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Aischa

Bewertungen

Insgesamt 551 Bewertungen
Bewertung vom 04.03.2025
Überfahrt mit Dame (eBook, ePUB)
James, Henry

Überfahrt mit Dame (eBook, ePUB)


sehr gut

Henry James’ Novelle über eine Atlantiküberquerung von Boston nach Liverpool Anfang des 20. Jahrhunderts hat mir gut gefallen. In nur etwas mehr als 100 Seiten erzählt James subtil und psychologisch dicht von gesellschaftlichen Konventionen, unterdrückten Emotionen und moralische Zwängen. Klatsch und Tratsch der Passagiere an Bord steigern sich von Tag zu Tag, geschickt zeichnet der Autor den ganz eigenen Mikrokosmos einer längeren Schiffsreise.

James nutzt sein feines Gespür für zwischenmenschliche Dynamiken, um die unterschwelligen Spannungen und unausgesprochenen Gefühle zwischen den Figuren zu erkunden. Die Protagonistin wird in einen moralischen Konflikt verwickelt, der dazu anregt, über Fragen von Pflicht, Schuld und persönlicher Freiheit nachzudenken.

Die Sprache ist anspruchsvoll und voller eleganter Nuancen, die Dialoge verlangen volle Aufmerksamkeit beim Lesen. James verzichtet auf vordergründige Dramatik und setzt stattdessen auf subtile Andeutungen und psychologische Tiefe. Vieles wird nur angedeutet, manches bleibt im Unklaren.

Die Ausgabe des Aufbau Verlags erfreut mit liebevoll gestalteten Details: ein hübscher Leineneinband, ein Lesebändchen und eine Landkarte auf Vor- und Nachsatzpapier. Im Anhang findet sich nicht nur ein Nachwort des Übersetzers, sondern auch eine Chronik, Anmerkungen zum Textverständnis und die Erzählung "Die Reise nach Panama" von Anthony Trollope. Letztere soll James als Anregung zu "Überfahrt mit Dame" gedient haben, der Vergleich der beiden Geschichten, die inhaltlich viele Parallelen aufweisen, ist sehr interessant.

James´ Erzählung fängt die die Atmosphäre einer vergangenen Epoche ein und behandelt dennoch universelle menschliche Konflikte.

Bewertung vom 27.02.2025
Eine Frage der Chemie
Garmus, Bonnie

Eine Frage der Chemie


gut

Bonnie Garmus’ „Eine Frage der Chemie“ ist meines Erachtens ein Beispiel dafür, wie ein großer Marketinghype einem mittelmäßigen Roman zu Erfolg verhilft.

Die Geschichte der Chemikerin Elizabeth Zott im Amerika der 1950er Jahre liest sich angenehm, der Schreibstil ist flüssig und die Story hat mich auf den ersten Blick durchaus unterhalten. Doch hinter der Fassade aus augenzwinkerndem Feminismus und originellen Ideen verbergen sich zahlreiche Klischees und Übertreibungen. Die Figuren sind fast durchweg stereotyp gezeichnet, insbesondere die Wissenschaftler*innen, die als sozial unbeholfen und emotional gehemmt dargestellt werden. Dass Elizabeths außergewöhnliche Tochter ihr Genie allein der mütterlichen Förderung verdankt oder der Familienhund nicht nur Wörter versteht, sondern auch als Held agiert, wirkt eher märchenhaft als glaubwürdig.

