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Ich bin freier Journalist und Buchblogger auf vielen Websites. Neben meiner Facebook-Gruppe "Bad Kissinger Bücherkabinett" (seit 2013) und meinem Facebook-Blog "Buchbesprechung" (seit 2018) habe ich eine wöchentliche Rubrik "Lesetipps" in der regionalen Saale-Zeitung (Auflage 12.000).

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Insgesamt 368 Bewertungen
Bewertung vom 19.06.2024
Mord stand nicht im Drehbuch
Horowitz, Anthony

Mord stand nicht im Drehbuch


sehr gut

REZENSION - „Alex-Rider-Autor unter Mordverdacht verhaftet!“ Was als Schlagzeile in den realen Medien international für Aufregung sorgen würde, ist zum Glück nur eine Zeile im neuen Krimi „Mord stand nicht im Drehbuch“ des britischen Schriftstellers und Drehbuch-Autors Anthony Horowitz (69), dem im Mai vom Insel Verlag veröffentlichten vierten Band seiner Romanreihe um Privatdetektiv Daniel Hawthorne. Zugleich zeigt aber diese Schlagzeile das Ungewöhnliche und vor allem Absurde dieser erfolgreichen Serie voll britischen Humors, in der sich der in realer Welt tatsächlich durch seine Alex-Rider-Jugendbücher in Deutschland bekannt gewordene Autor mit echtem Namen selbst zu einem seiner Protagonisten macht und im Laufe der fiktiven Romanhandlung immer wieder konkrete Anspielungen auf seine bisherigen Veröffentlichungen einfügt – ob es nun die Jugendbücher um Alex Rider sind, seine eigenen Sherlock-Holmes-Romane oder seine Drehbücher zur TV-Serie „Inspector Barnaby“.
In den bisherigen drei Bänden war der Kriminalschriftsteller Horowitz – oder doch eher sein Alter Ego – vom geltungsbedürftigen Privatdetektiv Hawthorne als Autor verpflichtet worden, wenn auch Zu Horowitz' Enttäuschung nur als „zweite Wahl“. Hawthorne, der einst aus dem Polizeidienst geworfen worden war und seinen Lebensunterhalt jetzt als Privatermittler verdient, leidet unter dem Minderwertigkeitskomplex, in den Augen der Öffentlichkeit leider nur „der zweitbeste Detektiv Englands nach Sherlock Holmes“ zu sein. Horowitz' Aufgabe ist es deshalb, – wie Doktor Watson bei Holmes – Hawthornes Ermittlungserfolge in Romanform als Heldentaten der Nachwelt zu verkünden.
Doch nach drei Romanen ist es Horowitz leid, immer nur hinter Hawthorne herzulaufen, ohne von diesem in die Ermittlungen selbst eingebunden zu werden, dafür aber statt seiner die Prügel einstecken und ins Krankenhaus kommen zu müssen. „Tut mir leid, Hawthorne. Aber die Antwort ist nein“, erklärt deshalb der frustrierte Autor in aller Entschiedenheit die Zusammenarbeit mit Hawthorne für beendet. Einen vierten Roman soll es nicht mehr geben, zumal Horowitz gerade mit der Vorbereitung zur Londoner Premiere seines Theaterstücks „Mindgame“ beschäftigt ist [Anmerkung: „Mindgame“ von Anthony Horowitz hatte tatsächlich im Jahr 2000 seine Premiere in London].
Doch natürlich – wir Leser wissen es besser, halten wir doch den vierten Band gerade in der Hand – kommt es anders. Am Morgen nach der Premiere wird die von allen gefürchtete Theaterkritikerin der Sunday Times, die noch am selben Abend die Aufführung und vor allem das Stück selbst total verrissen hatte, in ihrem Haus ermordet aufgefunden – erstochen mit jenem Dolch, den Horowitz gerade am Premierenabend vom Produzenten als Geschenk erhalten hatte. Statt wie in den drei ersten Bänden mit Hawthorne gemeinsam auf Verbrecherjagd zu gehen, wird in diesem vierten Band Horowitz selbst als Mörder verdächtigt und kommt in Untersuchungshaft. Jetzt kann ihm nur noch einer helfen – Daniel Hawthorne!
„Mord stand nicht im Drehbuch“ überrascht also durch den Perspektivwechsel, indem der bisherige „Assistent“ des Detektivs diesmal selbst zum vermeintlichen Mörder wird. Doch ansonsten behält Anthony Horowitz das Erfolgsrezept seiner Krimireihe bei – die ständige Verflechtung von Realität und Fiktion, gewürzt mit jenem hintergründigen Humor, den man speziell den Engländern nachsagt, und angereichert mit einer gehörigen Prise Selbstironie. Jedenfalls ist das Argument Hawthornes zur Verteidigung Horowitz' nicht gerade als Kompliment zu verstehen: „Wenn er alle Kritiker umbringen würde, die was Schlechtes über seine Arbeit sagen, wäre England mit Leichen gepflastert.“
Trotz aller literarischer „Spielereien“ – nicht nur auf seine anderen Werke nimmt Horowitz im neuen Krimi wieder Bezug, sondern auch seine reale Familie bindet er ein – und trotz allen Humors und aller Ironie, ist es dem Autor auch in seinem neuen Hawthorne-Krimi gelungen, durch mehrere Handlungshöhepunkte und überraschende Wendungen die Spannung nicht zu kurz kommen zu lassen.
„Mord stand nicht im Drehbuch“ ist ein gut erzählter, überaus unterhaltsamer, konzeptionell ungewöhnlicher, aber doch wiederum klassischer britischer Krimi, erinnert er doch in seiner Machart stark an die Romane Agatha Christies. Wen wundert es also, dass sich Detektiv Hawthorne abschließend den Spaß erlaubt, alle Verdächtigen auf der Bühne des Theaters zu versammeln und den tatsächlichen Mörder zu entlarven. Horowitz muss nun aus Dankbarkeit doch weiter über die Heldentaten von Daniel Hawthorne schreiben. Wir dürfen uns deshalb auf den fünften Band freuen, der in Großbritannien als „Close to Death“ für September bereits angekündigt ist.

