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wortwandeln

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Insgesamt 33 Bewertungen
Bewertung vom 14.07.2024
Die Stimme der Kraken
Nayler, Ray

Die Stimme der Kraken


ausgezeichnet

In naher dystopischer Zukunft: Die Welt ist in Eingeschränkte Regierungszonen, Autonome Handelszonen und Protektorate gegliedert, Agenten mit Abglanzschilden, die ihre Identität verschleiern, gehen in aller Öffentlichkeit ihren jeweiligen Interessen bzw denen der sie bezahlenden Konzerne nach. Es tobt ein erbitterter globaler Kampf um Ressourcen und Technologien.
Einer der größten Konzerne, DIANIMA, hat gerade die Insel Con Dao im südchinesischen Meer abgeriegelt, um eine bislang unbekannte Krakenart zu erforschen. Die hochkompetente Meeresbiologin Dr. Ha Nguyen - Expertin in Sachen Meeres-Bewusstsein und Kommunikation - soll Kontakt mit den hochintelligenten Wesen aufnehmen, um mit der neuen Spezies, die sowohl Sprache als auch Kultur ausgebildet haben soll, Kontakt aufzunehmen. Geleitet wird das Projekt von Evrim, dem einzigen empathischen Androiden der Welt, dessen Aufenthalt auf dem Archipel noch andere Gründe hat. Mit an Bord ist außerdem eine ziemlich durchgeknallte Sicherheitsfunktionärin, ohne die der Roman deutlich blutleerer wäre, im üblen wie im besten Sinne.
Und natürlich tauchen am Horizont nicht nur die fischverarbeitenden KI-gesteuerten (Menschen)-Sklavenschiffe auf, sondern üble Mächte, die anderes mit den sensiblen, aber auch mörderischen Oktopoden im Sinn haben. Die Kopffüßer besitzen nämlich nicht nur eine eigene Grammatik und architektonische Fähigkeiten, sie verteidigen ihre Welt mit ausgeprägter Gnadenlosigkeit gegen jeden, der ihre warnenden Zeichen nicht zu lesen versteht.
Der kanadische Autor Ray Nayler, stellt - inspiriert von Sy Montgomerys "Rendezvous mit einem Oktopus" sowie neuesten Erkenntnissen zur Konnektom- und Gehirnforschung - auf originell- fantastische Art die Frage nach intelligentem Leben, Sein und Bewusstein, Moral und freiem Willen.
Die noch unerforschten Geheimnisse der Tiefsee, ein dystopisches Wordbuilding und das Thema KI in bester Asimovscher Tradition werden hier zu einem vielversprechenden Setting verwoben.
Das liest sich meist spannend, oft bildend und immer unterhaltsam.
Weshalb mich der Roman dennoch nicht ganz überzeugen konnte, liegt einerseits an den mitunter holzschnittartig wirkenden Charakteren, die die zahlreichen Schauplätze betreten, eine Handlung ausführen oder ein Statement abgeben (meist zur Frage "Was ist Bewusstsein?") und dann auf der anderen Seite der Bühne wieder abtreten, ohne dass man ihnen wirklich nahekommt. Andererseits wird eine Hauptfigur wie der Japaner Eiko, auf eins der erwähnten Sklavenschiffe entführt, mit einem großen erzählerischen Bogen aufgebaut - besonders schön fand ich die Idee des Gedächtnispalasts - um dessen Rolle schließlich im Sande verlaufen zu lassen.
Nichtsdestotrotz ist es ein gut recherchiertes, wissenschaftlich fundiertes und unterhaltsam geschriebenes Buch, das einen guten Sommerschmöker abgeben könnte.

Bewertung vom 19.06.2024
Das Fenster zur Welt
Winman, Sarah

Das Fenster zur Welt


sehr gut

1944 begegnen sich der junge britische Soldat Ulysses und die 64jährige Kunsthistorikerin Evelyn Skinner in der Toskana, wo letztere den Alliierten hilft, verschleppte oder versteckte Kunstschätze aufzufinden. In einem Weinkeller in umkämpfter Gegend verbringen sie einen einzigen Abend mit Gesprächen über die Kunst und das Leben und finden schnell zu einer tiefen Vertrautheit.
Etliche Jahre später wird auch diese Begegnung Ulysses aus dem rauen Londonder East End nach Florenz ziehen, wo er in einem geerbten Palazzo (den Eigentümer hatte er 1944 in einer halsbrecherischen Aktion vor dem Suizid bewahrt) samt Stieftochter Alys, seinem alten Freund Cress und einem vorlauten Papagei einen Neuanfang wagt.