Auch die feministischen Ansätze erscheinen platt: Elizabeth wird Opfer nahezu jeder Form patriarchaler Unterdrückung, doch anstatt einer reflektierten Auseinandersetzung bleibt es bei überzeichneten Schilderungen: Sie wird sexuell diskriminiert, sozial ausgegrenzt, vergewaltigt, ihre Forschungsergebnisse werden von ihrem männlichen Vorgesetzten als dessen eigene ausgegeben, und vieles mehr, aber märchengleich erstarkt sie dadurch und steigt wie Phönix aus der Asche empor. Flankiert wird dies von einer Vielzahl an Übertreibungen jenseits aller Realitäten: Elisabeths Tochter liest schon als Vierjährige anspruchsvolle Romane und begreift wissenschaftliche Zusammenhänge, ist jedoch nicht etwa hochbegabt, sondern dies ist allein die Folge der frühkindlichen Förderung durch die Mutter. Ins gleiche Schema passt der zugelaufene Familienhund, der durch Elisabeths Training nicht nur locker 1.000 Worte versteht, sondern auch noch schnell zum Lebensretter wird. Ach ja, die vermenschlichten Gedankengänge des Hundes sind in vielen Kapiteln sehr präsent - das kann man witzig finden, mich hat es genervt. Oft teile ich Denis Schecks Literaturgeschmack, was diesen Roman betrifft ist dies überhaupt nicht der Fall: Er nennt "Eine Frage der Chemie" einen feinen feministischen Unterhaltungsroman. Feinen Feminismus habe ich hier vergeblich gesucht, gefunden habe ich lediglich übertriebene Schilderungen patriarchaler Strukturen, die Frauen ausgebeutet und missbraucht haben, es werden aber keine Lösungsansätze vorgestellt, es sei denn man lässt das Auftauchen einer guten Fee als solchen gelten.

Unterm Strich bleibt ein paar Stunden oberflächlich guter Unterhaltung, stilistisch schön, inhaltlich mangelhaft. Was Nettes für zwischendurch, wenn man nicht weiter nachdenkt.

Bewertung vom 14.02.2025
Bavarese
Reisinger, Leo

Bavarese


sehr gut

Der Debütroman von Leo Reisinger, einem vor allem aus dem Fernsehen bekannten Schauspieler, hat mich auf eine angenehme, unterhaltsame Reise durch München mitgenommen. Das Lokalkolorit im Roman ist hervorragend eingefangen, man merkt, dass Reisinger die Schauplätze des Romans bestens kennt. Es war ein Vergnügen, die auch mir vertrauten Orte und Eigenheiten der bayerischen Metropole wiederzuerkennen – sei es in der Atmosphäre, den beschriebenen Charakteren oder den kleinen Details, die so typisch für München sind.

Die Sprache allerdings lässt "Luft nach oben". An manchen Stellen ist mir die Ausdrucksweise zu vulgär, und auch einige Klischees, beispielsweise „man trug Lederhosen oder Dirndl, man lebte umgeben von blauen Bergen und grünen Wiesen“, hätte es aus meiner Sicht nicht gebraucht.

Ein weiterer Aspekt, der mir nicht gefallen hat, sind die teils übertriebenen Lobhudeleien von Reisingers Schauspielkollegen auf der Buchrückseite und -klappe. Francis Fulton-Smith bezeichnet Reisinger gar als den deutschen Truman Capote – eine doch sehr steile These. Ja, der Roman ist temporeich und amüsant, aber in der Liga von Capote zu spielen, scheint mir definitiv zu weit hergeholt. Ich hoffe, dass sich derartige Blurbs im Literaturmarketing nicht dauerhaft durchsetzen.

Die Geschichte selbst ist spannend und temporeich. Manche Figuren hätten genauso gut in eine TV-Serie wie „Monaco Franze“ oder „Münchner Geschichten“ gepasst, was einerseits charmant, andererseits auch etwas formelhaft ist. Der größte Wermutstropfen für mich war allerdings, dass die Akteure überwiegend Hochdeutsch sprechen – was in einem Roman, der sich stark um den bayerischen Raum dreht, seltsam deplatziert wirkt. Wäre hier bayerische Mundart verwendet worden, hätte der Roman möglicherweise noch mehr Authentizität erhalten. So scheint es fast, als ob Reisinger sich bewusst dafür entschieden hat, eine breitere Leserschaft anzusprechen, was ich schade finde.

Alles in allem hat mich „Bavarese“ durchaus unterhalten, auch wenn ich mir an einigen Stellen mehr Mut zur Eigenständigkeit und weniger Kitsch gewünscht hätte. Die Atmosphäre Münchens kommt gut zur Geltung, die Geschichte ist spritzig und interessant – aber die Übertreibungen und Klischees trüben leider den Genuss ein klein wenig.

