lest selbst. Und dann die jüngste im Bunde, die schlaue Jenny. Sie geht an die Uni, kommt aus dem Studieren nicht raus, weil sie nicht so recht weiß wohin mit sich und wird am Ende noch Gewerkschaftsvertreterin. Beziehungsunfähig und trotz hohem IQ nicht in der Lage ihre eigenen Traumata zu bearbeiten.
Alles beginnt mit Müttern und endet mit ihnen und so hat der „wrap up“ am Ende einen fulminanten Schlusspunkt. Filmreif und gelungen.
“Sie alle setzten den Umwelt-zerstörenden, Klima-verändernden, die-Wirtschaft-in-den-Abgrund-treibenden, Seelen-vernichtenden amerikanischen Lebensstil fort, zu dem sie von Anfang an erzogen worden waren.” (S. 407)
Insgesamt findet die Autorin Taffy Broadesser Akner eine leichte Sprache für ihre Kritik an der unbedarften Art der Reichen wie sie sich selbst ins Verderben treiben lassen und sich auch noch der Opferrolle bedienen. Sozial sehr kritisch und doch unheimlich unterhaltsam und witzig. Ich habe sehr oft laut gelacht bei diesem Roman.
Spannend fand ich auch die interessanten alltäglichen Elemente, die durch das Jüdische hinzukommen, wenn dort eine Bar Mizwa vorbereitet wird.
Nicht zu vergessen die sehr gute Übersetzungleistung von Sophie Zeitz!
In dem Sinne: „Aber was willst du machen? So sind die Reichen.” (S 44 und noch mal weiter hinten…)

Bewertung vom 16.03.2025
Der ewige Tanz
Schroeder, Steffen

Der ewige Tanz


sehr gut

Steffen Schroeder gelingt mit Der ewige Tanz eine fesselnde literarische Annäherung an Anita Berber, eine der schillerndsten und zugleich tragischsten Figuren der Weimarer Republik. In einer Mischung aus biografischem Roman und fiktionaler Reflexion führt uns Schroeder in das fieberhafte Berlin der 1920er Jahre, eine Epoche zwischen rauschhafter Freiheit und sich abzeichnendem Verfall.
Der Roman setzt im Jahr 1928 an: Anita Berber liegt schwer krank in einem Berliner Krankenhaus und erinnert sich an ihr kurzes, intensives Leben. Wie in einem Fiebertraum verschwimmen Gegenwart und Vergangenheit, real Erlebtes und Halluzinationen. Schroeder nutzt diesen kunstvollen Perspektivwechsel, um das Leben Berbers nicht nur linear zu erzählen, sondern es vielmehr als einen Tanz aus Erinnerungen, Träumen und schmerzhaften Reflexionen darzustellen.
Berbers Leben war ein permanentes Spiel mit Extremen. Ihre Kunst, vor allem der Ausdruckstanz, war provokant, kühn und voller Hingabe. Doch ihre Karriere war ebenso von Skandalen wie von Sucht und Absturz geprägt. Der Roman zeigt sie als ungezähmte Frau, die sich mit Haut und Haaren der Kunst hingibt, aber auch als verletzliches Individuum, das stets auf der Suche nach Liebe und Anerkennung ist.
Schroeder erweist sich als Meister der atmosphärischen Verdichtung. Seine Sprache ist bildhaft und sinnlich, gleichzeitig von einer melancholischen Nüchternheit durchzogen. Durch kunstvolle Metaphern und rhythmische Satzstrukturen spiegelt er Berbers inneres Chaos und ihre unaufhaltsame Rastlosigkeit wider. Besonders eindrucksvoll sind die Passagen, in denen die Protagonistin im Delirium in ihre Vergangenheit eintaucht – eine Mischung aus Erinnerungsfragmenten, Dialogen mit Geistern der Vergangenheit und introspektiven Monologen.
Darüber hinaus gelingt es Schroeder, das Lebensgefühl der Weimarer Republik lebendig werden zu lassen. Ich hab mich in die dekadenten Salons der Künstlerszene entführt gefühlt, man erlebt Berbers Auftritte, ihre Begegnungen mit Berühmtheiten wie Fritz Lang und Marlene Dietrich. Dabei zeigt der Roman auch die gesellschaftlichen Brüche der Zeit: die Sehnsucht nach Freiheit und Vergessen nach dem Ersten Weltkrieg, die Emanzipation der Frauen, aber auch die Schattenseiten der Exzesse. Eine turbulente Zeit.
Anita Berber wird in Schroeders Darstellung nicht allein als Skandalfigur gezeichnet, sondern als vielschichtige Persönlichkeit, die zwischen Selbstzerstörung und künstlerischer Hingabe schwankt. Ihre Beziehungen zu Männern und Frauen sind von Leidenschaft, aber auch von Enttäuschung geprägt. Besonders bewegend ist die Beziehung zu ihrer Großmutter, die ihr Halt gibt, während ihr Vater, der Geiger Felix Berber, eine abwesende Schattenfigur bleibt.
Schroeder vermeidet es, seine Protagonistin zu verklären. Anita Berber bleibt in vieler Hinsicht ungreifbar, manchmal gar unsympathisch. Doch gerade diese Distanz macht die Lektüre so eindrucksvoll: Man folgt einer Figur, die sich selbst nicht retten kann, die gegen Konventionen kämpft, aber an den gesellschaftlichen und persönlichen Abgründen zerschellt. Fast zum Haare raufen.