Viele Jahre werden vergehen und viele Wege sich nur fast kreuzen, bis sich Ulysses und Evelyn endlich wiedersehen. Die Geschichte dazwischen wird leise und undramatisch, chronologisch, detailreich und dicht erzählt. Einen spannenden Handlungsbogen gibt es nicht, trotzdem möchte man das Buch nicht aus der Hand legen. Wie ein riesiges Stillleben - so auch der Originaltitel - breitet Sarah Winman die Leben und Beziehungen ihrer Figuren aus und tupft hier und da etwas magischen Realismus (kein normaler Papagei hat immer das passende Zitat parat !) als besonderen Hingucker dazu. Es gibt viel zu entdecken in diesem nicht nur idyllischen Gemälde. Obwohl der Titel im Deutschen vielleicht nicht viel hermacht, finde ich ihn angesichts der Erzählweise und Evelyns Reflexionen über das künstlerische, oft als trivial geltende Sujet, die mir durchaus die Augen geöffnet haben und insofern auch bildend waren, deutlich passender als die Übersetzung.

Doch vor allem sind es die warmherzig, komplex und sehr liebenswert gezeichneten Charaktere, die einen das Buch am Ende nur schweren Herzens zuklappen lassen. Obwohl sie mitunter einen rauen Ton anschlagen, stehen sie trotz aller Höhen und Tiefen stets wertfrei zueinander. Sie alle - verbunden durch tiefe Freundschaft oder Wahlfamilie - suchen nur eins: ihren Platz im Leben. Dies ist ganz klar ein Wohlfühlbuch und als Sommerschmöker sehr zu empfehlen.

Bewertung vom 07.06.2024
Die Meerjungfrau von Black Conch
Roffey, Monique

Die Meerjungfrau von Black Conch


sehr gut

Was für ein wilder Strudel!
Der uralte Mythos der tragischen Meerjungfrau, der Sirene oder Undine, diente schon vielen Literaten als Erzählstoff. Am bekanntesten ist wohl Andersens berühmte Märchenadaption, die der Geschichte, die Monique Roffey gleichwohl so kräftig wie experimentell gegen den Strich bürstet, am nächsten kommt.
Obwohl die vor Jahrtausenden ins Meer verbannte Aycaya nicht aus Liebe zu einem Prinzen an Land geht und dabei ihre Stimme verliert, sondern von amerikanischen Touristen brutal der karibischen See entrissen und entwürdigend verhökert werden soll, ist dies eine Liebesgeschichte. Denn der einfache Fischer David, der schon oft für das schöne Wesen draußen auf dem Meer gesungen hat, rettet sie und bringt sie in seine Hütte. Dort verwandelt sich Aycaya unter Qualen in eine Frau zurück, findet nach und nach die verlorene Sprache wieder und erlangt ihre Selbstbestimmung zurück.
Dieser Roman steckt voller Bedeutung und Symbolik. Je tiefer man sich in diesen märchenhaften und doch modernen Erzählfluss sinken lässt, desto mehr wird einem thematisch bewusst. Geschickt verbindet die Autorin die magisch-realistischen Legenden der Einheimischen, Kolonialgeschichte und zeitlose Themen wie Feminismus, Freundschaft, Liebe, Identität.
Nicht nur literarische Genres und Themen sind rasant gemixt, Monique Roffey experimentiert auch mit den stilistischen Mitteln, insbesondere mit der Sprache ihrer Protagonist*innen. Aycaya spricht in poetischen versähnlichen Bildern, David in schlichten, verschliffenen dialektgefärbten Sätzen. Für die erfahrene Übersetzerin Gesine Schröder, die ich dankbar vor allem mit den Werken von Louise Erdrich verbinde, eine Herausforderung, die sie ebenso originell gemeistert hat. Denn auch wenn sich grammatisch falsche Strukturen zumindest für mich recht gewöhnungsbedürftig lesen, erfüllen sie in jedem Fall den Zweck der Authentizität und das Akzeptieren anderer Stimmen. Sehr aufschlussreich war dazu auch Gesine Schröders Nachwort, in dem sie die Arbeit am Buch beschreibt.
Das Figurenensemble, zu dem noch andere interessante Charaktere gehören, habe ich als für die Geschichte gut ausgearbeitet empfunden, bin aber insgesamt das Gefühl von Distanz nicht losgeworden. Vielleicht liegt es an der symbolischen Aufladung oder eben an der Sprache, dass mir die Charaktere bis zum Ende wie Märchenfiguren vorkamen.
Insgesamt eine große Empfehlung für eine außergewöhnlich originelle Geschichte.