Bewertung vom 14.02.2025
Feine Pflänzchen
Kaléko, Mascha

Feine Pflänzchen


ausgezeichnet

Mehr oder weniger zufällig bin ich in unserer Bücherei auf diesen schmalen Gedichtband gestoßen. Ich muss gestehen, dass mir Mascha Kaléko bis dato kein Begriff war, aber kaum hatte ich das Büchlein zu Hause, begegnete mir der Name der jüdischen Dichterin allenthalben: Denn am 21. Januar jährte sich ihr Todestag zum 50. Mal, und so häuften sich in Feuilletons und Kultursendungen Beiträge über Kalékos Leben und Werk.

Mich haben die Verse zum Schmunzeln und zum Nachdenken gebracht, sie kommen oft leicht daher und haben dennoch Tiefgang. Vieles ist witzig, selbst Gesellschaftskritik wird in Humor verpackt, etwa das folgende - leider wieder sehr aktuelle - Gedicht:

Alpenblüten

Das Edelweiß hat jeder gern
Ich find es ziemlich fade
Es blüht am Hut des Alpenherrn
Im Land der Schokolade
Auch da wo man den Plattler tanzt
Gedeiht die Blum aus Filz gestanzt
Nebst Rassenhaß und Loden
Und andern Jodelmoden

Großartig visuell ergänzt hat Eva Schöffmann-Davidov die Gedichte. Auf je einer Doppelseite stehen sich Poem und passende sattgrüne Zeichnung gegenüber und es macht sehr viel Freude, in den Illustrationen feine Details zu entdecken, die so manches Mal den Worten eine weitere Perspektive hinzufügen.
Kalékos Lyrik ist sehr eingängig und in gewisser Weise auch bodenständig, sie thematisieren oft das Leben einfacher Menschen. Dadurch eignet sie sich gut als Einstieg in Dichtung und als kleine poetische Häppchen zwischendurch.

Bewertung vom 31.01.2025
Astrids Vermächtnis
Mytting, Lars

Astrids Vermächtnis


ausgezeichnet

Mit Astrids Vermächtnis bringt Lars Mytting seine beeindruckende Schwesternglocken-Trilogie zu einem fulminanten Abschluss. Erneut kehren wir nach Butangen zurück, jenes abgelegene norwegische Dorf, das durch das sagenumwobene Glockenpaar und die dramatische Familiengeschichte der Heknes geprägt ist. Der Roman beginnt im Jahr 1936 und folgt Astrid Hekne, willensstarke Enkelin der Astrid aus dem ersten Band, die immer wieder versucht, das mythische Erbe ihrer Familie zu entschlüsseln – und sich dabei in den Wirren des Zweiten Weltkriegs wiederfindet.

Besonders beeindruckt hat mich auch diesmal wieder die Darstellung der weiblichen Protagonistinnen. Astrid ist eine vielschichtige Figur, die sich gegen gesellschaftliche Zwänge behauptet und unbeirrbar ihren eigenen Weg sucht. Sie steht stellvertretend für eine Generation von Frauen, die sich nicht länger mit der ihnen zugewiesenen Rolle abfinden wollten. Ihre Entschlossenheit und ihr Mut, insbesondere im Widerstand gegen die deutsche Besatzung, machen sie zu einer der stärksten Figuren der Trilogie. Aber nicht nur Astrid, sondern auch andere Frauenfiguren des Romans glänzen durch ihre Vielschichtigkeit. Mytting versteht es meisterhaft, die Herausforderungen und Kämpfe dieser Frauen in einer von Männern dominierten Gesellschaft authentisch darzustellen, ohne dabei in Klischees zu verfallen.

Ein weiterer zentraler Aspekt des Romans ist die eindringliche Schilderung der nationalsozialistischen Besatzung Norwegens und der damit verbundenen Kollaboration bzw. des Widerstands. Mytting zeigt, wie sich die Gesellschaft unter den wachsenden Spannungen veränderte und wie unterschiedlich die Menschen mit der neuen Realität umgingen – zwischen Opportunismus, Angst und Auflehnung. Hier greift er geschickt historische Fakten auf und verwebt sie mit der fiktiven Geschichte von Butangen, sodass eine dichte, atmosphärisch starke Erzählung entsteht.