Bewertung vom 16.03.2025
Wiedersehen in Fonds-des-Nègres
Vieux-Chauvet, Marie

Wiedersehen in Fonds-des-Nègres


ausgezeichnet

Was für eine Entdeckung! "Wiedersehen in Fonds-des-Nègres" ist ein literarischer Schatz, den wir Marie Vieux-Chauvet verdanken, einer der großartigsten Stimmen Haitis. Wer ihre Werke kennt, weiß, dass sie mit beeindruckender Scharfsicht gesellschaftliche Missstände aufzeigt, psychologische Tiefe mit poetischer Kraft verbindet und unerschrocken die Konflikte zwischen Klassen, Kulturen und Geschlechtern beleuchtet. Doch dieser frühere Roman, lange Zeit kaum beachtet, bietet uns nun eine weitere Facette ihres Schaffens – und er ist schlichtweg faszinierend! Dank des Manesse Verlages erscheinen all ihre Werke neu ins Deutsche übersetzt peu a peu auch bei uns. Toll aus dem Französischen übersetzt von Nathalie Lemmens.
Marie-Ange kehrt in das Dorf ihrer Vorfahren zurück, ein Ort voller Armut, mystischer Rituale und tief verwurzelter Traditionen. Ihre anfangs arrogante, von europäischer Bildung geprägte Sicht prallt auf die Realität des haitianischen Landlebens. Und hier entfaltet sich das Drama: ein Ringen zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Unterwerfung und Emanzipation. Die Darstellung der Voodoo-Kultur, die hier nicht romantisiert, sondern in all ihren Ambivalenzen gezeigt wird, gibt dem Roman eine geradezu fesselnde Tiefe. Wie die Autorin das Ineinandergreifen von sozialer Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung und patriarchalen Strukturen aufzeigt, ist grandios.
Der Roman ist lebendig, bildstark und mit einer Energie geschrieben, die einen nicht loslässt. Die Figuren sind so nuanciert, so voller innerer Konflikte, dass man unweigerlich mit ihnen fühlt.
Was bleibt, ist Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, dass dieses Buch endlich aus dem Schatten tritt. Dankbarkeit für eine Erzählerin, die uns auf so intensive Weise eine Welt nahebringt, die oft genug aus unserem Blickfeld verschwindet. Wer sich auf dieses Werk einlässt, wird nicht nur eine große Geschichte erleben, sondern auch seine eigene Sichtweise hinterfragen. Ein Muss für alle, die Marie Vieux-Chauvet auch schon gelesen haben und für allen anderen ohnehin: Sie gilt es zu entdecken!