Bewertung vom 24.05.2024
Das Baumhaus (MP3-Download)
Buck, Vera

Das Baumhaus (MP3-Download)


ausgezeichnet

Nach "Wolfskinder" nun der zweite Thriller von Vera Buck, den ich nicht mehr aus der Hand legen bzw. vom Ohr nehmen konnte.
"Das Baumhaus" steht im idyllischen Västernorrland in Schweden, das offenbar nur die Deutschen für ein einziges riesengroßes Bullerbü halten. So auch Henrik und Nora, die mit ihrem fünfjährigen Sohn Fynn das Ferienhaus aus Henriks Kindheit aufsuchen. Dass dort irgendetwas nicht stimmt, wird zur furchtbaren Gewissheit, als Fynn beim Spielen mit Henrik im Wald von einer Minute auf die andere spurlos verschwindet. Just, als Nora ein paar Stunden für sich allein in der Stadt verbringt.
Zeitgleich findet die forensische Biologin Rosa Lundqvist bei privaten Forschungsgrabungen im Wald ein Kinderskelett - verwittert wie das Baumhaus oben in der Esche, an das Henrik sich mühsam erinnert. War da nicht ein Mädchen gewesen, so alt wie er? Der Albtraum nimmt seinen Lauf...
Vera Buck lässt die Geschichte von vier Hauptcharakteren jeweils aus der Ich-Perspektive erzählen.
Neben Nora und Henrik, die mit Schuld und vergangenen Dämonen kämpfen, sind da noch Rosa, die offiziell als Ermittlerin hinzugezogen wird, ihr eigenes privates Päcklein zu tragen hat und vor allem das Mädchen Marla, das aus der Vergangenheit zu uns spricht. Was Marla zu erzählen hat, lässt die Haare zu Berge stehen und bricht einem das Herz und dennoch kann man nicht aufhören, ihr zu lauschen. Dazu trägt nicht nur die kindliche Diktion, sondern auch die Sprecherin (Leonie Landa??) bei, die Marla im richtigen Maß unfassbares Leid und Einsamkeit, aber auch Mut und Überlebenswillen in die Stimme legt.
Je weiter die Handlung fortschreitet, desto mehr verbinden sich die Beziehungen der Figuren zu einem dichten Gewebe, das zugleich ein erschreckendes Bild offenbart.
Meisterhaft erzeugte Spannung, die sich langsam, bedrohlich und unaufhaltsam wie ein Gewitter über der Szenerie zusammenzieht, eine genial konstruierte Geschichte mit mehreren Twists, etlichen möglichen Verdächtigen, falschen Fährten, ausreichend komplexen Charakteren sowie exzellente Sprecher:innen machen das Buch zu einem wirklichen Hörabenteuer, das am Ende mit mehr als einem Schuldigen aufwartet.
Große Empfehlung!

Bewertung vom 18.03.2024
Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit
Pulley, Natasha

Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit


sehr gut

1898 erwacht der Ingenieur Joe Tournier nach einer Zugreise ohne Erinnerung am Londoner Bahnhof Gare du Roi. Als ob das nicht schon verwirrend genug wäre, scheint die Welt um ihn herum Kopf zu stehen. England hat den Krieg gegen Frankreich verloren und wird von Paris regiert. In einer psychiatrischen Klinik versucht Joe, wieder zu sich zu finden, doch die Erinnerungen bleiben wie ausgelöscht.
Schließlich wird er von seiner ihm unbekannten Familie nach Hause geholt und lernt mit der Zeit, seinen neuen Alltag mit Frau und Tochter zu akzeptieren.
Dann trifft eine rätselhafte Postkarte bei ihm ein, die vor 90 Jahren an ihn adressiert wurde und das Bild eines schottischen Leuchtturms zeigt. Auf der Rückseite ein so fesselnder wie beunruhigender Text: „Liebster Joe, komm nach Hause, wenn du dich erinnerst. M.“
In der Hoffnung, etwas über seine Identität zu erfahren, macht er sich schließlich auf die Reise zum Leuchtturm. Durch ein Portal in die Vergangenheit entführt, gerät er zwischen die Fronten berühmter Seeschlachten während der napoleonischen Kriege, deren Ausgang er mit seinen Ingenieurskenntnissen und fortgeschrittener Waffentechnik beeinflussen soll.
Joe ist hin- und hergerissen. Was wird aus seiner eigenen Zukunft, wenn er an der Vergangenheit rührt? Wird er je nach Hause kommen, seine Tochter wieder in die Arme schließen? Andererseits wird immer deutlicher, dass er nicht zum ersten Mal an Bord des Schiffes ist, obwohl die Besatzung dies vor ihm zu verbergen sucht. Vielleicht kann er hier endlich Aufschluss über seine wahre Identität erlangen, um die er so verzweifelt ringt.
Mit unglaublicher Liebe zum Detail, technisch fundiert und in der Auflösung schlüssig, präsentiert Natasha Pulley ein episches Zeitreiseabenteuer, das außerdem so packend geschrieben ist, dass man sich mit dem Buch am liebsten auf einen einsamen Leuchtturm zurückziehen möchte, um ungestört bis zum Ende lesen zu können. Sie verknüpft dabei einige spannende historische Was-wäre-wenn-Szenarien mit der zeitlosen Frage, wer wir ohne Erinnerungen überhaupt sind, zurückgeworfen auf Instinkte und Charaktereigenschaften, unfähig, erklärbare Entscheidungen zu treffen. Und so hadert auch Joe mit all seinen Empfindungen, die er nicht einordnen kann.
Viele Erklärungen ziehen die Geschichte mitunterzeichnet die Lände, auch das mehrmalige Springen zwischen den Paralleluniversen verlangen eine große Aufmerksamkeit. Doch wer hier durchhält, hat am (plausiblen und versöhnlichen) Ende ein unvergessliches Abenteuer bestanden.

Bewertung vom 18.03.2024
Dalee
Gastmann, Dennis

Dalee


sehr gut

Indien in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Der kleine Ich-Erzähler Bellini wächst in der armen aber traditionsbewussten Familie von Mahuts auf, und auch ihm ist vorherbestimmt, Elefantenführer zu werden. Von einem reichen Unternehmer, der auf den entfernten Andamaneninseln Arbeitselefanten braucht, weil sie die einzigen sind, die sich durch den dichten Dschungel schlagen können, werden sie unter vollmundigen Versprechen auf den fernen Archipel gelockt. Eine waghalsige Reise beginnt, auf einem rostigen Dampfer, den Bauch voller Mahuts und ihrer Elefanten. Unter ihnen ist Dalee, der schwimmende Elefant, der mit Bellini nicht nur Orangen von den kleinen Inseln holt, sondern auch zu einem wichtigen Teil seines Erwachsenwerdens wird.
Dennis Gastmann entführt wieder einmal in ferne Welten. Dem Reiseschriftsteller und Journalisten fällt es nicht schwer, das quirlige Treiben eines überfüllten Marktes, die stickig-feuchte Luft der Tropen, die Lebensweisen unbekannter Kulturen heraufzubeschwören. Dabei taucht er stets tief in die Materie ein, wartet mit einer Fülle von Details auf. Wer mit Dennis Gastmann reist, muss seinen Lesesessel nicht verlassen und hat doch vieles von der Welt gesehen.
Mit diesem historischen Roman, zudem weit entfernt von der eigenen Herkunftskultur, hat der Autor zudem eine unglaubliche Recherchearbeit vorgelegt, die durch bloßes Bereisen nicht zustande käme.
Obwohl sich Bellinis Familie vielen Schwierigkeiten gegenüber sieht und auf der Insel einstige Strafgefangene herumtreiben, treibt der Erzählfluss eher gemächlich dahin. Es dominieren üppige bildhafte Beschreibungen, getragen durch eine Fülle von Aufzählungen, die mir manchmal zuviel des Guten waren.
Auch wenn der Autor hier mit den Augen eines staunenden Kindes auf die Welt schaut, gerät mir die Geschichte an vielen Stellen zu verklärt und schwärmerisch. Teilweise habe ich parallel auch das Hörbuch gehört, vom Autor selbst eingesprochen, und die stellenweise pathetische Lesart hat diesen Eindruck noch verstärkt.
Doch wen das nicht anficht, der kann wie immer unglaublich viel lernen: Über Elefanten und die für den Tourismus noch wenig erschlossenen Andamanen. Da ist Gastmann ganz Journalist, der einmal mehr zu Hochform aufläuft.