Wie bereits in den vorherigen Bänden beeindruckt mich der Autor mit einer erzählerischen Wucht, die sich durch bildhafte Sprache und ein tiefes Gespür für Atmosphäre auszeichnet. Die raue Schönheit der norwegischen Landschaft, die harte Realität des bäuerlichen Lebens und der heraufziehende Schatten des Krieges werden mit großer Detailgenauigkeit beschrieben, sodass man als Leser*in das Gefühl hat, selbst durch die Fjorde und Täler zu streifen. Gleichzeitig bleibt Mytting seinem Stil treu: Er verbindet Legenden und Mythen mit realen geschichtlichen Ereignissen und erschafft so eine einzigartige Mischung aus historischem Roman und norwegischer Sagenwelt.

Während der Roman insgesamt überzeugt, gibt es einen Punkt, der mich gestört hat: Das weitere Schicksal einiger Nebenfiguren erfährt man erst aus dem Personenregister am Ende des Buches. Dadurch bleiben einige Erzählstränge im eigentlichen Text unvollständig, was etwas unbefriedigend sein kann. Zudem ist die Sortierung des Registers nicht alphabetisch, sondern nach dem Zeitpunkt des ersten Auftretens der Figuren – eine ungewöhnliche und meines Erachtens eher umständliche Lösung.

Abgesehen von diesen kleinen Kritikpunkten ist Astrids Vermächtnis ein herausragender Abschluss der Schwesternglocken-Trilogie. Mytting gelingt es erneut, Geschichte und Mythos kunstvoll miteinander zu verweben und eine fesselnde Erzählung zu erschaffen, die sowohl emotional berührt als auch historisch aufklärt. Besonders die starken Frauenfiguren und die tiefgründige Auseinandersetzung mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs machen diesen Roman zu einem besonderen Leseerlebnis. Auch diesmal wieder (wenn auch knappe) fünf Sterne samt großer Leseempfehlung von mir.

Bewertung vom 31.01.2025
Die Stadt der Anderen
Melo, Patricia

Die Stadt der Anderen


sehr gut

Patrícia Melo entwirft in "Die Stadt der anderen" ein schonungsloses, aber packendes Panorama der Armenviertel São Paulos zur Zeit der Bolsonaro-Regierung. Anfangs hat mich die Vielzahl der Figuren sowie die häufigen Szenenwechsel durch die sehr kurzen Kapitel etwas verwirrt– ein Personenregister wäre hier hilfreich gewesen. Doch sobald man sich in die Geschichte eingelesen hat, entfaltet sich eine große Sogwirkung, und ich mochte das Buch kaum noch zur Seite legen.

Die Großstadt erscheint als düsterer Moloch, in dem Gewalt und Hoffnungslosigkeit allgegenwärtig sind. Polizei und Institutionen, die offiziell für Ordnung oder soziale Hilfe sorgen sollen, entpuppen sich als zutiefst korrupt, brutal und rassistisch, das Leben eines Obdachlosen ist nichts wert. Die sogenannten Ordnungshüter verüben gerne auch mal Selbstjustiz und lassen die Leichen auch gleich verschwinden. Besonders bedrückend ist die Darstellung des Lebens auf der Straße, das einer eigenen, rauen Ordnung folgt. Trotz Solidarität unter den Ausgestoßenen bleibt es ein Überlebenskampf mit eigenen Regeln, in dem Transsexuelle und Migranten auf der untersten Stufe stehen und noch stärker ausgegrenzt werden.

Melo schildert diese Realität mit sprachlicher Wucht und intensiver Bildkraft. Einige Figuren, wie etwa der auf der Straße lebende Schriftsteller, der von einem Literaturagenten entdeckt und medial gehypt wird, wirken zwar klischeehaft, doch insgesamt gelingt es der Autorin, eine bedrückende und gleichzeitig fesselnde Gesellschaftskritik zu formulieren. Besonders eindrücklich ist die Entlarvung jener Institutionen, die angeblich soziale Verbesserungen anstreben, in Wahrheit jedoch nur am Leid der Ärmsten verdienen.

