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Aischa

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Insgesamt 567 Bewertungen
Bewertung vom 26.06.2025
Williams , Niall

Das ist Glück


ausgezeichnet

Ich bin wirklich nicht der Typ für große Gefühlsduselei. Im Gegenteil: Normalerweise brauche ich in der Literatur – wie im Leben – ein gewisses Maß an Action, Tempo und Abwechslung. Lange Landschaftsbeschreibungen oder ausufernde poetische Abschweifungen? Eher schwierig für mich. Und doch… hat mich dieses Buch mitten ins Herz getroffen. Und zwar vor allem mit seinem langsamen Tempo und der überbordenden Liebe zu Irland, seinen Menschen, ihrer Kultur und der rauhen Landschaft.

Niall Williams, geboren 1958 in Dublin, ist eigentlich gelernter Literaturwissenschaftler und Dramatiker. Bevor er sich dem Schreiben von Romanen widmete, arbeitete er als Drehbuchautor. Seine tiefe Liebe zu Irland ist in jeder Zeile spürbar. Und wenn man „Das ist Glück“ liest, versteht man sehr schnell, warum er nach fünfjährigem Aufenthalt in New York wieder in seine irische Heimat zurückkehrte und inzwischen zu den großen Erzählern Irlands gehört.

Diese Geschichte ist leise, manchmal fast beiläufig erzählt. Über weite Strecken passiert – objektiv gesehen – wenig. Oder wie es so schön im Buch heißt: „Nichts geschah, aber das immer wieder.“ Und doch passiert alles. Große Themen wie Schuld, Vergebung, Altern, Erinnerung, Sterben, Tod und auch die Rolle von Kirche und Religion im Alltag der Menschen – all das verhandelt Williams auf eine so feine, respektvolle und unaufgeregte Weise, dass es mich beim Lesen entschleunigt und geerdet hat.

Normalerweise langweile ich mich schnell, wenn Handlung ausbleibt – aber hier? Keine Spur davon. Die poetischen, manchmal ausufernden Beschreibungen von Wetter und Landschaft wirken nie überladen oder gar kitschig. Sie sind vielmehr wie der ruhige Puls des Lebens selbst. Williams schafft es, die irische Natur mit einer solchen Selbstverständlichkeit in die Geschichte einzuweben, dass sie fast selbst zur Figur wird.

Und dann diese Charaktere! Schrullig? Ja. Speziell? Absolut. Aber immer voller Wärme und Menschenliebe gezeichnet. Mit großer Achtung vor ihren Eigenheiten und Brüchen. Was ich besonders schätze, ist der feine, manchmal fast schalkhafte Humor, der immer wieder unverhofft aufblitzt. Wenn etwa über eine Ordensoberin gesagt wird: „In Mutter Aquinas' Stimme lag nichts Lammweiches. Sie hätte sich ohne Weiteres dafür qualifiziert, das stellvertretende Kommando über die Alliierten zu führen.“ Oder die köstliche Passage über die Elektrifizierung des Dorfes, nachdem Spiegel zum Verkaufsschlager wurden und die Bewohner im grellen Lampenlicht : „… zum ersten Mal erkannten, wie sie wirklich aussahen.“

Unvergessen bleibt für mich auch die schöne Parallele, die Williams zwischen der irischen Erzähltradition und der traditionellen Musik der Insel zieht: Beide scheinen kein Ende zu finden, alle Geschichten sind lang, weil "Geschichten über etwas so Abwegiges und Widersprüchliches wie menschliches Verhalten so lang sein mussten, dass sie diesseits des Grabes nicht zu Ende sein würden und tatsächlich nicht zu Ende sein konnten ... ", ebenso wie die Lieder, die landauf landab virtuos auf der Fiddle oder Tin Whistle gespielt wurden und werden, scheinbar ohne Ende ineinander übergehen.