Bewertung vom 19.06.2024
Bretonische Sehnsucht / Kommissar Dupin Bd.13
Bannalec, Jean-Luc

Bretonische Sehnsucht / Kommissar Dupin Bd.13


sehr gut

REZENSION – Nicht vielen Serienschreibern gelingt es, ihre Leser mit jedem Buch aufs Neue zu überraschen. Kennt man die ersten, meint man, alle zu kennen. Ganz anders ist dies beim Schriftsteller Jörg Bong (58), der uns unter französischem Pseudonym Jean-Luc Bannalec seit 2012 in seinen im Jahresrhythmus erscheinenden, spannenden und zugleich amüsanten Romanen nicht nur seinen Commissaire Georges Dupin immer wieder neue Mordfälle aufklären lässt, sondern – und dies ist bei dieser Krimireihe viel interessanter – zugleich uns Lesern jedesmal aufs Neue an wechselnden Orten der Bretagne unter jeweils wechselnden Aspekten in die oft mystisch anmutende Kultur und Geschichte der Region, deren urwüchsige Landschaft und Natur und auch – wie sollte es in Frankreich anders sein – in die schmackhaften Geheimnisse der meist von Meeresfrüchten bestimmten bretonischen Küche einführt.
Muss der einst aus Paris in das Provinzstädtchen Concarneau südöstlich von Quimper im Département Finistère ans „Ende der Welt“ (finis terrae) strafversetzte Kommissar nun schon seit Jahren ermitteln, wird Dupin in dem kürzlich beim Verlag Kiepenheuer & Witsch veröffentlichten 13. Band dieser in der ihr eigenen Faszination nicht nachlassenden Krimireihe vom ständig nervenden Präfekten Locmariaquer sogar noch weiter an den äußersten Rand im Westen der Bretagne geschickt – auf die nur 16 Quadratkilometer kleine Insel Oeussant, auf dem nicht einmal 900 Menschen fern vom Festland als eingeschworene Gemeinschaft leben. Dort wurde ein Musiker an den Strand gespült, der sich zeitlebens mit dem keltischen Ursprung bretonischen Liedguts auf Ouessant befasst hat. War dies Unglücksfall oder doch Mord? Unterstützt von den Inspektoren Riwall und Kadeg macht sich Dupin eher widerwillig an die Arbeit. Denn diese Insel gleicht einer „Anderwelt“. Sie ist „ein entlegener, karger kleiner Granitfelsen im Atlantik, umgeben von Meerjungfrauen, Robben, Delfinen, Orcas, liebenden Leuchttürmen, den Elementen ausgeliefert, … auf dem Dunkles vor sich ging in diesen Tagen.“ Dort bestimmen noch Sirenen und Meerjungfrauen, keltische Druidinnen und Geschichten-Erzählerinnen das tägliche Leben und Denken. „Über Tausende Jahre fest verwurzelte keltisch-druidische Vorstellungen, Legenden, Zeremonien, Traditionen waren von den christlichen Missonaren im fünften, sechsten, siebten Jahrhundert übernommen und christlich umgedeutet worden. Sie waren zu mächtig gewesen, um sie abzuschaffen. Es hätte Revolten gegeben.“ Es ist ein Ort voller Mystik und Magie, der so gar nicht in die Welt des nüchtern analysierenden Kommissars passt.
Auf Ouessant kommt es nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare an, wird Dupin ausdrücklich gewarnt. Doch dann tauchen nacheinander zwei weitere Tote an der Steilküste auf, bei denen der Arzt wieder nur Tod durch Ertrinken feststellt. Drei Unglücksfälle an zwei Tagen? Dupin steht vor einem Rätsel. Er beginnt mit der Ermittlung in einem keltischen Steinkreis, von dem Inspektor Riwall weiß: „Die Stätte ist rund siebentausend Jahre alt. Der älteste Steinkreis, den wir in Europa kennen, und der einzige, der dem Mond gewidmet ist und nicht der Sonne. … Der Kreis hier ist älter als der von Stonehenge.“
Es sind weniger die Mordfälle, die Bannalecs Krimis so interessant und einzigartig machen, sondern seine sehr plastische Schilderung der auf die Kelten zurückreichenden Geschichte, die bis heute in Legenden und im Brauchtum der Bretagne fortlebt. Deren Erzählung lässt Bannalecs neuen Krimi „Bretonische Sehnsucht“ fast zum Fantasy-Roman werden. Doch zum Glück holt der Autor, dem 2016 von der Region Bretagne der Titel »Mécène de Bretagne« (Schutzpatron der Bretagne) verliehen wurde, uns Leser mit seiner begeisternden Beschreibung der urwüchsigen Naturlandschaft auf Ouessant immer wieder aus dieser keltischen Fantasiewelt zurück auf den felsigen Boden der kargen Insel. Vielleicht mag mancher Leser urteilen, dass Bannalec in seinem neuen Band „Bretonische Sehnsucht“ den Kriminalfall etwas hat schleifen lassen, so dass es doch gelegentlich an Spannung mangelt. Aber die „Sehnsucht“, in diese faszinierende Region Frankreichs möglichst bald reisen zu wollen, wird er wie mit den international erfolgreichen zwölf bereits verfilmten Bänden bei seinen Lesern auch mit seinem 13. Band wieder aufs Neue entfachen.