Bewertung vom 11.03.2025
Die Allee
Anders, Florentine

Die Allee


sehr gut

Florentine Anders' Roman "Die Allee" ist eine faszinierende Familien- und Zeitgeschichte, die eng mit der Architektur der DDR verknüpft ist. Im Mittelpunkt steht der visionäre Architekt Hermann Henselmann, dessen Name untrennbar mit ikonischen Bauwerken wie der Stalinallee, dem Berliner Fernsehturm und dem Uni-Hochhaus Leipzig verbunden ist.
Gut an dem Roman ist, dass ich diesen Architekten nun mit diesen Gebäuden verbinde und die Historie besser kenne, auch wenn es fiktionalisiert wurde.
Der Preis für seinen Erfolg ist hoch: Ständig muss er zwischen seinen künstlerischen Idealen und den starren Vorgaben der sozialistischen Führung lavieren. Gleichzeitig kämpft seine Frau Isi, selbst talentierte Architektin, mit den Herausforderungen einer achtköpfigen Familie und einem Ehemann, der sich kompromisslos seinen beruflichen Ambitionen verschreibt. Ihre Tochter Isa schließlich geht ihren eigenen, von Widerstand und Emanzipation geprägten Weg.
Was "Die Allee" besonders lesenswert macht, ist die eindrückliche Schilderung der Aufbruchsstimmung in der DDR – einer Zeit voller Hoffnungen, ideologischer Kämpfe und architektonischer Visionen. Florentine Anders gelingt es sehr gut, die komplexe Atmosphäre dieser Epoche einzufangen und die Ambivalenz zwischen Idealismus und politischer Realität darzustellen. Die fundierte Recherche macht das Buch zu einer wahren Zeitreise, in der man nicht nur spannende Einblicke in die Baugeschichte erhält, sondern auch das gesellschaftliche Leben der DDR aus einer privilegierten, aber keineswegs sorgenfreien Perspektive erlebt.
Die wechselnden Erzählperspektiven von Hermann, Isi und Isa sorgen für eine vielschichtige Darstellung der Familie Henselmann. Besonders berührend ist der Kampf der beiden Frauen um Selbstbestimmung – ein Thema, das über die spezifische DDR-Konstellation hinaus universelle Gültigkeit besitzt.
Der Schreibstil ist ruhig, sachlich und dennoch mitreißend. Die kurzen Kapitel lassen die Lektüre angenehm fließen, und man fühlt sich schnell mitten im Geschehen.
Ein kleiner Wermutstropfen ist, dass manche Aspekte der DDR-Realität, etwa die massiven Wohnungsengpässe für die nicht privilegierte Bevölkerung, nur am Rande gestreift werden. Dennoch überzeugt "Die Allee" als spannender Roman.
Fazit: Ein eindrucksvolles Buch über eine Familie im Spannungsfeld von Architektur, Politik und persönlicher Freiheit. 4 von 5 Sternen!