Am Ende bleibt das Gefühl, einer Einladung gefolgt zu sein: Raus aus unserer hektischen, getriebenen Welt hinein in eine andere Zeit, ein anderes Tempo, eine andere Haltung dem Leben gegenüber. Eine großherzige Reise ins Irland Mitte des letzten Jahrhunderts.

Mein Fazit: Unbedingt lesen! Besonders für alle, die ihr Glück (wieder) in der Ruhe, im Annehmen des eigenen Schicksals und in der Beobachtung des scheinbar Alltäglichen finden wollen.

Bewertung vom 18.06.2025
Steiner, Tabea

Immer zwei und zwei


gut

Tabea Steiner, selbst in einer strengen freikirchlichen Gemeinschaft aufgewachsen, verarbeitet in ihrem Roman "Immer zwei und zwei" dieses Milieu, das sie aus persönlicher Erfahrung kennt. Als junge Erwachsene hat sie diese Freikirche verlassen – ein biografischer Hintergrund, der sich deutlich im Roman widerspiegelt, auch wenn die Geschichte fiktional bleibt.

Im Zentrum steht die junge zweifache Mutter, Künstlerin, Teilzeit-Lehrerin und Ehefrau Kristin, die in einer fundamentalistisch geprägten christlichen Gemeinschaft lebt. Die Handlung entfaltet sich zunächst in kurzen, vignettenartigen Szenen, die vor allem im ersten Teil des Romans eine bemerkenswert dichte, fast klaustrophobische Atmosphäre erzeugen. Mit wenigen Worten gelingt es Steiner hier, die rigiden Strukturen und subtilen wie offenen Zwänge dieser Welt spürbar zu machen. Besonders eindringlich sind die Passagen, in denen die religiöse Erziehung von Kindern thematisiert wird: ein Leben im ständigen Schwarz-Weiß-Denken, das von Schuld, Angst und der Drohung göttlicher Strafe geprägt ist.

Diese latente Bedrohlichkeit wird konkret, als sich die Protagonistin in eine Frau verliebt – eine Zuneigung, die im Umfeld der Gemeinde nicht nur tabuisiert, sondern auch aktiv bekämpft wird. In der Folge zieht ihr Ehemann ohne Vorwarnung mit den gemeinsamen Kindern zur Schwiegermutter. Kristin wird damit nicht nur emotional, sondern auch ganz praktisch isoliert – der Entzug der Kinder ist eine schmerzhafte und gewaltsame Konsequenz ihres Abweichens von der Norm.

Trotz dieser starken Anfangspassagen bleibt der Roman in seiner weiteren Entwicklung teilweise hinter dem eigenen Anspruch zurück. So bleibt die innere Wandlung der Hauptfigur, ihr allmähliches oder plötzliches Ablösen von der Gemeinschaft, auffallend unkonkret. Die Beweggründe für ihre Distanzierung erscheinen eher schemenhaft, was der Erzählung gerade in der zweiten Hälfte Tiefe nimmt. Auch die Nebenfiguren – seien es Mitglieder der Glaubensgemeinschaft, Familienangehörige oder Bezugspersonen – bleiben meist blass und fungieren eher als Funktionsträger denn als lebendige Figuren mit nachvollziehbaren Motivationen.

Trotz dieser Schwächen bleibt "Immer zwei und zwei" ein wichtiges literarisches Zeugnis darüber, wie restriktiv und angstbesetzt religiöse Erziehung sein kann – besonders dann, wenn sie nicht auf individuelle Freiheit, sondern auf Gehorsam und Unterordnung ausgerichtet ist. Der Roman überzeugt vor allem in seiner atmosphärischen Dichte und in den präzisen Schilderungen der Dynamiken innerhalb einer geschlossenen Glaubensgemeinschaft – ein Beitrag zur Literatur über religiöse Enge, der nachhallt.

