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Jidewi

Bewertungen

Insgesamt 38 Bewertungen
Bewertung vom 28.06.2023
Mutterhirn. Was mit uns passiert, wenn wir Eltern werden
Conaboy, Chelsea

Mutterhirn. Was mit uns passiert, wenn wir Eltern werden


sehr gut

Seit ich selbst schwanger bin, eröffnet sich mir diese neue Welt, eine Blase ganz für sich, ein exklusiver Klub bestehend aus allen, die ähnliches durchmachen. Und eine Erkenntnis entwickelt sich recht schnell: Schwangerschaft ist eine einsame Reise und Mutterschaft erst recht. Egal, wie sehr wir versuchen empathisch zu sein, Tipps zu teilen und uns zu unterstützen- jede Reise ist anders, jedes Kind anders und jede Mutter anders. Und die Veränderung beginnt bereits mit der Schwangerschaft. Aus diesem Grund schätze ich das Sachbuch "Mutterhirn" von Chelsea Conaboy, eine wissendschaftliche Betrachtung dieses Themas, das fundiert versucht Vorurteile zu widerlegen und sich dem Thema ganzheitlich zu öffnen.

Ist es wirklich so, dass Frauen eine Veranlagung haben das ganze intutiv zu meistern oder ist das eher ein Mythos? Und was wissen wir eigentlich neurologisch über diese fulminante Reise und Grenzerfahrung? Auf über 400 Seiten schildert Conaboy eindrucksvoll den momentanen Stand der Wissenschaft und eben auch, dass wir unsere vorgefestigten Normen und althergebrachten Weisheiten nochmal neu bewerten sollten. Etwas langatmig, aber definitiv einen Blick wert für all diejenigen, die sich immer schon gefragt haben, was hinter einem Mutterhirn eigentlich steckt.

Bewertung vom 10.04.2023
Die spürst du nicht
Glattauer, Daniel

Die spürst du nicht


ausgezeichnet

Wir wollen alle Gutmenschen sein, den Armen helfen, die Schwachen unterstützen, quasi die neuzeitlichen Ritter auf dem weißen Pferd mit weißer Weste, die sich den Tyranneien der Gegenwart stellen, die selbsterkorenen Robin Hoods, die für Gerechtigkeit sorgen. Aber sind wir das wirklich oder sehen wir uns nur gerne in diesem Licht, sobald wir ein Spendenkonto für Kinder in Afrika eingerichtet haben?

Dieser und weiteren Fragen bezüglich unserer scheinheiligen Doppelmoral geht Daniel Glattauer in seinem neuesten Roman "Die spürst du nicht" wortwörtlich auf den Grund, rüttelt auf, regt zu Gesprächen an und hinterlässt einen Leser, der zwischen all den Worten und Seiten wahrscheinlich wieder das Wesentliche aus dem Blick verloren hat, wie es uns im Alltag immer wieder passiert.

Die Familien Binder und Strobl- Marinek genießen ihre wohlverdiente Auszeit in der Toskana und lassen es sich gut gehen. Auf Wunsch von Tocher Sophie Luise darf auch das Flüchtlingskind aus ihrer Klasse mit dabei sein, Aayana. Es scheint ein wunderschöner Urlaub zu werden, bis eine Katastrophe alles in den Abgrund reißt.

Der Stil ist einnehmend, die Wendungen überraschend, die diversen Meinungen und Reflektionen erfrischend ehrlich. Das Thema ist tiefgründig, wachrüttelnd und ein Spiegel unserer Gesellschaft. Daniel Glattauer scheut sich nicht davor uns unsere Schwächen aufzuzeigen, uns durch diverse Stilmittel direkt ins Rampenlicht zu schieben und Licht auf unsere blinden Flecken zu werfen. Es fängt mit den kleinen alltäglichen Dingen an, dem Schubladendenken und dem Glauben, dass es uns ja nicht betrifft. Dabei sind Vorurteile schon gefällt, Überlegenheit schneller ausgespielt als wir den Kopf schütteln können und zurück bleibt das Bewusstsein, dass wir nicht perfekt sind. Dialog und Austausch sind immer wieder die Lösung des Problems, Zuhören immer noch Gold und Zurückhaltung eine Tugend.