Bewertung vom 17.03.2024
Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)
Boyle, T. C.

Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)


ausgezeichnet

Florida ertrinkt, Kalifornien brennt. An beiden Orten und somit im Spannungsfeld der Klimakatastrophe, leben die Mitglieder einer amerikanischen Mittelstandsfamilie. Der Vater ist Arzt, Mutter Ottilie - die einzige Ich-Erzählerin des Romans - Hausfrau. Sohn Cooper ist Entomologe und damit gewissermaßen am Puls der Zeit. Schon früh erkennt er die vernichtenden Auswirkungen der Erderwärmung, die sich schleichend durch Biotope und Arten ziehen. Während der kalifornische Teil der Familie noch ihren Teil beizutragen versucht und zumindest die Ernährung auf Grillen umstellt, integrieren Tochter Cat und ihr Verlobter in Florida die eigentlich beängstigenden Veränderungen in ihren Alltag. Trotz zunehmender Überflutung bleiben sie im Haus wohnen und legen sich ein Boot zu, für den Fall, dass der Parkplatz am Haus unter Wasser steht. Als einen Akt der Rebellion gegen die Gewöhnlichkeit schafft sich Cat einen Tigerpython an - ausgerechnet eine invasive Art, die der einheimischen Tierwelt langsam den Garaus macht - den sie Willie nennt und mit ihm in den sozialen Medien posiert.
Wer T.C. Boyle kennt, weiß, dass dies nicht lange gutgehen kann und vorsätzlich unkluges Verhalten stets bestraft wird.
»Ich bin optimistisch, was die Fähigkeit der Menschheit angeht, Lösungen für diese Krise zu finden. Aber ich bin pessimistisch, was die Bereitschaft angeht, sie auch umzusetzen.«
Und so geschieht das denkbar Schlimmste. Während am Horizont biblische Unwetter heraufdräuen, steuern auch die Dramen innerhalb der Familie auf einen apokalyptischen Höhepunkt zu.
Ein packender Erzählstil, ein komplexes Handlungsgeflecht und bis ins Detail ausgearbeitete ( wenn auch nicht sonderlich sympathische) Figuren machen diesen Roman zu einem weiteren Meisterwerk des Autors. Seine originellen Ideen, der beißende Humor und die Wendungen, die er mit Sicherheit bereithält, überzeugen mich stets aufs Neue.
Es sind niemals leichte Themen, die T.C. Boyle in seinen Büchern verhandelt, und doch bringt er sie stets mit tiefgründigem Humor, leichter, wenn auch spitzer Feder und immer ohne moralisierenden Zeigefinger dar.
Bei allen Verlusten, die der Autor seine Figuren erleben lässt, ist er ihnen gegenüber dennoch fürsorglich . Auch wenn er sie durch die Hölle schickt, die Hoffnung nimmt er ihnen nicht. Hoffnung, die Raum zum Nachdenken und Handeln lässt.