Bewertung vom 13.06.2025
Doyle, Roddy

Die Frauen hinter der Tür


sehr gut

Roddy Doyle gelingt mit "Die Frauen hinter der Tür" ein sprachlich wie emotional herausfordernder Roman, der sich mit häuslicher Gewalt, Alkoholismus, generationsübergreifendem Trauma und familiärer Verantwortung auseinandersetzt – und das mit einer bemerkenswerten Mischung aus Tiefgang, Leichtigkeit und besonderem Galgenhumor. Letzterer zeichnet den Dubliner als typischen Vertreter des zeitgenössischen Comic Writing aus.

Besonders beeindruckend ist Doyles Erzählstil, der trotz der Schwere des Stoffes oft überraschend leicht wirkt. Mit seinem feinen Gespür für Dialoge – ein Markenzeichen Doyles – schafft er es, die Figuren lebendig, glaubwürdig und oft auch mit einem trockenen Witz auszustatten, der den Schmerz nie bannt, aber doch erträglicher macht. Darüber hinaus überzeugt die Innenwelt der Protagonistin Paula, deren Gedankenströme facettenreich und nuanciert geschildert werden.

Literarisch anspruchsvoll ist der Roman allemal – nicht zuletzt durch die zahlreichen Zeitsprünge und die Nähe zum Stilmittel des Bewusstseinsstroms, der mich teils an Virginia Woolfs "Stream of conciousness" in "Mrs. Dalloway" oder gar an "Ulysses" von James Joyce erinnert hat. Diese Assoziation kommt nicht von ungefähr: Auch "Die Frauen hinter der Tür" spielt in Dublin und zeichnet ein alles andere als idyllisches Bild der Stadt und ihrer Bewohner*innen.

Zentrales Thema ist die Aufarbeitung familiärer Traumata, insbesondere die Rolle, die Kinder in dysfunktionalen Familiensystemen einnehmen müssen – falsch und oft viel zu früh. Besonders bewegend ist die Beziehung zwischen Paula und ihrer längst erwachsenen Tochter Nicola. Jahrzehntelang hat die Tochter sich um ihre alkoholkranke Mutter gekümmert – ein Rollenverhältnis, das sich erst langsam umkehrt. Doyles Roman zeigt, wie tief solche Muster reichen, aber auch, dass Veränderung möglich ist. Paulas späte, aber entschlossene Entwicklung zur aktiven Mutterfigur ist einer der hoffnungsvollsten Aspekte des Buches.

Die Frauen hinter der Tür ist kein einfacher Roman, aber einer, der es wert ist, gelesen zu werden. Er konfrontiert, berührt, und zeigt zugleich auf, dass es nie zu spät ist, Verantwortung zu übernehmen und kaputte Beziehungen zu heilen – ein eindrucksvolles literarisches Plädoyer für späte Einsicht und neue Wege.

Bewertung vom 10.06.2025
Du Maurier, Daphne

Die Frauen von Cornwall


sehr gut

Daphne du Mauriers Debütroman "Die Frauen von Cornwall" (Original: The Loving Spirit) ist ein beeindruckendes Familienepos, das über vier Generationen die Geschichte der fiktiven Familie Coombe erzählt.

Was mir an diesem Roman besonders gefallen hat, sind die stimmungsvollen Landschaftsbeschreibungen. Du Maurier schafft es meisterhaft, das Meer, den Hafen und die wilden Küsten in atmosphärische Bilder zu tauchen, die nicht nur Kulisse, sondern Spiegel der Gefühle ihrer Figuren sind. Das Salz der See, der Geruch der Gischt und das stetige Rauschen der Wellen prägen die Stimmung des Romans auf eindrückliche Weise.

Anfangs fand ich die Geschichte etwas sperrig und musste mich erst an den doch etwas altmodischen Erzählstil gewöhnen. Doch sehr schnell hat mich die Story in ihren Bann gezogen – auch wenn ich mit den spirituellen Aspekten, wie der generationenübergreifenden Weitergabe von Gefühlen und Haltungen, nicht ganz warm wurde. Diese „unsichtbaren Verbindungen“ zwischen den Figuren oder gar das Auftauchen von Geistern wirken für mich stellenweise melodramatisch, was typisch für Du Maurier ist, aber nicht immer mein Geschmack war.