Bewertung vom 02.03.2025
30 Pflanzen pro Woche
Seiser, Katharina

30 Pflanzen pro Woche


ausgezeichnet

Wer Stress hat mit den eigenen inneren Werten, also dem eigenen Darm, dem kann ich getrost dieses charmante Kochbuch empfehlen aus dem Hause Brandstätter: 30 Pflanzen pro Woche! Es ist eine feine Sammlung an Rezepten, die uns anstiften zur Abwechslung wie es zum Auftakt so schön lautet. Bund ist gesund und wer viele verschiedene pflanzliche Lebensmittel frisch in seine Ernährung einbaut, lebt versöhnlicher mit seinem Darm und merkt es auch am Wohlbefinden.
Es sind war allesamt Rezepte, die sich bereits in anderen Brandstätter Kochbüchern finden lassen, aber eben zusammengestellt um eine besonders große Vielfalt für pflanzliche Kost zusammen zu bringen.
Wie ist das Kochbuch aufgebaut? Es entält eine Sektion KALT und eine Sektion WARM sowie SÜSS.
Damit ist schon mal klar, dass es viele tolle Salatrezepte gibt, die wirklich sehr abwechslungsreich sind, sowie auch warme Speiseideen. Die Sektion Süß ist schmaler, aber ja auch das im idealen Anteil zu herzhafter Kost wie es unsere Körper mögen.
Wir waren durch die kalte Wetterlage erst einmal mehr den warmen Speisen zugetan und probierten das ein und andere aus. Die Kids lieben die Rote-Linsen-Bällchen, ich das Tofu Keema und wie sollte es anders sein: Mein Mann mochte das Bananenbrot mit Nüssen!
Abwechslungsreich, schlichte schöne Bilder, gut erklärte übersichtliche Rezepte mit einem Zutatenbanner am äußeren Rand. Gelungen.

Bewertung vom 27.02.2025
bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann
Lovrenski, Oliver

bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann


ausgezeichnet

Was für ein Roman. Hammer. Oliver Lovrenski hat mit "Bruder, wenn wir nicht Family sind, wer dann" einen Roman geschrieben, der sprachlich und inhaltlich herausfordert, weil er so was von außerhalb jeglicher literarischer Normen liegt. Das Buch erzählt die Geschichte von Ivor und seinen Freunden – vier jungen Männern, die in Oslo aufwachsen, aber kaum Chancen auf ein besseres Leben haben. Ihre Realität ist geprägt von Gewalt, Drogen und einer Sehnsucht nach Zugehörigkeit, die sie nur in ihrer brüchigen Freundschaft zu finden scheinen. Sehr hart, kaum ertragbar.
Oliver Lovrenski selbst stammt aus sozial schwachen Verhältnissen, daher nimmt man dem Autoren ab was er schreibt, er kennt dieses – ja sein Millieu.Die Sprache seines Romans ist roh, direkt und durchzogen von einem Slang, der für viele Leser:innen gewöhnungsbedürftig sein dürfte. Hier liegt ein faszinierender Widerspruch: Während literarische Werke oft eine gewisse sprachliche Ästhetik anstreben, verzichtet Oliver Lovrenski bewusst darauf. Stattdessen wirkt seine Sprache wie ein ungefilterter Strom an Gedanken, manchmal stakkatoartig, manchmal unfertig, aber immer authentisch. Daher eben auch leicht anstrengend. Dieser Stil ist keine spielerische Provokation, sondern spiegelt die Lebenswelt seiner Protagonisten wider – eine Welt, in der Regeln, auch sprachliche, nicht mehr viel zählen.
Wer sich auf dieses Buch einlässt, muss bereit sein, sich von vertrauten literarischen Strukturen zu lösen. Es gibt keinen sanften Einstieg, keine geschliffenen Metaphern, sondern nur die harte Realität, serviert in einer Art Telegrammstil, der zwischen Poesie und Chaos schwankt. Manche Sätze bohren sich tief ins Herz, andere sind wie eine Ohrfeige. Es ist ein Roman, der nachhallt, aber nicht unbedingt bequem ist.
Besonders beeindruckend ist, wie Oliver Lovrenski die Sehnsucht seiner Figuren nach einem besseren Leben einfängt. Trotz all der Trostlosigkeit gibt es Momente, in denen sie sich vorstellen, jemand anderes zu sein – ein Künstler, ein Unternehmer, ein Star. Doch diese Träume zerplatzen schnell an der Wirklichkeit. Traurig.
"Bruder, wenn wir nicht Family sind, wer dann" ist ein mutiges Buch. Es fordert seine Leser:innen heraus, es verlangt, dass man sich auf eine ungewohnte Erzählweise einlässt.