Bewertung vom 26.04.2023
Going Zero
Mccarten, Anthony

Going Zero


ausgezeichnet

Der Social-Media Mogul Cy Baxter hat vor vielen Jahren seinen besten Freund bei einem Terroranschlag verloren. Mit dessen Schwester, nunmehr Baxters Gefährtin und mindestens ebenso genial, hat er deshalb mit FUSION ein nie dagewesenes Überwachungssystem entwickelt, das nicht nur potenzielle Gefahren hochrechnen, sondern auch jeden Untergetauchten in kurzer Zeit aufspüren kann.
Die CIA, die nur im Ausland agieren darf, wittert angesichts eines solchen Partners Morgenluft in Sachen Inlandsoperationen und unter dem Deckmantel von Terrorabwehr und nationaler Sicherheit läuft ein Beta-Test im großen Stil an.
Zehn Personen, vom Geheimdienst sorgfältig ausgewählt, müssen 30 Tage unauffindbar bleiben. Wem es gelingt, der bekommt 3 Millionen Dollar Preisgeld. Siegt das System, winkt Baxter eine überirdisch hohe Summe und dem Staat die totale Überwachung.
Unter den zehn Auserwählten ist auch die eher mausgraue Bostoner Bibliothekarin Kaitlyn. Als auf ihrem Handy das Signal "Go Zero" erscheint, hat sie zwei Stunden Zeit, um zu verschwinden. Was niemand weiß: Sie ist weder durchschnittlich noch geht es ihr um die drei Millionen. Sie muss ein leben retten und hat nur diese eine Chance. Und die Jagd hat schon begonnen...
"Going Zero" heißt der atemberaubende Thriller von Anthony McCarten, der heute @diogenesverlag erschienen ist. Ein Buch, dem man nicht nur zum Geburtstag, sondern auch zu seinem künftigen Erfolg gratulieren darf, denn es wird mit Sicherheit seine Leserschaft finden.
Überwachungskapitalismus ist kein neues Thema, auch in der fiktiven Literatur, insbesondere in Form von Dystopien, hat es Hochkonjunktur. Dennoch habe ich selten so realistisch und spannend zugleich darüber gelesen.
Während Kaitlyns Geschichte den straff gespannten roten Faden der Erzählung bildet, werden wir Zeugen, wie die anderen "Zeros" nacheinander, mit unerbittlicher Effizienz und oft auf wenigen Seiten, hopps genommen werden. Das macht Spaß zu lesen, weil auch sie durchaus findig sind und man sich ständig bei dem Gedankenexperiment ertappt, wie und wo man selbst abtauchen würde. Andererseits stehen einem die Haare zu Berge, weil es angesichts der völlig aus dem Ruder gelaufenen Überwachung und unterschwelligen Einflussnahme und der digitalen Spuren, die wir ungewollt überall hinterlassen, faktisch kein Entrinnen gibt.
Gut platzierte Cliffhanger, geschickt gestreute Informationen lassen einen das Buch kaum aus der Hand legen. Es wirkt wie von leichter Hand geschrieben, und trotz tiefgründiger Recherchen des Autors wird die Geschichte nicht mit technischen Fakten oder politischen Traktaten überfrachtet. Sehr viel Sorgfalt ließ Anthony McCarten auch seinen Charakteren angedeihen. Sie alle sind als nahbare und widersprüchliche Persönlichkeiten gezeichnet, deren Leben am Ende nicht mehr dieselben sind.
Der Autor hat sich für seinen Roman von der wahren Geschichte eines verschwundenen CIA-Agenten inspirieren lassen. Er selbst, so viel verrät er im Nachwort, ist bekennender
Zero und in den sozialen Medien nicht zu finden.

Bewertung vom 24.04.2023
Die marmornen Träume
Grangé, Jean-Christophe

Die marmornen Träume


sehr gut

Im Spätsommer des Jahres 1939 werden in Berlin grausam zugerichtete Frauenleichen gefunden. Allesamt Ehefrauen von Nazigrößen und Mitglieder eines exklusiven Damenkreises, der sich regelmäßig im Hotel Adlon zu Amüsement, edlen Speisen und Champagner trifft. Ihnen gemeinsam ist außerdem der geniale Psychoanalytiker und Traumforscher Simon Kraus, der sämtliche Opfer nicht nur verführt, sondern anschließend mit seinem ärztlichen Wissen erpresst hatte. Als ihm der ermittelnde SS-Offizier Franz Beewen, ein nicht minder unsympathischer Zeitgenosse ihm aufgrund der Nähe zu den Frauen offen droht, versucht Kraus seine Haut zu Bretten und bietet Beewen seine Mitarbeit bei der Aufklärung des Falles an: Alle Patientinnen hatten vor ihrer Ermordung von einem Albtraum berichtet, in dem ein Mann mit einer Marmormaske des Nachts an ihrem Bett gestanden habe…
Als Dritte im Bunde wird schließlich die Psychiaterin Minna von Hassel hinzugezogen, die außerhalb Berlins eine Klinik für traumatisierte Weltkriegsveteranen und psychisch Kranke leitet, wo auch Beewens Vater zu ihren Patienten gehört. Kraus und von Hassel verabscheuen die Nazis und ihre Rassenideologie, doch als ihre Ermittlungen und sie selbst von weiter oben in der Hierarchie bedroht werden, müssen sie zusammenarbeiten, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Jean- Christophe Grangé hat hier einen vielschichtigen und historisch präzise recherchierten Thriller über Deutschlands dunkelstes Kapitel vorgelegt - episch inszeniert und verstörend brutal erzählt.
Sehr viel Sorgfalt verwendet der Autor auf seine Charaktere. Die komplex angelegten Figuren sind am Ende der Geschichte nicht mehr dieselben, die Lesenden möglicherweise auch nicht, denn Grangé erspart uns nichts. Nicht nur die Morde werden bis in letzte grauenvolle Detail geschilderte, sondern auch die Verbrechen der Naziś, seien es die Kriegsverbrechen der Wehrmacht hinter der Front, die fabrikmäßige Ausrottung der Juden, die Sterilisation und Ermordung nicht-idealer Deutscher - kommen auf so historisch wahre wie markerschütternde Weise aufs Tapet. Obwohl jeder über diese Geschehnisse Bescheid wissen sollte, ob es mittels dieses Romans geschehen sollte, sei dahingestellt, denn der ist nichts für zartere Gemüter.
Dennoch, ein genial konstruierter Thriller mit Figuren, die vor allem am Anfang nicht sympathisch sind, deren handeln auch später nicht verteidigt wird, die aber dennoch eine Entwicklung durchmachen und als Menschen erkennbar werden dürfen.
Die Auflösung ist überraschend und springt dennoch in Sachen Glaubwürdigkeit etwas aus dem Kontext.