Ein weiteres zentrales Thema des Romans ist der Konflikt zwischen Freiheit und Bindung, der vor allem die Frauen der Familie Coombe prägt. Der „liebende Geist“, der leider nur im Original auch der Titel ist, wird durch die Generationen weitergegeben und symbolisiert die Sehnsucht nach Selbstbestimmung und die Kraft, auch widrige Umstände zu überwinden. Doch immer wieder treffen diese inneren Kräfte auf die Härten des Schicksals und gesellschaftliche Zwänge.

Eine besonders schöne literarische Klammer schafft Du Maurier, indem das letzte Kapitel mit denselben Sätzen wie das erste beginnt. Diese Wiederholung verbindet die Figuren Janet Coombe und ihre Urenkelin Jennifer miteinander und betont so die zyklische Natur von Geschichte, Familie und persönlichem Erleben. Es ist eine poetische Erinnerung daran, dass Vergangenheit und Gegenwart miteinander verwoben sind.

Die Entstehungsgeschichte des Romans ist ebenfalls faszinierend: Daphne du Maurier wurde durch einen ganz konkreten Fund inspiriert – sie entdeckte zufällig das Wrack des Schoners „Jane Slade“ in Pont Creek, benannt nach der Ehefrau des Schiffseigners. Dies führte sie direkt zu Nachforschungen über die Familie Slade, die sie literarisch als Familie Coombe verewigte. Besonders schön ist auch die Verbindung zur realen Welt: In der Kirche von Lanteglos, wo Jane Slade (im Roman Janet Coombe) geheiratet hatte und wo sie und weitere Familienmitglieder begraben sind, heiratete Du Maurier 1933 ihren Bräutigam Frederick Browning – der durch das Lesen von "The Loving Spirit" auf Cornwall aufmerksam wurde und beschloss, die Schauplätze des Romans zu besuchen.

Zusammengefasst ist "Die Frauen von Cornwall" ein atmosphärisch dichter Roman mit großen Themen wie Familie, dem Streben nach persönlicher Freiheit und dem Einfluss der Vergangenheit. Er ist gelegentlich etwas melodramatisch und die spirituellen Elemente gefallen sicher nicht jedem, doch wer sich darauf einlässt, wird mit einer kraftvollen Geschichte und unvergesslichen Bildern belohnt.

Bewertung vom 19.05.2025
Raffaelli, Valentina

Hauptsache Salat


sehr gut

Mit "Hauptsache Salat" verleiht Valentina Raffaelli dem Salat den Rang, den er viel zu oft nicht bekommt: den des Hauptdarstellers auf dem Teller. In 60 kreativen Rezepten zeigt die Autorin, dass Salat weit mehr sein kann als bloßes Grünzeug am Tellerrand. Modern, oft ungewöhnlich kombiniert und durchweg ansprechend präsentiert, laden die Gerichte dazu ein, das Konzept „Salat“ ganz neu zu denken – als vollwertiges, oft überraschendes Hauptgericht.

Besonders lobenswert ist der saisonale Aufbau des Buches. Jedes Rezept orientiert sich an der jeweiligen Jahreszeit und verwendet – zumindest dem Anspruch nach – Produkte, die in dieser Zeit frisch erhältlich sind. Damit verfolgt Raffaelli ein wichtiges Ziel: die Vielfalt von Obst- und Gemüsesorten zu bewahren und bewusster zu konsumieren. Allerdings zeigt sich hier auch eine gewisse Diskrepanz: Die Einteilung basiert auf italienischen Reife- und Erntezeiten und lässt sich nicht ohne Weiteres auf Deutschland übertragen. Gerade weil die italienische Köchin mehrere Jahre in Amsterdam gelebt hat, hätte man erwarten dürfen, dass sie diesen Umstand berücksichtigt – oder zumindest Alternativen für den mitteleuropäischen Raum nennt.

