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Kritikus47

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Bewertung vom 30.10.2020
Verleumdet, verfolgt, vertrieben
Grabbe, Hans Jürgen

Verleumdet, verfolgt, vertrieben


gut

Buch eines Neuzeithistorikers, der Teile der Zeitgeschichte ausblendet
Der Autor entwirft auf der Grundlage einer Vielzahl familiengeschichtlicher und amtlicher Quellen ein außerordentlich breites Familienpanorama der Entwicklungs- und Verfolgungsgeschichte des Wittenberger Arztes Dr. Paul Bosse, seiner im KZ Ravensbrück ums Leben gebrachten als jüdisch geltenden Ehefrau Käthe Bosse, geb. Levin, sowie deren vier Kinder und weiterer Familienangehöriger. Ob manches der sehr ins private Detail gehenden Darstellung einen notwendigen Wissenszuwachs über die prominente Familie Bosse oder zeitgeschichtlichen Mehrwert bringt, bleibt dem Betrachter überlassen.. Viele zeitgeschichtlichen Bezüge sind, wie der Autor anfangs selbst benennt, andernorts bereits dargestellt, aber durch ihn noch einmal umfangreich dokumentiert. Manche Frage stellt sich anhand der aufgezeigten Quellen erneut.
Auf dem Rückumschlag seines Buches liest man im Resümee, dass das Familienporträt der Wittenberger Familie Bosse ein exemplarisches Kapitel Zeitgeschichte offenbart, „zumal sich für einige der nach Wittenberg zurückgekehrten Familienmitglieder Repressalien der SED unmittelbar an die Verfolgung durch die Nationalsozialisten anschlossen.“ Das Ertragen von Repressalien ging allerdings vielen DDR-Bürgern bis 1989 so. Während der altbundesdeutsche Hans-Jürgen Grabbe im Westen unseres inzwischen 30 Jahre wiedervereinten Vaterlandes ungehindert an seiner akademischen Karriere arbeiten und diese nach der Wiedervereinigung im Osten vervollkommnen konnte, habe ich als seit 1975 promovierter Historiker wegen kritischer Haltung gegenüber der SED und ihrer Kulturpolitik alle beruflichen und gesellschaftlichen Positionen sowie die mir auf Empfehlung der Akademie der Wissenschaften angebotene Stelle als Oberassistent mit Habilitationsauftrag an der Universität Leipzig verloren. Und in Wittenberg „kümmerte“ sich die SED-gelenkte Staatssicherheit mit zahlreichen Spitzeln rund um die Uhr um mich bis hin zum nächtlichen Einbruch in mein Arbeitszimmer der Lutherhalle. Das muss den Neuzeithistoriker Grabbe natürlich nicht sonderlich interessieren. Aber wie kommt ein solch qualifizierter Mensch wie Grabbe bei einem Thema wie der Erforschung verfolgter (jüdischer) Bewohner Wittenbergs dazu, sich in totale Ignoranz gegenüber zeitgeschichtlichen Verhältnissen der jüngeren Vergangenheit zu hüllen. Wie wir eingangs seines Buches erfahren, bildete den Auslöser für sein Buch der Wittenberger Stadtrat und Vorsitzende des Kulturausschusses Horst Dübner. Dieser „Kulturmensch“ war von 1986 bis zur friedlichen Revolution als 1. Sekretär der SED-Kreisleitung der führende regionale Repräsentant der von der diktatorischen SED beherrschten DDR, deren sich ihre Bürger nach 40 Jahren endlich entledigen konnten. Kaum vorstellbar, dass Grabbe davon keine Kenntnis hat. Doch er nimmt auch nicht zur Kenntnis, wie meine Forschungen zum Schicksal Wittenberger Juden zur DDR-Zeit gegenüber seinen von der SED über die PDS zur Linken mutierten Förderern verliefen. Stimmen des früheren Bürgerrechtlers und Pfarrer Friedrich Schorlemmer und andere Zeitzeugen sind in meinem Buch „Juden der Lutherstadt Wittenberg im Dritten Reich, 4. neu bearb. u. erweit. Aufl., Norderstedt 2015" wiedergegeben.
Dr. Ronny Kabus

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