Bewertung vom 08.04.2023
In blaukalter Tiefe
Hauff, Kristina

In blaukalter Tiefe


sehr gut

Das Unausgesprochene wiegt schwer, schwerer als das gesprochene Wort. Es klebt an uns wie ein durchgeschwitztes T-Shirt, unangenehm, kalt, aber nicht zu vermeiden. Ein Schatten, der uns folgt, wir winken ihm zu, wissend, dass wir nicht ewig weichen können, denn irgendwann holt er uns ein und die Konsequenzen sind für uns nicht greifbar.

Das ist es auch, was Caroline empfindet, als ihr Mann Andreas mit ihr, seinem Arbeitskollegen Daniel und dessen Freundin Tanja zu einem Segeltörn in die Schären aufbricht. Der romantische Start der Reise entwickelt sich schnell zu zu einem dunklen Sturm, der alle in Gefahr bringt, denn nicht nur zwischen Caroline und ihrem Mann steht das Unausgesprochene wie eine Barriere.

Kristina Hauffs neuester Roman "In blaukalter Tiefe" spielt wie ihr Debüt mit den Elementen der Natur, eine Hommage an die Gezeiten und mittendrin menschliche Irrungen und Wirrungen. Das beklemmende Gefühl begleitet den Leser, lässt ihn nicht los. Unangenehm und dabei so authentisch schildert sie die Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen und kombiniert diese mit herausragenden Schilderungen der kontrastreichen Naturidylle. Das intensive Leseerlebnis hat mich bereits bei ihrem Debüt begeistert und auch ihr Mut sich diesen Themen zu stellen, die einen Spiegel auf uns und unsere Gesellschaft werfen, nachdenklich stimmen und somit lange nachhallen. Eine Empfehlung für alle, die sich einen Segeltörn zu romantisch vorstellen und kontrastreiche Beziehungen faszinierend finden und gerne zwischen den Zeilen lesen.

Bewertung vom 13.11.2022
Schlangen im Garten
vor Schulte, Stefanie

Schlangen im Garten


ausgezeichnet

Man sagt, sie kommt in Wogen, Wellen, sie verhält sich wie Ebbe und Flut, wie die Gezeiten. Sie kommt und geht, wie es ihr passt. Sie ist wie der reinste April, von strahlendem Sonnenschein wechselt sie von jetzt auf gleich in einen prasselnden Regenschauer und einen grauen, wolkenverhangenen Novembertag. Aber manchmal ist sie einfach nur innere Leere, dunkle Gedanken und verdrängt alles Licht. Manchmal ist sie das allumfassende Nichts, die unsichtbare Konstante im Bunde, die niemand eingeladen hat. So empfindet das auch Familie Mohn nach dem Verlust von Mutter Johanne.

Nach dem tragischen Verlust kämpft jeder in der Familie Mohn mit den Begleiterscheinungen. Es findet jedoch keine richtige Trauerarbeit statt, weshalb sich Ginster vom Traueramt nun dieser Familie annimmt. Schnell merkt auch er, dass er es mit einem besonderen Fall zu tun hat und das es ihm immer schwerer fällt, professionelle Distanz zu wahren.

Ich war bereits ein Fan von Stefanie vor Schultes Debütroman und habe mit Spannung diesem neuen Roman entgegengefiebert. Mag die Geschichte eine komplett andere sein, ist sie wiederum erfrischend anders, skurril und watet mit märchengleichen, teilweise absurden Elementen auf, die die Visualisierung so interessant zeichnen. Herausragend ist wiederum ihre Begabung für Sprache und die Tiefe zwischen den Worten, die eine realistische Geschichte in andere Sphären katapultiert, dabei immer den Kern der Botschaft bewahrt, den ich auch in diesem Fall als besonders lehrreich empfinde. Die Figuren sind bunt, vielseitig und dabei vielschichtig gezeichnet, die Handlung hat ihren eigenen Twist und die Thematik ist mir persönlich sehr nahe. Trauer und Tod sind die ungefragten Begleiter, denen wir von Beginn an unbewusst zugesagt haben. Wir können einen Bogen um sie schlagen und sie meiden, aber es ändert nichts daran, dass ein jeder sie ins Leben lassen muss. Wichtiger als die Fokussierung auf den Tod, Trauer und Tränen ist jedoch alles, was bleibt. Denn so funktioniert das Spiel auf diesem Schachbrett des Lebens und wir ziehen weiter, weil wir uns dem Fluss der Gezeiten nicht entziehen können.