Bewertung vom 18.06.2024
Der Friedhofswärter
Rash, Ron

Der Friedhofswärter


ausgezeichnet

REZENSION – In seiner Heimat USA ist der bereits vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Ron Rash (70) durch seine seit 25 Jahren veröffentlichten Romane und Erzählungen längst als erfolgreicher Autor bekannt. Zweimal war er schon Finalist für den höchst angesehenen PEN/Faulkner Award, zu dessen Preisträgern weltbekannte Autoren wie T. C. Boyle, Philip Roth, Richard Ford und John Updike gehören. Doch im deutschsprachigen Raum kennt man ihn noch nicht. Dies wird sich dank seines neuen Romans „Der Friedhofswärter“ jetzt hoffentlich ändern, der in deutscher Übersetzung im Mai beim Verlag ars videndi erschien. Darin geht es um wahre und falsch verstandene Liebe, um Verrat, um Angst vor Gesichtsverlust und um Machtmissbrauch in dichter Kleinstadt-Atmosphäre.
Daniel und Cora Hampton sind zu Beginn der 1950er Jahre als Eigentümer des örtlichen Sägewerks und Ladengeschäfts die wichtigsten Arbeitgeber in Blowing Rock, einem Provinznest in den Apalachen. Nach dem Weltkrieg haben sie vielen Männern Arbeit gegeben und ihnen mit Krediten ausgeholfen. Heute gehören sie zu den Honoratioren des Ortes. Viele Bewohner sind von ihnen finanziell oder moralisch abhängig.
Nach dem frühen Tod ihrer beiden Töchter wurde ihnen unerwartet doch noch Sohn Jacob geboren, auf den sich nun die Liebe der Eltern übermächtig konzentriert. Sie tun alles für ihn, sie planen sein Leben und hatten sogar schon eine Braut für ihn ausgesucht. Doch Jacob hatte andere Pläne: Er heiratete kürzlich die erst 16-jährige Naomi, ein Zimmermädchen aus einfachsten Verhältnissen, und ist mit ihr durchgebrannt, woraufhin die Eltern ihn enterbten. Ausgerechnet als Naomi ihr Kind erwartet, wird Jacob nun als Soldat in den Korea-Krieg einberufen und wenige Wochen später schwer verwundet. Ein entsprechendes Telegramm wird nicht an Naomi weitergeleitet, sondern an Jacobs Eltern. Die Mutter ersinnt gemeinsam mit ihrem Mann einen hinterhältigen Plan, um ihren „verlorenen“ Sohn wieder an sich binden zu können. Jacobs junger Freund Blackburn Gant, der seit der Kindheit durch eine Poliokrankheit entstellt ist, hat sich als Friedhofswärter an den Ortsrand zurückgezogen. Ihn hatte Jacob gebeten, für Naomi während der Schwangerschaft zu sorgen, während er selbst in Korea ist. Blackburn steht nun zwischen seinen Freunden und Jacobs Eltern, die den Unwissenden für ihren perfiden Plan unbemerkt missbrauchen.
Doch so perfekt der Plan der Hampton-Eltern auch ausgedacht sein mag: „So viele Lügen, so viele Stolpersteine, jederzeit droht ihr egozentrischer Plan aufzufliegen.“ Immer wieder entschuldigt Mutter Cora sich selbst und ihren Ehemann für ihrer beider selbstsüchtiges Handeln, das Jacobs frei gewähltes Leben mit Naomi zu zerstören droht: „Die Welt ist uns etwas schuldig.“ Doch dann kommt es, wie es kommen muss. „Die Wetterfahne [auf dem Kirchturm] drehte sich“, heißt es im Roman. Es geschieht etwas, was auch Cora Hampton nicht voraussehen konnte. „Jetzt hatte die Mauer Risse, durch die die Wahrheit hindurchsickern konnte.“
„Der Friedhofswärter“ ist trotz seiner Dramatik ein recht leiser, überaus gefühlvoller Roman, der dennoch nicht Gefahr läuft, ins Kitschige abzugleiten. Zwar baut sich die Spannung nur sehr langsam auf, doch die Lektüre wird nie langweilig. Wir lernen die einzelnen Charaktere ih ihrer jeweiligen Gefühls- und Gedankenwelt kennen. Der Autor urteilt nicht und unterteilt nicht in gute und schlechte Menschen. Jeder hat oder empfindet für sein individuelles Handeln gute Gründe. Die in ihrer Verzweiflung missverstandene Liebe der Eltern zu ihrem über alle Maßen geliebten Sohn wird ebenso verständlich und nachvollziehbar wie die wahre Liebe des jungen Paares zueinander. Doch der eigentliche Held dieser tragischen Geschichte ist der trotz seines Schicksals und erlittener Kränkungen gutherzige Blackburn Gant, den wir durch den Roman begleiten, in seiner unermesslichen Freundschaft zu Jacob.
Autor Ron Rash zeigt in seinen Protagonisten die unterschiedlichen Varianten von Liebe, die missbräuchlich in Verrat ausarten kann. Sein neues Buch ist zwar ein sprachlich leicht lesbarer, in seiner psychologischen Tiefe aber umso nachhaltigerer Roman, der zu weiterem Nachdenken anregt. Jetzt ist zu hoffen, dass „Der Friedhofswärter“ nicht das einzige Buch des amerikanischen Schriftstellers in deutscher Übersetzung bleibt.

Bewertung vom 10.06.2024
Nebel
Fourier, Stefan

Nebel


sehr gut

REZENSION – Wie man aus Schicksalsschlägen lernen kann, sich nicht selbst aufzugeben, nicht zu verzweifeln, hat der in der DDR aufgewachsene promovierte Pysiker Stefan Fourier (75) am eigenen Leib erfahren. Nach seiner Flucht im Jahr 1987 sah er sich gezwungen, im Westen noch einmal ganz von vorn anfangen und sich ein neues Leben aufzubauen. Anfangs arbeitete er als Manager und Unternehmensberater und veröffentlichte entsprechende Sachbücher. Inzwischen ist er als Essayist, Aphoristiker und Romancier tätig, schreibt Fabeln und Kurzgeschichten, „in denen ich Gefühle und Gedanken ausdrücke“ und widmet sich „besonders Themen, die Menschen in ihrem Inneren umtreiben“. Dabei bewegt er sich gern „im Grenzbereich zwischen Fiktion und Wirklichkeit, weil sich das Leben nun mal genau zwischen den 'objektiven Realitäten' und unseren Wahrnehmungen davon abspielt“.
Eine solche Geschichte um „das Wissen über die Unwägbarkeiten des Lebens“ ist Fouriers neues, nur 88 Seiten starkes Büchlein im praktischen A6-Taschenformat, das sich auch als nachhaltiges Geschenk für Angehörige oder gute Freunde eignet: In „Nebel. Hinter der Angst ist das Leben“, im Juni erschienen beim Verlag tredition, berichtet der Ich-Erzähler von seinem schweren Unfall, der ihm von einem Moment auf den anderen jegliche Hoffnung auf ein berufliches und gesellschaftliches Fortkommen nahm. Nur kurz zuvor schwärmte er noch: „Meine Zukunft in der Firma schillert in verlockenden Farben. Demnächst werde ich Partner, denn mein Projekt in Dubai läuft fantastisch. Irgendwann wird der nächste Schritt kommen, in die Geschäftsführung. Ich will nach oben, an die Spitze.“
Doch da geschieht der Auto-Unfall. Thorax-Quetschungen sind die Folge, mehrere komplizierte Frakturen der Beine – es besteht sogar Gefahr, die Beine zu verlieren – und starke Blutungen. Ist jetzt alles aus? Was wird aus den Zukunftsplänen des Erzählers, aus seinem Projekt in Dubai und seinem Fortkommen in Dubai? Ein ambitionierten Kollege wartet doch nur darauf, das lukrative Projekt zu übernehmen. Existenzangst macht sich im Erzähler breit. War's das also? Gibt es für ihn noch eine Zukunft? Oder ist er schon Teil der Vergangenheit?
Wie gehen wir mit unseren Ängsten um, die aus der Ungewissheit auf uns eindringen? In seiner kurzen Erzählung lässt Stefan Fourier seinen Protagonisten und damit uns Leser über die Abhängigkeiten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nachdenken. Wo beginnt unsere Zukunft? Können wir sie selbst aktiv beeinflussen und gestalten? Fourier macht sich in der Person seines Ich-Erzählers Gedanken über die oft unerwarteten Wendungen des Schicksals, über unsere Ängste und den Umgang mit ihnen. Selbstaufgabe ist der falsche Weg! Schmerz und Leid muss man auszuhalten lernen, denn – wie die Ärztin am Krankenbett des Erzählers sagt – „wo Schmerz ist, da ist Leben.“
Probleme müssen gelöst, Ängste überwunden werden. Denn erst „wenn die Angst schwindet und sich der Nebel lichtet, gelingt der Blick auf das Leben“. Auch wenn der Nebel sich noch nicht völlig aufgelöst hat, lohnt es sich, Schritt für Schritt einen vielleicht noch unsicheren, weil unbekannten Weg in eine andere, eine neue Zukunft zu wagen. Man darf keine Angst vor einem falschen Schritt haben, meint Fourier: „Das Leben zu meistern, heißt nicht immer alles richtig zu machen oder immer Erfolg zu haben“, schreibt er im Epilog seines Büchleins. Wichtiger ist, „das Leben auszuhalten, und in dem Moment, in dem die Zukunft in der Gegenwart erscheint, das zu tun, was man für richtig hält. Und dabei frohen Mutes zu sein.“ Es gilt nach Meinung des Autors also, aus dem „Wissen über die Unwägbarkeiten des Lebens Mut und Zuversicht zu schöpfen. Stefan Fouriers kurze Erzählung „Nebel. Hinter der Angst ist das Leben“ ist eine sinnstiftende Lektüre für eine ruhige Stunde der Besinnung.

