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Benutzername: 
mimango
Wohnort: 
Bochum

Bewertungen

Insgesamt 3 Bewertungen
Bewertung vom 02.05.2020
American Dirt
Cummins, Jeanine

American Dirt


sehr gut

Nur Lydia und ihr 8jähriger Sohn überleben knapp ein Attentat eines Drogenkartells in Acapulco, bei dem ihre gesamte Familie getötet wird und machen sich auf den Weg - von Mexiko nach Norden, in die USA. Sie fliehen zu Fuß, mit dem Bus, springen auf den berüchtigten Zug ‚La Bestia‘, fahren auf dem Waggondach, übernachten in Migrantenunterkünften, machen gute und schlechte Bekanntschaften, vertrauen sich einem Schlepper an und durchqueren die Wüste.
Es ist ein packender Roman, bei dem ich wegen der Ereignisse oft die Luft angehalten habe - aber genauso oft stockte mir der Atem, weil es Millionen von realen Schicksalen gibt, die ähnliche Situationen so erlebt haben und erleben. Kann die tragische und brutale Realität von Millionen Flüchtenden ein toller Roman sein, auf dem man sich am Feierabend freut? Am Ende denke ich, ja, es kann und es muss, damit - mit den Worten der Autorin - die Leser beginnen, die Migranten „als Individuen zu begreifen“.
Leicht getrübt wird mein Eindruck allerdings, weil die Geschichte für mich an manchen Stellen nicht glaubhaft ist: ohne in die Details gehen zu wollen, wirken manche Wendungen auf mich zu plump und einfach, andere hingegen zu aufgesetzt und überzogen. Am Ende ist das Manko dieses Buches die Tatsache, dass die Autorin die Flucht nicht selbst erlebt, sondern ‚nur‘ recherchiert hat. Vielleicht ist das Thema zu sensibel, um ohne eigene Erfahrung darüber zu schreiben. Auf der anderen Seite ist das Thema dermaßen politisch brisant und wichtig, dass es lange an der Zeit war, den Migranten eine Stimme zu geben. Trotz allem: lesen und selbst ein Urteil darüber machen!

Bewertung vom 28.03.2020
Offene See
Myers, Benjamin

Offene See


sehr gut

Den Moment in Bernstein gießen
„Ich will überrascht werden.“ sagt der 16jährige Robert, als er, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, sein nordenglisches Bergarbeiterdorf verlässt und, „in den Künsten Sparsamkeit und Improvisation bewandert“, sich zu Fuß auf den Weg gen Meer macht. Er trifft auf die unkonventionell lebende ältere Frau Dulcie, die Robert auch neue innere Horizonte eröffnet und seine Liebe zur Poesie entzündet.
Mit bildgewaltiger Sprache ohne Pathos, Liebe zum Detail ohne Übertreibung, berührender Erzählung ohne Sentimentalität und Naturbeschreibungen, die den Leser spüren, hören und fühlen lassen, schafft Meyers es in der ersten Hälfte des Buches „den Moment in Bernstein zu gießen“! Das ist großartig und erweckt allerdings auch Erwartungen an die Handlung, die über die Dauer des Romans dann nicht erfüllt werden. Die Beschreibungen der Reparaturarbeiten, die Robert an dem Atelier vornimmt, seine Spaziergänge, Ausflüge die Tee- und Brandystunden mit Dulcie plätschern nach der Hälfte des Buches so dahin und die Entdeckung der Nachricht von Romy, der Autorin der Gedichte, wirkt auf mich etwas gekünstelt.
Nichts desto trotz - die erste Hälfte des Buches ist so grandios, dass sie die Lektüre in jedem Fall wert ist.

Bewertung vom 13.03.2020
Das Haus der Frauen
Colombani, Laëtitia

Das Haus der Frauen


weniger gut

Ein Klient der Rechtsanwältin Soléne stürzt sich nach der Verurteilung in den Tod und dies stürzt Soléne in eine tiefe Krise aus der sie einen Ausweg sucht. Auf Anraten ihres Psychiaters betätigt sie sich gemeinnützig und geht einmal in der Woche in ein Frauenhaus als ‚Öffentlicher Schreiber‘, wo sie den Frauen beim Aufsetzen unterschiedlichster Schreiben hilft. Auf diese Weise erfährt sie von vielen persönlichen Schicksalen, die sie dazu bringen, ihr eigenes Schicksal zu reflektieren. Sie kommt auch der Geschichte dieses Hauses auf die Spur - es ist die Geschichte von Blanche Peyron, die Anfang des 20. Jahrhunderts mit unermüdlichem Engagement diesen Zufluchtsort für Frauen ins Leben rief.

Laut Klappentext ist dieser Roman „ein Plädoyer für mehr Solidarität“ - und das ist er auch. Darüber hinaus geht es diesem Buch, meiner Meinung nach, wie dem Spruch ‚Zu viele Köche verderben den Brei‘. Es sind zu viele verschiedene Schicksale, die jeweils auf wenigen Seiten in komprimierter Form erzählt werden. Die Charaktere werden nicht erarbeitet, sondern in kurzen, dramatischen Nacherzählungen vorgestellt. Die Geschichten werden hochemotional erzählt und nehmen den Leser kurzfristig mit - aber, es ist wie bei den Nachrichten, nach zu vielen schrecklichen Geschichten, kann man sich am Ende kaum an die erste Geschichte erinnern.
Der Geschichte von Blanche Peyron wird in dem Buch zwar mehr Platz eingeräumt, aber leider wirkt auch sie wie eine Dokumentation und beschreibt zwar ihre Unermüdlichkeit, lässt aber keinen wirklichen Einblick in ihre Seele und ihr Gemüt zu. Die Tiefe fehlt - schade.
So bleibt am Ende die Essenz, dass Frauenschicksale damals und heute sich leider immer noch ähneln und dass persönliches Engagement wichtig ist - für andere und auch für sich selbst.