Fazit: Packende brasilianische Gesellschaftkritik, teils ein wenig überzeichnet.

Bewertung vom 15.01.2025
Flavorama
Johnson, Arielle

Flavorama


sehr gut

Als Lebensmittelchemikerin und Mitbegründerin des Fermentationslabors des renommierten Kopenhagener Sternerestaurants Noma bringt Dr. Arielle Johnson beeindruckendes Fachwissen in ihr Buch "flavorama" ein. Ihr wissenschaftlicher Blick auf das Kochen ist einerseits faszinierend. Doch ganz ehrlich: Für den Alltag der meisten Hobbyköch*innen ist der praktische Nutzen des Buches eher begrenzt. Somit hält es nur halb, was der Untertitel verspricht: Die fabelhafte Wissenschaft vom Geschmack - und wie wir sie im Alltag nutzen können

Die Stärke von "flavorama" liegt eindeutig in der fundierten Darstellung der Chemie hinter Geschmack und Aromen. Ich war begeistert von den praktischen Tabellen, die beispielsweise zeigen, welche Aromen man durch welche Fermentationsmethode erzeugen kann. Auch die Kapitel über das Konzentrieren, Extrahieren und Umwandeln von Geschmack waren lehrreich und haben mich inspiriert. Doch das war es dann auch schon mit der „Alltagstauglichkeit“.

Für viele der vorgestellten Techniken braucht man Geräte und Zutaten, die in normalen Haushalten schlichtweg fehlen. Wer hat schon einen Präzisionsgarer oder plant, eine eigene Fermentationskammer zu bauen? Manche Vorschläge wirkten eher wie Versuchsanordnungen aus dem Labor. Hinzu kommt, dass Johnson in ihren Rezepten oft exotische Zutaten wie Ngo Om, Koseret oder Huacatay verwendet, die sich nicht ohne Weiteres im Supermarkt um die Ecke finden lassen. Für die meisten Leser*innen dürfte das Buch daher eher eine Inspirationsquelle als ein Praxisleitfaden sein.

Was mich ebenfalls gestört hat, war die Organisation der Rezepte. Zwar verspricht das Buch insgesamt 99 Rezepte, doch diese sind im Fließtext verstreut und nicht leicht auffindbar. Ein eigenes Rezeptregister wäre hier eine enorme Hilfe gewesen.

Optisch hingegen überzeugt flavorama auf ganzer Linie: Das Hardcover ist stabil, das Layout modern und bunt, und die Gestaltung lädt zum Schmökern ein.

Fazit: Wer sich für die Wissenschaft des Geschmacks interessiert und bereit ist, sich auf die naturwissenschaftliche Tiefe einzulassen, wird hier sicher auf seine Kosten kommen. Für mich war das Buch eine spannende Reise in die Moleküle hinter Aromen – aber wer praxistaugliche Tipps oder gar ein klassisches Kochbuch sucht, wird enttäuscht sein.

Bewertung vom 23.12.2024
Trophäe
Schoeters, Gaea

Trophäe


ausgezeichnet

Mit Trophäe liefert Gaea Schoeters einen vielschichtigen, provokanten Roman, der durch Radikalität und moralische Tiefgründigkeit wie auch durch literarisches Können beeindruckt. Es ist ein Werk, das nicht nur die Dynamik zwischen Mensch und Natur, sondern auch die dunklen Facetten von Macht, Gewalt und Privilegien seziert – und dabei einen schonungslosen Blick auf den postkolonialen Umgang Europas mit Afrika wirft.

Die Handlung des Romans kreist um Hunter White, einen durch Börsenspekulationen reich gewordenen US-Amerikaner, der sich auf eine exklusive Jagdreise nach Afrika begibt. (Der übertrieben plakative sprechende Name sei verziehen, wird er doch im Verlauf der Story erklärt.) Doch was zunächst wie eine klassische Geschichte über archaische Rituale und Abenteuer wirkt, entpuppt sich bald als ein komplexes Netz aus Machtspielen und moralischen Dilemmata. Gaea Schoeters nutzt die Jagd als symbolisches und reales Setting, um die Beziehungen zwischen den Figuren, aber auch die postkolonialen Spannungen zwischen Europa und Afrika zu beleuchten.