Bewertung vom 09.06.2024
Treibgut
Brodeur, Adrienne

Treibgut


ausgezeichnet

REZENSION – Eigentlich geschieht gar nicht so viel in „Treibgut“, dem im April vom Kindler Verlag veröffentlichten Roman von Adrienne Brodeur. Den Handlungsrahmen bilden die Vorbereitungen zur großen Party anlässlich des 70. Geburtstags des Meeresbiologen Adam Gardner. Reicht dies für einen 460-Seiten-Roman? Und ob! Denn nicht die Handlung steht bei der amerikanischen Autorin im Vordergrund ihres Romans, sondern das überaus komplizierte Beziehungsgeflecht innerhalb der gutsituierten, in der Öffentlichkeit als musterhaft erscheinenden Vorzeigefamilie mit Vater Adam und den erwachsenen Kindern Ken und Abby. Der Autorin gelingt es auf faszinierende Weise, das in der familiären Abhängigkeit überaus schwierige Miteinander ebenso wie Gegeneinander unterschiedlicher Charaktere psychologisch tiefgründig und sprachlich eindringlich zu schildern, dass gerade dieser hintergründige Kleinkrieg für Spannung sorgt und beim Lesen einen Sog erzeugt, dass man das Buch kaum aus der Hand legen mag.
Im kapitelweisen Wechsel lernen wir jeweils für sich die Protagonisten immer näher und besser kennen: Adam Gardner blickt voller Sorge und zunehmender Verunsicherung auf seinen bevorstehenden Geburtstag: „Vielleicht war siebzig nicht das Ende der Welt, aber doch ein schwindelerregender Meilenstein, ein Riesenschritt auf den Abgrund der Sterblichkeit zu.“ Der einst erfolgreiche Meeresbiologe - „ein weiterer dummer Wisenschaftler mit Größenwahn, von seinem eigenen aufgeblasenen Ego zu Fall gebracht“ - mag sich nicht damit abfinden, dass er von jüngeren Wissenschaftlern aus seinem Büro gedrängt wird, und versucht, sich selbst zu trösten: „Er war ein Genie, dessen Aufgabe darin bestand, die endlosen Wunder der Tiefe zu erforschen. Er brauchte diesen schäbigen Arbeitsplatz nicht und erst recht nicht die damit verbundenen Scherereien.“ Ein letztes Mal will er sein Können beweisen und die Sprache der Wale entschlüsseln.
Sein Sohn Ken (41) ist erfolgreicher Immobilienunternehmer, Vater zweier pubertierender Zwillingstöchter, der in mentaler Stärke und unternehmerischem Erfolg seinem Vater nachzueifern versucht. Doch er steckt gerade in einer Ehekrise und leidet psychisch noch immer unter dem Verlust seiner Mutter, die einst bei der Geburt seiner Schwester Abby verstarb, als er erst drei Jahre alt war. Er hat „noch immer die Melodie der Stimme seiner Mutter beim abendlichen Vorlesen im Ohr“. Doch Schwäche darf er sich nicht eingestehen und schon gar nicht nach außen zeigen, bemüht er sich doch gerade um ein politisches Amt.
Seine unverheiratete Schwester Abby (38) ist Lehrerin und eine bislang noch unbekannte Künstlerin, die dank einer kommenden Reportage in einem Kunstmagazin kurz vor ihrem Durchbruch als Malerin steht. Sie ist im Grunde unselbstständig und vom Wohlwollen ihres Bruders abhängig, dem das von ihr genutzte Atelier gehört. „Immer noch lief sie auf Zehenspitzen um die Launen ihres Bruders herum wie ein rohes Ei. Und um die ihres Vaters auch.“ Doch ihre Schwangerschaft – sie erwartet ein Kind von ihrem verheirateten Jugendfreund David – ist Anlass zur Selbstbefreiung aus familiärer Abhängigkeit.
Dabei hilft ihr auch die etwa gleichaltrige Polizistin Steph, die sich als ihre Halbschwester zu erkennen gibt, Ergebnis eines Seitensprungs des gemeinsamen Vaters Adam. Das über Jahrzehnte sorgsam bewahrte Bild einer Musterfamilie beginnt langsam zu bröckeln. Lange gehütete Familiengeheimnisse dringen ans Licht. „Wir alle setzen manchmal Masken auf“, stellt Kens Psychiater fest. „Das nennt sich Selbstschutz. ... Man kann vergangenen Schmerz nicht überwinden, ohne ihn zu durchleben. Das nennt sich sonst Leugnen.“ Diese Masken beginnen zu fallen. Alles läuft unaufhaltsam auf eine familiäre Katastrophe zu. So wird „Treibgut“ vor allem in der zweiten Hälfte zu einem spannenden Familienroman und Beziehungsdrama, dessen Lektüre sich unbedingt lohnt.