Ähnliches gilt für ihren gut gemeinten Rat, vorzugsweise auf lokalen Märkten einzukaufen. In der Theorie charmant, in der Praxis aber nicht für alle Leserinnen umsetzbar – insbesondere, wenn viele der verwendeten Zutaten hierzulande schwer erhältlich sind. Exotisch klingende Produkte wie Mizuna, Bottarga, Pioppini-Pilze oder Lampascioni mögen Feinschmeckerinnen begeistern, erschweren aber den Zugang für den Durchschnittskoch. Eine Liste mit gängigeren Alternativen hätte dem Buch gutgetan und es alltagstauglicher gemacht.

Dafür punktet Hauptsache Salat an anderer Stelle: Die Mengenangaben beziehen sich meist auf eine Portion – eine simple, aber äußerst praktische Lösung, die das Hochrechnen für mehrere Personen deutlich erleichtert. Auch die Vorstellung unterschiedlicher Essig- und Ölsorten sowie die Grundrezepte für Würzöle, Konfitüren und Fermentiertes bieten Mehrwert, gerade für Leser*innen, die gern experimentieren oder auf der Suche nach neuen Basics für die Küche sind.

Nicht zuletzt überzeugt die Gestaltung: Die stimmungsvollen Fotos von Laura Spinelli und die charmanten Illustrationen von Luca Boscardin machen das Blättern zum Genuss und wecken Lust, gleich in der Küche loszulegen. Die hochwertige Aufmachung unterstreicht den Anspruch, Salat aus der Nische der langweiligen Beilage zu befreien.

Fazit: "Hauptsache Salat" ist ein visuell ansprechendes, ideenreiches Kochbuch, das Salat in seiner ganzen Vielfalt feiert. Kleinere Schwächen in der regionalen Übertragbarkeit und bei der Zutatenauswahl trüben den Gesamteindruck etwas, schmälert aber nicht das Potenzial für kulinarische Neuentdeckungen. Wer offen für neue Kombinationen ist – und bereit, auch mal etwas zu improvisieren – wird mit diesem Buch viele frische Impulse bekommen.

Bewertung vom 19.05.2025
Würger, Takis

Für Polina


gut

Takis Würgers neuer Roman "Für Polina" beginnt durchaus vielversprechend: Mit einem feinen Gespür für Sprache und Atmosphäre führt uns der Autor in die Welt seines Protagonisten Hannes ein, dessen Leben durch den frühen Tod der Mutter eine jähe Wendung nimmt. Anfangs wirkt die Geschichte eindringlich, beinahe poetisch. Doch was als sensibles Porträt eines traumatisierten Jungen beginnt, verliert sich bald in einer überkonstruierten und vorhersehbaren Liebesgeschichte, die am Ende mehr Sentimentalität als Substanz bietet.

Hannes hört nach dem Tod seiner Mutter nicht nur auf zu sprechen, sondern stellt auch sein Wachstum ein – ein literarisches Motiv, das unweigerlich an Oskar Matzerath aus Grass' Blechtrommel erinnert, ohne allerdings dessen vielschichtige Dimensionen zu erreichen. Stattdessen wirkt diese Anleihe wie ein bloßes Stilmittel, das den Eindruck von Tiefe eher vortäuscht als tatsächlich herstellt.

Die größte Zumutung für mich stellt jedoch die Entwicklung von Hannes zum gefeierten Konzertpianisten dar. Obwohl er sich über Jahre hinweg weigert zu spielen und zudem einen Finger verloren hat, steht dieser offenkundige Widerspruch seinem internationalen Erfolg nicht im Weg – hier verliert die Story jegliche erzählerische Glaubwürdigkeit. Die Realität wird glattgebügelt, jede Widrigkeit des Lebens erscheint letztlich nur wie ein Stolperstein auf dem Weg zu einem kitschigen Happy End, das so süß daherkommt, dass es beinahe schmerzt.