Schoeters zeigt die tief verwurzelten eurozentrischen Vorstellungen auf, die unser Bild von Afrika immer noch prägen. Afrika wird in der westlichen Wahrnehmung oft entweder als romantisierte Wildnis oder als Ort der Not und Unterentwicklung dargestellt – beide Bilder verfehlen jedoch die Realität und entmündigen die Menschen vor Ort. Schoeters setzt sich entschieden gegen diese Klischees zur Wehr: Ihre Schilderungen der afrikanischen Landschaft und ihrer Bewohner sind von einer Klarheit und Authentizität, die weder idealisiert noch herabwürdigend wirken. Anders ist dies in den Gedanken Hunters: "... in einem Land wie diesem, wo die Anzahl der Schulterstreifen an der Uniform den Grad der Korruption kennzeichnet" sinniert er etwa. Und so betrügt er sich selbst, indem er wider besseres Wissen an die Trophäenjagd als funktionierende Form des Artenschutzes glaubt, statt darin ein perverses Reiche-Leute-Hobby zu sehen. Selbst dann noch, als die Jagd auf Menschen erweitert wird.

Die Dynamik zwischen den europäischen Jägern und den einheimischen Beteiligten ist ein zentraler Teil des Romans. Schoeters beschreibt subtil, wie tief die kolonialen Machtverhältnisse auch Jahrzehnte später noch in den Beziehungen zwischen den Kontinenten nachwirken. Die Europäer und US-Amerikaner kommen nach Afrika, um sich selbst zu beweisen – sei es durch die Jagd oder durch das Erleben von "Ursprünglichkeit", die ihnen in ihrer eigenen Welt verloren gegangen ist. Doch sie begegnen den Einheimischen oft nicht auf Augenhöhe, sondern betrachten sie mit exotisierenden oder herablassenden Blicken.

Was Trophäe so besonders macht, ist jedoch, dass Schoeters keine Klischees bedient. Ihre afrikanischen Figuren sind keine Stereotype, sondern werden mit ebenso viel Sorgfalt und Tiefe gezeichnet wie die europäischen Protagonisten. Sie sind komplexe Charaktere mit eigenen Motivationen, Gedanken und Widersprüchen, die den Leser dazu zwingen, Vorurteile zu hinterfragen.

Schoeters zeichnet alle ihre Figuren – Europäer wie Afrikaner – mit einer Genauigkeit und psychologischen Tiefe, die beeindruckt. Die Figuren sind weder reine Helden noch einfache Antagonisten. Ihre Ambivalenzen machen sie lebendig und glaubwürdig. Besonders stark ist, wie die Autorin die Machtstrukturen innerhalb der Gruppe der Jäger selbst aufzeigt: Es geht um Dominanz, Egos und die ständige Suche nach Rechtfertigung für ihre Taten, sei es in der Jagd oder im Umgang mit den Menschen vor Ort. Die inneren Konflikte der Figuren und die scharfen Dialoge schaffen eine Spannung, die den Leser bis zur letzten Seite in Atem hält. Gleichzeitig verweigert Schoeters einfache Antworten oder Urteile, sondern fordert den Leser auf, sich selbst ein Bild zu machen – eine Seltenheit in der heutigen Literatur.

Trophäe ist ein außergewöhnlicher Roman, der nicht nur durch seine literarische Qualität, sondern auch durch seinen moralischen und politischen Anspruch besticht. Gaea Schoeters dekonstruiert in ihrem Werk nicht nur den eurozentrischen Blick auf Afrika, sondern legt auch die Machtstrukturen und Privilegien offen, die diesen Blick prägen. Ihre Figuren sind keine eindimensionalen Stereotype, sondern komplexe Charaktere,. Es ist ein Roman, der sowohl verstört als auch inspiriert – eine Geschichte, die lange nachklingt. Trophäe ist ein literarisches Meisterwerk, das Mut beweist und genau deshalb so bedeutsam ist. Wer Literatur sucht, die an den Kern menschlicher Abgründe geht und dabei große Fragen aufwirft, wird in diesem Buch eine unvergleichliche Leseerfahrung finden.