Bewertung vom 12.05.2024
Joseph Süßkind Oppenheimer
Erdtmann, Raquel

Joseph Süßkind Oppenheimer


ausgezeichnet

REZENSION – Am 4. Februar 1738 wurde der erst 40-jährige jüdische Großkaufmann Joseph Süßkind Oppenheimer – in den Jahren ab 1732 als Hof- und Kriegsfaktor und ab 1736 als Geheimer Finanzrat des württembergischen Herzogs Carl Alexander tätig – unmittelbar nach des Herzogs überraschendem Tod aufgrund judenfeindlicher Anschuldigungen und Verleumdungen enteignet, angeklagt, nach Festungshaft elf Monate später hingerichtet und sein Leichnam sechs Jahre lang in einem hoch aufgehängtem Käfig zur Schau gestellt. Wir meinen, die Geschichte über diesen Justizmord zu kennen. Aber kennen wir sie tatsächlich? „Es ist nicht leicht, sich einer Person zu nähern, über die so viel geschrieben wurde, obwohl sich bislang nur eine Handvoll Leute tatsächlich mit den Prozessakten des Falles Oppenheimer beschäftigt hat“, schreibt Raquel Erdtmann im Nachwort zu ihrem im April beim Steidl Verlag veröffentlichten Buch „Joseph Süßkind Oppenheimer. Ein Justizmord“.
Tatsächlich waren die Prozessakten des Falles bis 1918 unter Verschluss. „Sehr groß war und ist das Interesse bis heute nicht“, schreibt Erdtmann Zwar hatte nur wenige Jahre später Lion Feuchtwanger diesen historischen Justizmord in seinem Roman „Jüd Süß“ bereits verarbeitet, während die Nazis für ihren antisemitischen Propaganda-Film wohl eher Wilhelm Hauffs Novelle „Jud Süß“ (1828) als Vorlage missbrauchten. Doch erst Anfang der 1990er Jahre hatte sich der Historiker Hellmuth G. Haasis (1942-2024) intensiv mit den Prozessakten und weiteren Originaldokumenten befasst und mehrere Bücher darüber veröffentlicht, so auch die Biografie „Joseph Süß Oppenheimer, genannt Jud Süß. Finanzier, Freidenker, Justizopfer“ (1998).
Inzwischen ist wieder eine Generation vergangen. „Es liegt in der Natur der Sache, dass sich jede Generation aus ihrem eigenen Blickwinkel und mit dem eigenen Gepäck der Geschichte nähert“, betont Erdtmann nun ausdrücklich im Nachwort. Als gelernte Journalistin hat sich die erfahrene Gerichtsreporterin für ihre historische Spurensuche durch acht Meter Archivbestand gearbeitet. Doch „eine gewisse Unschärfe bleibt“, sichert sich die Autorin vorsorglich ab: Auch die originalen Prozessakten vermitteln nur „ein gefärbtes, ganz und gar einseitiges Bild“, verfasst vom mehrheitlich aus Gegnern Oppenheimers zusammengesetzten Gericht.
Als Ergebnis ihrer Recherche schildert Erdtmann nun das überaus erfolgreiche Leben des ungewöhnlich intelligenten und selbstbewussten Joseph Süß Oppenheimer, der aus seiner geistigen und kaufmännischen Überlegenheit sich für Juden damaliger Epoche ungebührliche Freiheiten herausnimmt, die ihn sowohl bei den Juden, aber erst recht bei den Christen im kleinstaatlichen, bürgerlich strukturierten Württemberg hochmütig und arrogant wirken lassen. Vom katholischen Herzog gefördert, schafft sich der unangepasste Oppenheimer durch sein barockes Auftreten nicht nur bei im Ghetto lebenden Glaubensgenossen, sondern durch seine allzu modernen Staatsreformen auch im protestantischen Ständestaat nur Feinde und Neider, weshalb selbst seine Nutznießer vor Gericht später gegen ihn aussagen – auch um angesichts allgemeiner Rachegelüste bei den Repräsentanten der Stände ihre eigene Haut zu retten.
Erdtmann vermeidet literarische Interpretationsversuche, sondern hält sich strikt an Fakten und Original-Zitate, stellt manche einander gegenüber, um deren Aussage zu bestätigen oder Widersprüche aufzuzeigen. Interessant sind dabei nicht nur ihre Ergänzungen über das Leben der Juden und ihre gesellschaftliche Stellung im 18. Jahrhundert, sondern auch die Einschübe aus alttestamentarischen und jüdischen Schriften, als deren Kennerin sich Raquel Erdtmann schon 2014 mit ihrem Kinderbuch „Die Geschichte von Purim. Das Buch Esther“ erwiesen hat.
Das Buch „Joseph Süßkind Oppenheimer. Ein Justizmord“ ist eine Mischung aus historisch interessanter Biografie über Aufstieg und Fall eines überaus ungewöhnlichen Mannes, zugleich aber auch eine spannende Gerichtsreportage, durch die wir viel über das württembergische Justizsystem im 18. Jahrhundert erfahren. Raquel Erdtmann ist es auf nur 270 Seiten vorbildlich gelungen, die Vielzahl historischer Fakten und Zitate zwar sachlich korrekt, dennoch in einem lockeren, teilweise sogar schnoddrigem Ton zu einer auch für Nicht-Historiker leicht lesbaren und spannenden Lektüre werden zu lassen.