Bewertung vom 06.11.2022
Verbrenn all meine Briefe
Schulman, Alex

Verbrenn all meine Briefe


ausgezeichnet

Ich frage mich das tatsächlich oft: Wer bin ich und warum bin ich, wie ich bin? Ich glaube, dass wir alle danach streben, der Mensch zu werden, der wir eigentlich sein sollen, die Rolle einnehmen werden, die unser Leben uns zu spielt, die Aufgabe erwählen, der nur wir gerecht werden können. Das alles bestimmt jedoch eher das Hier und Jetzt, Reflexion und Feedback, innen und außen, der Wille an uns selbst zu wachsen und immer wieder darüber hinaus. Aber was ist da von Anfang an? Es gibt einen gewissen Anteil, der nicht unbedingt von Geburt an da ist, aber seit wir bewusst denken, empfinden und uns erinnern können. Der Anteil, der maßgeblich geprägt ist von unseren Eltern, die wir auf einen Sockel setzen, deren Verhalten wir bewusst nachahmen, aber auch einem Anteil, der ihr Verhalten spiegelt ohne unser bewusstes Zutun.

Genau das ist Teil der Suche des Protagonisten Alex in Alex Schulmans Roman "Verbrenn all meine Briefe". Getrieben von einer innerlichen Wut, die er sich selbst nicht erklären kann, sieht er sein Leben in eine Dunkelheit driften, die alles gefährdet, was er jetzt in seinem Leben hat. So begibt er sich auf Spurensuche in der Vergangenheit, die sich ihm nie ganz erschlossen hat. Und je tiefer er gräbt, desto mehr geben Fragmente aus verschiedenen Erinnerungen Sinn. Die Geschichte, die sich ihm enthüllt, lässt ihn das Bild seiner Familie hinterfragen und auch, was Wahrheit ist und was Lüge.

Alex Schulmans zweiter Roman hat mich bereits vollkommen um den Finger gewickelt und war ein klares Highlight für mich. "Verbrenn all meine Briefe" ist anders, persönlicher, autobiografischer und erreicht eine neue mehrdimensionale Tiefe. Der Stil ist angenehm, die Sprünge in der Zeit nachvollziehbar, die Figuren kompakt erfasst und die Entwicklung nicht unbedingt überraschend. Was mich jedoch am meisten begeistert hat, war die Rückführung in mein eigenes Leben. Was wissen wir eigentlich über die letzten Generationen, über ihre Eigenschaften und Errungenschaften, Vergehen und Verluste, Liebe und Beziehungen, Krieg und Frieden? Man sagt, dass es nur drei Generationen braucht, um in Vergessenheit zu geraten, was tragisch klingt und doch so nachvollziehbar, denn was wissen wir schon über unsere Urgroßeltern? Zu wenig, um sie wirklich zu kennen und doch gibt es die genetische Verbundenheit, das Erbe ihres Wirkens, das in uns weiterlebt und wir geben es, ohne es genau zu wissen, an unsere Nachfahren weiter. Zwischen Faszination und Zweifel verbleibt mir nur die Momente mit unseren Großeltern zu nutzen, Fragen zu stellen und die Vergangenheit so gut es geht zu konservieren, denn in all dem, was wir Vergangenheit nennen, liegt auch immer ein Teil unserer Zukunft.

Bewertung vom 16.07.2022
Das verschlossene Zimmer
Givney, Rachel

Das verschlossene Zimmer


weniger gut

Ein Zimmer, ein Geheimnis- das ist es, was Marie umtreibt. Die Neugier und der Reiz des Verbotenen hat sie wieder vor die Tür getrieben, die Tür zu dem Zimmer, in dem ihr Vater etwas vor ihr versteckt, verbirgt, denn nur dieser Raum bleibt verschlossen. Marie hat Fragen zu ihrer Mutter und dem, was passiert ist, aber ihr Vater grenzt das Thema aus. Heute jedoch ist der Tag, an dem Marie mehr erfahren wird und sie verschafft sich Zugang.