Bewertung vom 23.12.2024
Die Tage des Wals
O'Connor, Elizabeth

Die Tage des Wals


sehr gut

Elizabeth O’Connors Debütroman "Die Tage des Wals" entführt in die karge und raue Welt einer (fiktiven) abgelegenen walisischen Insel Ende der 1930er Jahre. Der Roman besticht nicht nur durch seine präzise Schilderung von Natur und sozialer Realität, sondern auch durch die subtile Art, wie die Autorin tiefgründige Themen wie soziale Ungleichheit, Machtverhältnisse und Selbstfindung behandelt.

Im Zentrum der Geschichte steht die 18-jährige Halbwaise Manod, deren Leben eintönig und von Entbehrungen geprägt ist. Sie kümmert sich um ihre jüngere Schwester und führt den Haushalt, während ihr Vater als Fischer mehr schlecht als recht für das Überleben der kleinen Familie sorgt. Manods einziger Lichtblick ist ihr Traum, eines Tages das Inselleben hinter sich zu lassen und Lehrerin auf dem Festland zu werden.

Die Ereignisse nehmen eine unerwartete Wendung, als ein Wal auf der Insel strandet und zwei Forscher aus Oxford, Edward und Joan, eintreffen. Sie engagieren Manod als Übersetzerin und Assistentin für ihre wissenschaftlichen Studien. Was zunächst wie ein Abenteuer erscheint, wird für Manod zur Falle. In einer leidenschaftlichen Affäre mit Edward glaubt sie, eine neue Perspektive für ihr Leben zu finden. Doch je mehr Zeit sie mit den Forschern verbringt, desto deutlicher wird, dass sie von ihnen manipuliert wird.

Die Wissenschaftler, die eine Publikation über das Inselleben planen, interessieren sich nicht für die ungeschönte Wahrheit. Stattdessen stellen sie das Leben der Insulaner romantisiert dar und bedienen sich an Manods Wissen und Arbeit, ohne ihre Leistungen anzuerkennen. Die junge Frau realisiert schließlich, dass sie für die Zwecke der Forscher lediglich ausgebeutet wird.

O’Connor gelingt es, die soziale Kluft zwischen den armen Insulanern und den wohlhabenden Engländern darzustellen. Die Forscher Edward und Joan fühlen sich den Inselbewohnern intellektuell überlegen. Manods hohe Bildung überrascht sie, während sie zugleich herablassend darauf hinweisen, dass die meisten anderen Insulaner nur Walisisch sprechen. Diese subtilen Nuancen zeigen, wie tief verwurzelt die sozialen und kulturellen Unterschiede sind. Besonders beeindruckend ist die anschauliche und atmosphärische Beschreibung der Inselwelt. O’Connor schildert die peitschenden Wellen, den eisigen Wind und den allgegenwärtigen Geruch nach Fisch und Meer so lebendig, dass man sich beim Lesen fühlt, als sei man selbst auf der Insel gestrandet.

Manods Entwicklung steht im Mittelpunkt der Geschichte. Ihre anfängliche Bewunderung für das Forscherpaar weicht einer bitteren Erkenntnis über deren wahre Absichten. O’Connor zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie Machtmissbrauch und soziale Ungleichheit das Leben eines Menschen bestimmen können.

Dieses schmale Büchlein behandelt große Themen wie soziale Ungerechtigkeit, Macht und persönliche Freiheit mit einer vielversprechenden Erzählkunst. Elizabeth O’Connor hat ein Debüt vorgelegt, das gleichzeitig bewegend und aufwühlend ist. Manods Schicksal hat mich berührt und nachdenklich gemacht. Es bleibt zu hoffen, dass Elizabeth O’Connor diese vielversprechende literarische Linie in zukünftigen Werken fortsetzt.