Auch das Frauenbild des Romans bleibt fragwürdig. Mit Ausnahme von Hannes’ Mutter Fritzi wirken die weiblichen Figuren entweder platt oder klischeehaft überzeichnet. Wenn sich Männer verlieben, dann stets auf Grundlage äußerlicher Reize – innere Konflikte oder Persönlichkeitsmerkmale scheinen zweitrangig. Besonders ärgerlich ist dabei die Darstellung der titelgebenden Polina: Als Projektionsfläche männlicher Sehnsüchte steht sie im Mittelpunkt, doch sobald sie sich für ein selbstbestimmtes Leben entscheidet, wird ihre Perspektive weitgehend ausgeblendet. Ihr Weg ohne Mann an der Seite bleibt nicht nur unbeleuchtet – er scheint erzählerisch kaum von Bedeutung zu sein.

So bleibt "Für Polina" ein Roman, der auf den ersten Blick zu unterhalten weiß, aber bei näherem Hinsehen enttäuscht. Zu glatt, zu sentimental, zu schematisch. Statt die Widersprüche des Lebens ernst zu nehmen, schiebt Würger sie beiseite – und liefert ein Werk, das mit großer Geste von Liebe spricht, letztlich aber an der Oberfläche bleibt. Schade, denn der Anfang zeigte, dass da mehr möglich gewesen wäre.

Fazit: Ein ambitioniert beginnender Roman, der leider in Kitsch und klischeehafter Konstruktion versinkt – mit einem Frauenbild, das mehr Fragen aufwirft als Charaktertiefe liefert.

Bewertung vom 29.04.2025
Eng, Tan Twan

Das Haus der Türen


ausgezeichnet

Was für ein Buch! Das Haus der Türen ist eine jener seltenen Entdeckungen, bei denen man schon nach den ersten Seiten spürt: Hier entfaltet sich etwas Großes, Feinsinniges, Bleibendes. Tan Twan Eng hat einen Roman geschrieben, der auf eindringliche und zugleich elegante Weise unter die Haut geht – und lange dort bleibt.

Die Geschichte spielt größtenteils im kolonialen Penang des Jahres 1921, einer faszinierend ambivalenten Welt, in der gesellschaftliche Konventionen, Rassenschranken und Machtverhältnisse unter der tropischen Sonne brodeln. In diesem atmosphärisch dichten Setting verwebt Eng historische Realität und Fiktion zu einem ebenso klugen wie emotional bewegenden Text. Im Zentrum steht der Besuch des englischen Schriftstellers William Somerset Maugham – begleitet von seinem (damals geheim gehaltenen) Liebhaber – bei einem britischen Ehepaar. Doch was zunächst wie ein kultivierter Rückzugsort wirkt, entpuppt sich schnell als Bühne für unterdrückte Wünsche, verschüttete Wahrheiten und gesellschaftliche Zwänge.

Der Roman basiert auf einem wahren Kriminalfall, der Maugham zu seiner berühmten Erzählung "Der Brief" inspirierte. Doch Tan Twan Eng belässt es nicht bei einer literarischen Hommage: Er gräbt tiefer, legt die psychologischen Risse in den scheinbar makellosen Fassaden seiner Figuren offen und verwebt persönliche mit politischen Befreiungskämpfen – von der Unabhängigkeit asiatischer Kulturen bis zum Ringen einzelner Frauen um ihre Stimme.

Was "Das Haus der Türen" so besonders macht, ist nicht nur die Komplexität seiner Themen, sondern auch Engs meisterhafte Sprache. Die Geschichte ist durchzogen von poetischen, bildstarken Formulierungen, wie diesem herrlichen Satz: „Am Ende der Bucht simmerte ein kaum zwei Schritt breiter Bach in seinem flachen Sandbett und sog das Regenwasser aus den Bergen, um den unstillbaren Durst des Meeres zu stillen.“ Man möchte innehalten, zurückblättern, noch einmal lesen – und gleichzeitig unbedingt weiter.

Dass Tan Twan Eng eigentlich Jurist ist, lässt einen staunen: Wie er zum Schreiben kam, weiß ich nicht – aber es ist ein Glücksfall, dass er diesen Weg gegangen ist. Das Haus der Türen ist ein Roman von großer stilistischer Eleganz und emotionaler Tiefe. Vielschichtig, berührend, literarisch herausragend.