Das Szenario des Romans umfasst die Zeit zum zweiten Weltkrieg in Krakau. Marie ist die Tochter eines renommierten Arztes und alleine bei ihm aufgewachsen, ohne zu wissen, was mit ihrer Mutter geschehen ist. Der nahende Krieg wirbelt zudem das Leben beider durcheinander, sodass jeder für sich erkennen muss, dass Familienbande gerade in unruhigen Zeiten auf eine harte Probe gestellt werden.

Der Stil ist leicht, die Geschichte recht einnehmend, bis sie sich zu sehr in Nebensächlichkeiten verliert, für meinen Geschmack. Die Schilderung des nahenden Kriegs und die emotionale Beklommenheit wird gut skizziert, jedoch fehlt die Dynamik zwischen den Protagonisten, das Knistern und sie verlaufen wie Pastelle auf der Leinwand in die Unkenntlichkeit. Die Grundthematik empfand ich zunächst als spannend, dann jedoch dreht sich die Handlung und für mich hat vor allem das Ende den Verlauf eher zum Negativen beeinflusst. Für mich nicht überzeugend genug trotz des starken Beginns.

Bewertung vom 01.05.2022
Die Molche (eBook, ePUB)
Widmann, Volker

Die Molche (eBook, ePUB)


gut

Molche- sonderbare Geschöpfe, Amphibien, schwarz wie die Nacht, unsichtbar und doch da. Ich habe mein Leben bisher ohne sie verlebt, ich kann nicht sagen, ob mir dadurch etwas fehlt. Aber ich kann auch nicht das Gegenteil behaupten. So ist es mit den Dingen im Leben, die vielleicht anders sind, vielleicht für das Auge unsichtbar, dass nicht geschult ist eben diese kleinen Dinge zu sehen. Unsere Welt dreht sich oft so schnell, dass wir vergessen, was langsam bedeutet und wie schön die Welt sich auch langsam dreht.

Max und sein Brüder sind eher Eigenbrödler in dem kleinen Dorf in Bayern. Es sind schwere Zeiten nach dem Krieg und die Jungen finden nur schwer Anschluss. Max Bruder ist zudem ein Träumer und so verwundert es nicht, dass er eines Tages in die Enge getrieben wird, der erste Stein fliegt und er noch vor Ort verstirbt. Max traumatisiert dieses Ereignis, sieht er es doch nur geschehen und greift nicht ein. Sein Kummer wird von den Erwachsenen nicht gesehen und der Vorfall als Unfall hingenommen. Zum Glück verstehen ihn seine neuen Freunde und auf einmal erscheint alles so einfach es dieser Bande heimzuzahlen.

Der Stil ist leicht, die Handlung jedoch sprunghaft und wechselt in Perspektiven, bei denen ich mich teilweise verloren habe. Die Geschichte beginnt mit einem Paukenschlag, verliert jedoch für mich an Strahlkraft durch die doch sehr rabiaten Schilderungen der ersten Liebe und sexuelle Annäherung. Die Figuren zunächst gut gezeichnet verlieren sich zudem in diesen Nebenhandlungen, die für mich zu sehr ablenken, als der Vielschichtigkeit des Todes von Max Bruder Raum zu geben. Zugegeben: meine Erwartungshaltung war eine andere, jedoch ist die Handlung durchaus authentisch und beschreibt die Tücken der Nachkriegsgeneration, die mehr auf sich selbst konzentriert war und ihre vergangenen Dämonen, als das hier und jetzt zu erkennen und begangene Fehler nicht zu wiederholen.

Bewertung vom 02.04.2022
Man vergisst nicht, wie man schwimmt
Huber, Christian

Man vergisst nicht, wie man schwimmt


ausgezeichnet

Ein einziger Tag- Anfang und Ende zugleich. Es gibt diesen einen Tag im Sommer, an dem er seinen Höhepunkt findet, flirrende Luft, stockende Hitze, erhitzte Gemüter, der pure Zenith. Ein Tag, der dich glauben lässt, dass alles und nichts möglich ist. Der die bestehende Weltordnung auf links dreht, weil er dir das Gefühl gibt, dass du selbst mit kleinen Flügeln fliegen kannst. Aber auch die Gewissheit, dass das Leben endlich ist, dieser Tag verstreichen wird, egal, wie sehr du ihn in die Länge ziehen magst wie ein Kaugummi. Die Kunst besteht wohl darin, diesen einen Tag im Jahr in sich aufzusaugen, in jeden Winkel, durch jede Pore, inhalieren, einatmen und in sich einschließen, weil seine Endlichkeit in der Unendlichkeit unserer Gedanken immer konserviert bleiben wird.