Bewertung vom 09.05.2024
Die Stunde des Elefanten
de Kat, Otto

Die Stunde des Elefanten


ausgezeichnet

REZENSION – Vor über 25 Jahren veröffentlichte der niederländische Journalist Jan Geurt Gaarlandt (77) seinen ersten Roman „Mann in der Ferne“ unter dem Pseudonym Otto de Kat, das er auch für alle folgenden Werke nutzte. Im Februar erschien nun sein Buch „Die Stunde des Elefanten“ beim Verlag Schöffling & Co, ein Roman über das dunkle Kapitel niederländischer Kolonialgeschichte, den „Völkermord unter der niederländischen Trikolore“. Darin stellt er mit Maxim van Oldenborgh und seinem Freund W. A. van Oorschot zwei ehemalige Leutnants der niederländisch-ostindischen Kolonialarmee gegenüber, die auf unterschiedliche Weise versuchen, ihren Einsatz kurz nach 1900 im Atjeh-Krieg gegen die Freiheitskämpferin Tjoet Nja Dinh (1848-1908) zu verarbeiten.
Maxim ist im Sommer 1909 bereits Bürgermeister der holländischen Nordsee-Insel Texel, verheiratet mit Roy und Vater von zwei kleinen Kindern. Dort besucht ihn für einige Tage sein Kriegskamerad W. A., mit dem er sich in der Kolonie während eines Lazarettaufenthalts angefreundet hatte. In den Gesprächen über ihre Dienstzeit wird deutlich, dass beide Kameraden die dort von verantwortungslosen Kommandeuren wie Oberst Frits van Daalen (1863 bis 1930) an Einheimischen verübten Gräuel entsprechend ihrem gegensätzlichen Charakter auch unterschiedlich verarbeiten oder dies zumindest versuchen. Während W. A. sich seine psychische Last von der Seele schreibt, indem er durch Vermittlung einflussreicher Gleichgesinnter noch während seiner Dienstzeit unter dem Pseudonym „Wekker“ in mehreren Zeitungsartikeln in den Niederlanden den willkürlichen Massenmord an Einheimischen und die Machenschaften verantwortlicher Kolonialherren anprangert, damit die Menschen in seiner Heimat „aufwecken“ will und tatsächlich für Unruhe im Parlament sorgt, hat sich Maxim mit seinen „vergrabenen“ Erinnerungen auf die kleine Insel zurückgezogen, schweigt über das Erlebte – selbst im Ungewissen, ob auch er an solchen Morden beteiligt war oder sich nur die Schuld anderer zu eigen macht. „War er vielleicht bei dem verbrecherischen Marsch durch die Gajo- und Alasländer dabei gewesen, auf denen Hunderte Frauen und Kinder erschossen worden waren, nur dass er das verdrängt hatte?“ Maxims Freund „Wekker“ ist es inzwischen gelungen, sich auch schöner Momente in der Kolonie zu erinnern, nicht aber ihm selbst, wie er sich eingesteht: „Wie schaffst du das, diese Erinnerungen intakt zu halten“, fragt Maxim seinen Freund, „ich krieg das nicht hin, bei mir sind sie fast immer düster, beschmutzt.“ Deshalb empfiehlt ihm sein Freund, unbedingt psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Doch trotz ihres soldatischen Einsatzes in der Kolonie und der von Landsleuten verübten Verbrechen fühlen sich beide Kameraden von diesem exotischen Land gepackt: „Ostindien ist vollkommen anders. Wir gehören da nicht hin, aber man muss nur einmal dort gewesen sein und schon ist man verloren.“ Maxim bleibt trotz dieser Sehnsucht auf seiner kleinen Insel, während W. A. als Direktor der Eisenbahngesellschaft nach Niederländisch-Ostindien zurückkehrt.
Dem Autor gelingt es mit seinem ähnlich einem Kammerspiel überwiegend auf nur zwei Personen beschränkten Roman auf packend eindringliche Weise, uns durch die Gegenüberstellung seiner charakterlich gegensätzlichen Protagonisten dieses düstere Kapitel niederländischer Kolonialgeschichte objektiv näherzubringen – wohlwissend, dass die Niederlande in jener Phase der Kolonialisierung keine Ausnahme waren: „Niederländer, Deutsche, Engländer und Franzosen – wo sie auftauchen, richten sie ein Blutbad an.“ Er schildert das politische Denken und Handeln jener Zeit und das Fehlen politischer Kontrolle über die Kolonie aufgrund der weiten Entfernung zum Indischen Ozean. Zugleich zeigt er aber auch die Faszination der Weite dieses exotischen Indonesiens damaliger Zeit auf einige junge Kolonisten, die aus ihrer in engen Grenzen lebenden und denkenden Heimat ausbrechen wollten: „Wie lächerlich das doch ist, sich trotzdem nach einem Feldlager in einer magischen Landschaft zu sehen, nach dem Ruf eines Elefanten, nach Urwald, der an den Berghängen emporwuchert.“ Otto de Kats Roman „Die Stunde des Elefanten“ ist eine ausgezeichnete und wichtige Erzählung, um die Kolonialzeit um 1900 – nicht nur die niederländische – und ihre Menschen etwas besser verstehen zu können.