Für mich ganz klar eines der Lesehighlights des Jahres. Absolute Empfehlung!

Bewertung vom 28.04.2025
Macher, Julia;Massmann, Dorothea;Timmermann, Ingrid

MARCO POLO Reiseführer Barcelona


ausgezeichnet

Barcelona ist mir durch mehrere Aufenthalte bestens vertraut, dennoch hat mich der Marco Polo Reiseführer in der 21. Auflage (Februar 2025) positiv überrascht. Die kompakte Klappenbroschur im praktischen Taschenbuchformat liefert trotz sehr knapp gehaltener Texte eine beeindruckende Fülle an Informationen, die auch für Kenner der Stadt noch neue Entdeckungen bereithält.
Die klassische Einteilung in Kategorien wie Sightseeing, Essen & Trinken sowie Shoppen sorgt für eine übersichtliche Struktur. Besonders hervorzuheben ist jedoch das Kapitel mit vier ausgewählten Erlebnistouren. Diese bieten einen echten Mehrwert für alle, die sich nicht selbst aufwendig Routen zusammenstellen möchten. Praktischerweise lassen sich die Touren über einen QR-Code aufs Smartphone laden – perfekt auch für die Offline-Nutzung unterwegs.
Neben den reinen Informationstexten überzeugt der Reiseführer mit vielen nützlichen Extras: Tipps zu typischen Fettnäpfchen, ein aktueller Metroplan sowie eine herausnehmbare Faltkarte helfen, sich mühelos in der katalanischen Hauptstadt zurechtzufinden. Sehr gut gefallen haben mir außerdem die beigefügte Spotify-Playlist sowie die inspirierenden Film- und Literaturtipps – ideale Features, um sich schon vor der Reise auf das besondere Flair Barcelonas einzustimmen.
Fazit: Der Marco Polo Reiseführer "Barcelona" ist eine empfehlenswerte, kompakte Hilfe – sowohl für Erstbesucher als auch für erfahrene Barcelona-Liebhaber, die noch einmal neue Facetten der Stadt entdecken möchten.

Bewertung vom 17.04.2025
July, Miranda

Auf allen vieren


gut

Mit ihrem Roman Auf allen Vieren wagt sich Miranda July in gewohnt eigenwilliger Manier an die Ränder gesellschaftlicher und persönlicher Selbstverständlichkeiten. Wer bereits mit Julys künstlerischem Werk vertraut ist — sei es ihre Filmkunst, ihre Kurzgeschichten oder Performances — wird in der Protagonistin dieses Romans unschwer Parallelen zur Autorin selbst erkennen. Julys Blick auf das Alltägliche, ihr oft schonungsloser Humor und ihre Fähigkeit, das Intime mit dem Skurrilen zu verweben, scheinen hier fast direkt aus dem eigenen Leben in die Romanhandlung überzugehen. Es fällt schwer zu glauben, dass Auf allen Vieren rein fiktional ist; zu sehr klingen autobiografische Anteil zwischen den Zeilen an.
Zu Beginn habe ich die Geschichte mit großem Vergnügen und ehrlichem Interesse verfolgt. Sowohl inhaltlich als auch sprachlich liegt der Roman außerhalb dessen, was ich üblicherweise lese — und genau das hat mich fasziniert. Besonders angenehm empfand ich die beiläufige Selbstverständlichkeit, mit der die Protagonistin ein nonbinäres Kind hat: Die Verwendung geschlechtsneutraler Pronomen wie dey, dem und deren geschieht unaufgeregt, ohne belehrenden Ton, und ist genau deshalb so wirksam.
Ein weiteres großes Plus ist die Thematisierung weiblicher Sexualität in unterschiedlichen Lebensphasen und der Veränderungen, die die (Prä-)Menopause für das Selbstbild einer Frau mit sich bringen kann. Dies findet in der Gegenwartsliteratur, abseits von Sachbüchern, bisher viel zu selten Platz, und es ist erfrischend wie selbstverständlich July diese Erfahrung ins Zentrum rückt.
Doch trotz all dieser spannenden und wichtigen Aspekte hat mich die Story im Verlauf zunehmend verloren. Gegen explizite Darstellungen sexueller Fantasien oder Selbstbefriedigung habe ich keinerlei Einwände — im Gegenteil, Offenheit an dieser Stelle ist bereichernd. Allerdings kippte für mich das Gleichgewicht, als sich der Roman fast ausschließlich um Sex, Begierde und Masturbation zu drehen begann. Die Handlung geriet ins Stocken, die Figuren blieben oft skizzenhaft, und manches Verhalten wirkte auf mich schlichtweg unplausibel. Die Frage, ob befreundete Mittvierzigerinnen sich tatsächlich regelmäßig Nacktselfies schicken — und warum — blieb für mich ebenso unbeantwortet wie die Ursachen für die emotionale Distanz der Protagonistin zu ihrem Ehemann.
So bleibt mein Leseerlebnis am Ende zwiegespalten: ein Roman, der wichtige Themen anspricht und mit erfrischender Offenheit aufwartet, der aber erzählerisch nicht immer überzeugt und mich schließlich eher ratlos als begeistert zurückließ. Für mich leider nur ein mittleres Leseerlebnis — originell, aber unausgewogen.