Ende des Sommers im Jahr 1999 - In Bodenstein sind die Möglichkeiten für den 15 Jährigen Pascal begrenzt, erst recht, weil er nicht schwimmen mag und immer zwei Tshirts übereinandertägt, aber auch, weil Bodenstein einfach langweilig ist. Zum Glück hat er Viktor und mit ihm zusammen wird alles erträglicher. Bis genau an diesem Tag im August Jacky mit den feuerroten Haaren alles durcheinanderwirbelt und diese 24 Stunden ganz groß werden lässt für Pascal.

Der Stil ist angenehm, die knisternde Sommerluft pulsiert zwischen den Zeilen. Die Geschichte ist einnehmend, echt, dabei bewahrt sie ein gewisses Mysterium und gibt Pascal eine Strahlkraft über diesen Sommertag hinaus. Die Figuren um ihn herum sind ganz im 90er Flair gestaltet und der Leser möchte eintauchen in diesen Moment, diesen Status voller jugendlicher Leichtsinnigkeit, der langsam der Ernsthaftigkeit weicht, die den Erwachsenen innewohnt, zwangsläufig und der Zeit geschuldet. Gepaart mit der Playlist ein Muss für jeden, der gerne nostalgisch an die Zeit zurückdenken möchte, in der Hosen noch tief in den Kniekehlen hingen und ein Bum Bum bei jedem Büdchen um die Ecke verfügbar war.

Bewertung vom 27.03.2022
Tell
Schmidt, Joachim B.

Tell


ausgezeichnet

Zugegeben: Ich habe mich immer schwer getan mit den Dramen der bedeutenden Dichter und Denker, obwohl das verharmlost ausgedrückt wäre. Ehrlicherweise haben sie mich abgeschreckt, verscheut und den Deutschunterricht in den Vorhof der Hölle verwandelt - "Pole Poppenspäler" hat mich klaustrophobische Züge entwickeln lassen. "Die Leiden des jungen Werther" dachte ich zu einem späteren Zeitpunkt in meiner schulischen Laufbahn Schicht für Schicht freigelegt zu haben, empfand mich gar als Werther Flüsterer, um dann die Quittung meiner Analyse auf den Tisch geknallt zu bekommen. Knapp befriedigend, heißt so viel wie "knapp verstanden", dabei hatte ich mich gar selbst in seinem Leiden gewunden. Und das waren nur zwei von vielen Beispielen der gescheiterten Annäherung. Danach schwor ich diesem Kapitel gänzlich ab. Bis Joachim B. Schmidt mit "Tell" den Finger in die Wunde legte, Salz und Pfeffer darüber streute und mich damit allein ließ.

Bereits "Kalmann" hat mich um den Finger gewickelt durch seinen unkonventionellen Charme und so erschien es nur folgerichtig, auch "Tell" eine Chance zu geben, entgegen meiner frühzeitlichen Prägung. Und was soll ich sagen? Dieses Drama auf dieses mundgerechte Maß reduziert, actionreich und einnehmend, bringt eine traditionelle Geschichte mit neuer Würze auf den Tisch, durch wechselnde Perspektiven und neuzeitlichen Charme, sodass es in einem Happs verschlungen werden kann. Es hat für mich eine alte Barriere durchbrochen, den innerlichen Staudamm der Unfähigkeit diesen Werken etwas abzugewinnen.

Tell, ein einfacher Bergbauer, der seiner Bestimmung folgt, fasziniert seit Generationen und gilt als eine Sage, ob wahr oder erfunden sei dahingestellt, trotzdem stellt es die Basis der Freiheitsbewegung dar und einen Lichtblick am Ende des Tunnels.