Bewertung vom 04.05.2024
Der falsche Vermeer
van Odijk, Patrick

Der falsche Vermeer


sehr gut

REZENSION – Vom vielleicht größten Kunstskandal aller Zeiten handelt der im März beim Pendragon Verlag veröffentlichte Debütroman „Der falsche Vermeer“ des Journalisten Patrick van Odijk, der bereits im Vorjahr auf Holländisch erschien. Die Handlung basiert auf den historischen Fakten um den niederländischen Maler und Kunsthändler Han van Meegeren (1889 bis 1947). Im Mai 1945 hatten die Amerikaner unter den in einem Salzburger Bergstollen versteckten Kunstschätzen Hermann Görings das angeblich vom holländischen Barockmaler Jan Vermeer stammende, aber bislang unbekannte biblische Gemälde „Christus und die Ehebrecherin“ entdeckt, das Göring im Jahr 1942 nachweislich für 1,65 Millionen Gulden im Tausch gegen 200 zuvor von den Nazis in den Niederlanden geraubte Bilder erworben hatte. Als Händler wurde der bis dahin unbedeutende Maler Han van Meegeren ausgemacht, der nun wegen Kollaboration mit den Nazis in Haft kam. Dort sagte er aus, das angebliche Vermeer-Gemälde selbst gemalt zu haben. Zum Beweis schuf er in der Haft vor den Augen von Zeugen das Bild „Jesus unter den Schriftgelehrten“ im Stile Vermeers. Zudem bestätigten chemische Untersuchungen aller von Han van Meegeren als eigene Fälschungen benannten „Vermeer-Gemälde“, die in den Jahren zuvor, von namhaften Kunstexperten als echt bezeichnet, für viele Millionen Gulden an Museen und Privatsammler verkauft worden waren und den Fälscher zum Multimillionär gemacht hatten, die Richtigkeit seiner Aussage. Statt als bedeutender Maler anerkannt zu werden, was er sich zeitlebens gewünscht hatte, wurde Han van Meegeren nun kurz vor seinem Tod als genialster Kunstfälscher des 20. Jahrhunderts berühmt.
In Odijks Roman ist Jan van Aelst der talentierte Kunstfälscher, dem die junge Reporterin Meg van Hettema auf der Suche nach der „Story ihres Lebens“ gegenübersteht. Sie muss sich gegen missliebige Kollegen, zum entscheidenden Zeitpunkt sogar gegen ihren Mentor und Verleger durchsetzen, um den wahren Charakter des zwielichtigen Kunstfälschers und die Wahrheit um das Gemälde aufzudecken. Der Autor nutzt seinen Roman um diesen realen Kunstskandal bei enger Anlehnung an die historischen Fakten zur Schilderung der schwierigen politischen Situation unmittelbar nach Ende der deutschen Besatzung und den in der niederländischen Bevölkerung damals weit verbreiteten und von der Übergangsregierung nur schwer kontrollierbaren Hass auf tatsächliche oder auch nur vermeintliche Nazi-Kollaborateure. Gleichzeitig zeigt uns Odijk, wie politische und gesellschaftliche Stimmungen von Medien aufgegriffen und zur Steigerung der eigenen Auflage gelegentlich missbraucht und angefeuert werden, und wie schwierig es gelegentlich ist, an der Wahrheit festzuhalten, wenn sie doch niemand hören will. Nicht zuletzt gibt uns der Autor auch einen intensiven Einblick in die Welt der Malerei und den erbitterten Streit der zeitgenössischen Maler der Moderne mit den Anhängern des „Goldenen Zeitalters“ und macht uns mit den vielfältigen, wissenschaftlich fundierten Tricks talentierter Kunstfälscher vertraut.
Zu Beginn wirkt „Der falsche Vermeer“ noch etwas langatmig, stellenweise sogar oberflächlich, da die Reporterin anfangs allzu naiv dargestellt wird und auch später ihre Liebesaffäre mit dem kanadischen Sergeant doch viel Platz einnimmt. In der zweiten Hälfte des Buches nimmt die Handlung dann allerdings Fahrt auf: Wir erleben, wie die Volksmeinung wechseln kann: Erst ist Kunstfälscher Jan van Aelst ein gefeierter Held, der Obernazi Göring betrogen hat, dann ist er plötzlich ein verhassrter Kollaborateur, den man sofort ins Lager stecken, wenn nicht sogar hängen sollte. Besonders interessant wird der Roman schließlich durch die in allen Einzelheiten beschriebene, dennoch auch für Laien spannende Schilderung der sorgsamen Aufklärung des Fälscherskandals. So ist „Der falsche Vermeer“ ein durchaus gelungenes Debüt,historisch interessant – gewiss nicht nur für Freunde der Malerei – und insgesamt ein gut zu lesender, in der zweiten Hälfte auch spannender Unterhaltungsroman.

Bewertung vom 28.04.2024
Marseille 1940
Wittstock, Uwe

Marseille 1940


ausgezeichnet

REZENSION – Mit seinem nicht nur literaturhistorisch äußerst interessanten Sachbuch „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“ - im Februar beim Verlag C. H. Beck erschienen - hat Autor Uwe Wittstock das dramatische Kapitel deutscher Literaturgeschichte fortgeschrieben, das er zwei Jahre zuvor mit seinem Band „Februar 33. Der Winter der Literatur“ begonnen hatte. Mittels tragischer Einzelschicksale bekannter Schriftsteller wie Heinrich und Golo Mann, Franz Werfel, Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers, Walter Benjamin und anderer, die nach Machtergreifung der Nazis in Frankreich Zuflucht gesucht hatten, erzählt Wittstock nun in seinem neuen Band, wie diese nach Besetzung und der Kapitulation der Grande Nation unter schwierigsten Bedingungen in den Monaten zwischen Mai 1940 und Oktober 1941 versuchten, in das nicht von den Nazis besetzte Südfrankreich und schließlich nach Marseille, dem einzigen noch freien Hafen an der Atlantikküste, zu kommen, um von dort nach Übersee fliehen zu können. Vor allem aber würdigt Wittstock den selbstlosen Einsatz des jungen amerikanischen Journalisten Varian Fry (1907-1967), dem es nach Gründung eines von ihm in New York mit finanzieller Unterstützung wohlhabender Amerikaner initiierten „Emergency Rescue Committee“ gelang, in diesen 18 Monaten mit Hilfe seines in Marseille aufgebauten Rettungsnetzwerks „Centre Américain de Secours“ etwa 2 000 deutschsprachige Kulturschaffende zur Flucht aus Frankreich zu verhelfen.
Wittstock schildert, journalistisch anhand von Briefen und Tagebüchern, Erinnerungen, Autobiografien und Interviews recherchiert - zwar chronologisch geordnet, aber szenarisch wechselnd - den Mut mancher, aber auch die Selbstaufgabe anderer Exilanten wie im Falle des fast 70-jährigen Heinrich Mann. Dass Frys Wirken nicht immer Erfolg hat, zeigt der Suizid des verzweifelten Walter Benjamin. Andere entwickeln eine unbedingte Entschlossenheit zur Weiterflucht wie Anna Seghers, die sich über hunderte Kilometer zu Fuß auf den Weg macht.
Während über die Schicksale der Exilanten vieles bekannt ist, geriet der heldenhafte Einsatz des amerikanischen Fluchthelfers Varian Fry in Vergessenheit. Im Gegenteil: Schon während seines Einsatzes in Marseille bekam er zunehmend Schwierigkeiten mit dem New Yorker US-Hilfskommittee, das ihn 1940 nach Frankreich entsandt hatte. Man warf ihm seine Arbeit als illegaler Fluchthelfer vor, statt nur Geld und Lebensmittel an die Hilfsbedürftigen zu verteilen. Schließlich fordert man ihn sogar zur Rückkehr in die USA auf. „Fry ist empört. Angesichts der Situation in Marseille erscheinen ihm solche Anweisungen unzumutbar, zumal wenn sie von Leuten kommen, die in Amerika in warmen Wohnungen an reich gedeckten Tischen sitzen und keine persönlichen Risiken eingehen.“ An seine Frau schreibt er: „Dieser Job ist wie der Tod – unumkehrbar. Wir haben hier etwas begonnen, das wir nicht ohne Weiteres beenden können.“
Erst 1994 wurde ihm eine angemessene Ehrung als erster amerikanischer „Gerechter unter den Völkern“ in Israels Holocaust-Mahnmal Yad Vashem zuteil sowie 1998 als Ehrenbürger Israels. Im Epilog seines Buches „Marseille 1940“ wundert sich auch Wittstock über die bis heute anhaltende Missachtung dieses Fluchthelfers: „Überraschend ist, wie wenig Anerkennung Varian Fry und seine Leute in Deutschland gefunden haben, obwohl die deutsche Kulturgeschichte ihnen doch einiges zu verdanken hat.“ Nicht einmal die von ihm Geretteten schrieben mehr als ein paar Zeilen in ihren Autobiografien. Auch der Varian Fry gewidmete Essay "Der Engel von New York" der ins Pariser Exil verbannten Schriftstellerin Gabriele Tergit (1894-1982) wurde bislang nicht veröffentlicht.
Deshalb kann man den Band „Marseille 1940“ nun als angemessene Würdigung dieses „amerikanischen Schindlers“ ansehen. Aber nicht nur aus diesem Grund, sondern auch wegen Wittstocks lebendiger Schilderung der bewegenden Einzelschicksale, die nur stellvertretend für viele andere Exilanten stehen, ist dieser Band unbedingt lesenswert. „Marseille 1940“ ist zwar ein für Literaturkenner interessantes Sachbuch - und doch noch mehr: Es ist eine für jedermann leicht lesbare und spannend geschriebene Erzählung über ein vielleicht vielen noch unbekanntes düsteres Kapitel deutscher Geschichte.