Bewertung vom 17.04.2025
Schweiger, Wolfgang

Die Vergangenheit kennt kein Ende


sehr gut

Wolfgang Schweiger entführt seine Leserinnen und Leser mit "Die Vergangenheit kennt kein Ende" in das Chiemgau Mitte der 1950er Jahre — eine Region, die auf den ersten Blick idyllisch wirkt, unter der Oberfläche jedoch noch tief von den Schatten des Nationalsozialismus geprägt ist. Mit sicherem Gespür für historische Atmosphäre und detailreiche Milieuschilderungen gelingt es Schweiger, die Stimmung im ländlichen Nachkriegsdeutschland eindrucksvoll einzufangen.
Besonders überzeugt hat mich die Authentizität der Figuren. Allen voran Kriminalkommissar Mehringer, der mit seinem ausgeprägten moralischen Kompass nicht davor zurückschreckt, auch unbequeme Wege zu gehen. und sich gegen das teils noch immer menschenverachtende Gedankengut in Polizei und Justiz zu stellen. Schweiger zeigt schonungslos, wie tief rassistische und nationalsozialistische Überzeugungen auch Jahre nach Kriegsende noch in den Köpfen verankert waren, selbst bei Polizei und Justiz — ein Aspekt, der dem Roman eine bedrückende Aktualität verleiht.
Die Handlung selbst ist äußerst temporeich und hält den Spannungsbogen konstant auf hohem Niveau. Ein Kriminalfall reiht sich an den nächsten, sodass kaum Zeit zum Durchatmen bleibt. Einziger Wermutstropfen: Aufgrund der Vielzahl an handelnden Personen fiel es mir zu Beginn nicht leicht, den Überblick zu behalten. Ein Personenverzeichnis hätte hier für Orientierung sorgen können.
Kritisch anmerken möchte ich die Darstellung einer wahrsagenden sogenannten „Zigeunerin“. Hier bedient Schweiger leider ein klischeehaftes Stereotyp, das die Ausgrenzung von Sinti und Roma als „andersartig“ weiter zementiert — ein bedauerlicher Bruch in einem ansonsten sehr feinfühligen Roman.
Abgesehen davon überzeugt "Die Vergangenheit kennt kein Ende" als fesselnder Kriminalroman, der nicht nur durch Nervenkitzel, sondern auch durch sein nuanciertes und atmosphärisch dichtes Bild der deutschen Nachkriegsgesellschaft besticht. Ein Buch, das unterhält und nachdenklich stimmt. Gerne mehr davon!