Das Tempo rasant, der Stil leicht und der Sprung der Perspektiven herrlich erfrischend und genau das ist das Geheimnis dieses wilden Ritts durch dieses Drama des 14 Jahrhunderts. Und trotzdem bleibt der lyrische Charme, das Mysterium hinter Tell erhalten, gar unantastbar und trotzdem so wirklich, als würde ich in meinem eigenen Ahnenbuch lesen. Ich will jedoch nicht zu viel verraten, dem Zauber seinen Zauber lassen und jeden Willigen auf diese Reise schicken, gar schubsen, denn es ist es wahrlich wert, von jedem Einzelnen verschlungen zu werden. Und ja, es wäre auch es wert, den Pflichtlektüren in der Schule einen neuzeitlichen Compagnon an die Seite zu stellen. Vielleicht verhindert ja genau das weitere gescheiterte Dichter und Denker Beziehungen wie meine eigene durch pure Prävention statt Abschreckung.

Bewertung vom 17.02.2022
Unser wirkliches Leben
Crimp, Imogen

Unser wirkliches Leben


sehr gut

Ich muss ehrlich sein: Dieser Roman und ich, wir befinden uns in einer andauernden Hassliebe. Wäre dieser Roman eine Freundin, dann hätten wir uns im Verlauf heftig gestritten, um uns dann schluchzend in die Arme zu fallen, ihre Erzählungen hätten mich stellenweise zu Tode gelangweilt, genervt und mich gleichzeitig in den emotionalen Wahnsinn getrieben. Ihre Naivität hätte mich sprachlos gemacht und ihre Beratungsresistenz würde mich auf Abstand halten. Ihre Schilderungen wirken erwachsen, reflektiert, um dann als kindisches Kartenhaus zusammenzufallen und zum Nullpunkt zurückzuwandern. Alles auf Anfang, jedes Gespräch revidiert, jeder Rat über den Haufen geworfen. Und ich muss zugeben: Sie ist eine geborene Blenderin, gut darin, mich immer wieder glauben zu lassen, dass sie zurechtkommt, dass sie das alles im Griff hat. Sie ist so gut, weil ich mich selbst in ihr sehe und das eigene Spiegelbild ist zumeist das unangenehmste.

Der Debütroman "Unser wirkliches Leben" von Imogen Crimp begleitet eine junge Frau von der ersten Begegnung mit einem schicksalhaften Mann hin zur Entwicklung dieser zwischenmenschlichen Beziehung, die ihr Leben aus den Angeln hebt.

Anna ist Mitte zwanzig, Opernsängerin, und träumt von ihrem Durchbruch in London. Bis dahin verdient sie ihren Unterhalt mit Gelegenheitsjobs unter anderem in einer Jazzbar, in der sie auf Max trifft. Anna spürt direkt, dass Max anders ist und lässt sich in seinen Bann ziehen, ohne zu begreifen, dass diese Beziehung weit mehr Einfluss auf ihr Leben hat, als sie zu glauben vermag.

Der Stil springt zwischen plätschernd leicht zu unangenehm schwer zu langatmig, langweilend. Und das polarisiert, stößt ab und fesselt wiederum. Der Roman ist komplett dieser toxischen Beziehung nachempfunden, wirft den Leser aus der Bahn und holt ihn wieder hinein. Schubst ihn von sich, um ihn dann wieder hoffnungsvoll an sich zu binden. Die Handlung ist komplex, die verschiedenen Stufen wunderbar gezeichnet und mittendrin Anna, die alle denkbaren Veränderungen durchläuft, sich windet und kämpft, leidenschaftlich liebt und hasst, ehrgeizig ihre Ziele vorantreibt und sich gleichzeitig zurückwerfen lässt. Das ganze Paket ist nicht leicht, nichts für schwache Nerven und teilweise einfach nur grausam, aber dazu sei gesagt: Das ist die Realität, denn so sieht sie aus, diese Beziehung, die weder Fisch noch Fleisch ist, die sich gegen eine Einordnung in der Schublade mit Händen und Füßen wehrt, dich sogar in die Hand beißt aus Verzweiflung, um dir dann liebevoll ein Pflaster auf die Wunde zu kleben. Es braucht diese brachialen Schilderungen und das ist ein Zeichen für die Schreibkunst, die Imogen Crimp nachweislich beherrscht. Eine Empfehlung für alle, die von polarisierenden Geschichten angezogen werden und sich empathisch mit dem Thema der toxischen Bindung auseinander setzen wollen.