Bewertung vom 22.04.2024
Die Entführung
Grisham, John

Die Entführung


gut

REZENSION – Wir erinnern uns: Nach seinem Romandebüt „Die Jury“ aus dem Jahr 1989 gelang dem amerikanischen Schriftsteller John Grisham (69) zwei Jahre später mit seinem Thriller „Die Firma“, erfolgreich verfilmt 1993 mit Tom Cruise, bereits der internationale Durchbruch und machte ihn zum Bestseller-Autor, so dass er noch im selben Jahr seinen Beruf als Rechtsanwalt aufgeben konnte. Fast im Jahresrhythmus veröffentlichte er daraufhin weitere Justizthriller, mit denen er eine Gesamtauflage von 275 Millionen Exemplaren erreichte, die in über 40 Sprachen übersetzt wurden. Im Februar erschien nun beim Heyne Verlag Grishams neuer Roman „Die Entführung“, der sowohl im englischsprachigen Markt als auch bei uns als „große Fortsetzung des Weltbestsellers »Die Firma«“ angekündigt wurde und 15 Jahre später spielt.
Der Rechtsanwalt Mitch McDeere, der seine damalige Anwaltsfirma - lediglich eine Fassade und Geldwaschanlage für die Mafia - hatte auffliegen lassen, ist nach Jahren der Flucht inzwischen Partner bei der weltweit größten Anwaltskanzlei in Manhattan mit Filialen in vielen Ländern. Glaubte sich der junge Familienvater nach so langer Zeit in Sicherheit, werden er und seine Frau erneut Zielscheibe des Verbrechens: Mitch übernimmt das Mandat eines großen türkischen Unternehmens, dem die libysche Regierung unter Diktator Muammar al-Gaddafi nach dem Bau einer Autobahnbrücke in der Wüste vier Millionen Dollar schuldig bleibt. Um sich vom Bauprojekt ein genaues Bild zu verschaffen, reist er mit der in der Londoner Filiale angestellten Rechtsanwältin Giovanna, Tochter des römischen Filialleiters Luca, nach Libyen. Nach einer Lebensmittelvergiftung kommt Mitch ins Krankenhaus, weshalb Giovanna allein, allerdings mit bewaffneter Begleitung, zur Brücke fährt. Auf dem Weg dorthin werden die Begleiter von Terroristen getötet und Giovanna entführt. Die anonym bleibenden Entführer fordern von der Anwaltskanzlei hundert Millionen Dollar Lösegeld.
So weit, so gut. Doch warum dieser neue Band unbedingt als Fortsetzung zum Bestseller „Die Firma“ angenommen werden soll, wissen wohl nur der Autor und seine Verlage. Denn außer einigen für die Handlung des aktuellen Romans völlig unwichtigen Bezügen zum einstigen Bestseller hat „Die Entführung“ überhaupt nichts mit diesem zu tun. Lediglich die Protagonisten Mitch McDeere und seine Ehefrau treten hier erneut auf. Doch da die Handlung des neuen Romans im Kern absolut nichts mit der des alten zu tun hat, auch die Charaktere der Protagonisten in keiner Weise weiter ausgeprägt werden, darf man „Die Entführung“ getrost als eigenständigen Roman und die Verlagsaussage „große Fortsetzung“ als reine Werbung ansehen. Hoffte man vielleicht, damit an den früheren Erfolg der 1990er Jahre anknüpfen zu können, dürfte sich dieser „Trick“ bei den Lesern eher negativ auswirken, da man bei einem Vergleich unweigerlich vom Ergebnis enttäuscht sein muss.
„Die Entführung“ ist kein von Grisham gewohnter Justizthriller, da es hier nicht um juristische Tricks zur Lösung eines Rechtsstreits geht. Andererseits ist der Roman aber auch kein echter Politthriller, da die politisch-globalen Zusammenhänge, die sich bezüglich des Gaddafi-Regimes, der labilen Situation in Libyen und - daraus folgend - der politischen Abhängigkeiten und Konfliktsituation westlicher Länder, im Roman nur oberflächlich angerissen werden. Es bleibt somit ein reiner Spannungsroman, der durch einige brutale Szenen angereichert ist. Doch selbst die Spannung bleibt teilweise auf der Strecke, der Roman wirkt gelegentlich langatmig und die Handlung löst sich durch ihr völlig überraschungsfreies Ende letztlich in Wohlgefallen auf. Grisham hätte seinen Roman besser um 150 Seiten zu einer Erzählung kürzen sollen. Der einstige Welterfolg seiner „Firma“ dürfte ihm bei der „Entführung“ sicherlich versagt bleiben.