Bewertung vom 23.12.2024
Long Island
Tóibín, Colm

Long Island


ausgezeichnet

Der vielfach preisgekrönte Colm Tóibín ist ein Meister des Geschichtenerzählens, und "Long Island" beweist einmal mehr, warum er zu den größten Schriftstellern unserer Zeit gehört. Der irische Autor versteht es wie kaum ein anderer, die feinen Zwischentöne menschlicher Gefühle einzufangen und sie mit einer erzählerischen Klarheit und Eleganz in Worte zu fassen, die ihresgleichen sucht.

Der Roman spielt auf Long Island und im kleinen irischen Dorf Enniscorthy, wo verschiedene Lebenswege sich berühren und kollidieren. Im Mittelpunkt steht Eilis, die sich weigert, das Baby aufzuziehen, das aus einem Seitensprung ihres Mannes entstanden ist, und das dessen italienische Großfamilie nur zu gerne mit offenen Armen empfangen möchte. Eilis entzieht sich der Situation, indem sie zurück in ihre Heimat Irland geht, wo sie auf ihre Jugendliebe Jim trifft, der sich Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft macht.

Die Figuren kämpfen mit Verlust, Liebe, den unvorhersehbaren Wendungen des Lebens und der Frage danach, wie frei bestimmt man ein Leben gestalten kann. Tóibín zeigt, wie Begegnungen und Beziehungen das Leben prägen können – auf schmerzhafte wie heilende Weise. Mit unglaublichem Feingefühl zeichnet Tóibín Charaktere, die durch ihre Fehler und Schwächen ebenso glaubwürdig wirken wie durch ihre Hoffnungen und Träume. Selbst dann, wenn man ihre Entscheidungen nicht gutheißen kann, versteht man sie. Das ist eine Kunst, die nur wenige beherrschen: Figuren zu schaffen, die so authentisch sind, dass man mit ihnen mitfühlt, mitfiebert und ihre Beweggründe nachvollzieht.

Tóibín lotet in diesem Roman die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen aus. Er zeigt, wie der Verlauf eines Lebens von Zufällen, Entscheidungen und unerwarteten Wendungen geprägt wird, und wie diese Umwege oder Abwege die Lebenslinie und das Wesen eines Menschen formen können. Dabei verzichtet er jedoch auf ein wertendes Urteil. Stattdessen begegnet er seinen Figuren mit einer bemerkenswerten Empathie, die die Leser*innen einlädt, dieselbe Großzügigkeit walten zu lassen. Die Schicksale in "Long Island" sind oft von Bitterkeit geprägt – Verluste, zerbrochene Beziehungen, enttäuschte Erwartungen –, aber der Autor erzählt davon mit einer bemerkenswerten Sanftheit und Ruhe. Seine Prosa wirkt nie verbittert oder zynisch, sondern strahlt eine stille Weisheit und Gelassenheit aus, die mir das Gefühl gibt, dass auch aus den dunkelsten Momenten Trost und Erkenntnis erwachsen können.

Besonders beeindruckend ist, wie Tóibín es schafft, die Lebenswege seiner Figuren so intensiv und nahbar zu gestalten, dass man beim Lesen das Gefühl hat, sie persönlich zu kennen. Ihre Kämpfe, ihre Zweifel und ihre leisen Triumphe begleiten einen noch lange nach der letzten Seite. Es ist ein Privileg, sie auf ihrem Weg zu begleiten – ein Weg, der nicht immer leicht ist, aber immer bedeutsam.

Fazit: Mit Long Island legt Colm Tóibín einen Roman vor, der die Tiefe und Komplexität des Lebens in einer Weise einfängt, die tief berührt und nachhaltig beeindruckt. Es ist eine Geschichte, die sich nicht nur im Kopf, sondern auch im Herzen verankert. Tóibíns Talent, selbst die tragischten Schicksale ohne Verbitterung und mit einem tiefen Verständnis zu erzählen, macht diesen Roman zu einem literarischen Erlebnis. Ich habe die Figuren liebgewonnen und hoffe, dass Tóibín ihre Geschichte in einem weiteren Roman fortführt.