Bewertung vom 23.04.2023
Wolfskinder
Buck, Vera

Wolfskinder


ausgezeichnet

Oben auf dem Berg, inmitten einer rauen, unwirtlichen Natur, liegt die Siedlung Jakobsleiter, eine archaisch anmutende Gemeinschaft, deren Mitglieder biblische Namen tragen und ein abgeschiedenes, einfaches Leben fernab der Zivilisation führen. Unter ihnen die Jugendlichen Jesse und Rebekka, die unten im Tal zur Schule gehen, wo die misstrauischen Dörfler - mit Ausnahme der Lehrerin und des Bürgermeisters - sie wie Aussätzige behandeln. Dennoch möchte Rebekka nichts mehr, als dem Berg zu entkommen. Und dann verschwindet sie plötzlich so spurlos wie mehrere junge Frauen aus der Gegend vor ihr. Ist Rebekka freiwillig gegangen? Ihr Freund Jesse hat Zweifel und begibt sich ebenso auf die Suche wie die junge Redaktionsvolontärin Smilla. Diese hat vor zehn Jahren auf dem Berg beim Campen ihre direkt neben ihr schlafende Freundin Juli verloren und wird seitdem von einer Art „Überlebensschuld“ verfolgt und am Leben gehindert. Als Einzige (das ist ein bisschen unwahrscheinlich, aber sei‘s drum) sieht sie eine Verbindung zwischen den Vermisstenfällen. Als ihr dann noch ein verwildertes kleines Mädchen vor das Auto läuft, das Juli erstaunlich ähnlich sieht und dessen Identität nun öffentlich geklärt werden muss, ist nicht nur Smilla nicht mehr zu bremsen. Das latente Misstrauen der Dörfler schlägt jetzt in nackte Gewalt gegen die Berggemeinschaft um, doch dann kommt die junge Journalistin hinter ein Geheimnis, das alles verändert…

Vera Buck hat mit „Wolfskinder“ einen atmosphärisch dichten und stets etwas düsteren Roman vorgelegt, der sich wie ein herangrollendes Unwetter am Berg mit unheimlicher Ruhe Seite um Seite zu einem Thriller mausert, und den ich nicht mehr aus der Hand legen konnte. Die Autorin, die bereits mit ihrem Debütroman „Runa“ Leserschaft und Kritik zu überzeugen wusste, schreibt auch hier leicht und elegant und bringt den Lesenden ihre sorgsam ausgearbeiteten Charaktere schnell nahe. Besonders die kleine wilde, schlaue und doch beunruhigende Edith weckt einerseits Mitgefühl und Sympathie und sorgt zugleich für aufgestellte Nackenhaare. Aus den Perspektiven der sehr unterschiedlich angelegten Figuren wird die Geschichte Stück für Stück erzählt, gut platzierte Cliffhanger und raffiniert gestreute Hinweise sorgen für wachsende Spannung, bis sich am Ende alles so überraschend anders wie überzeugend schlüssig fügt. Absolute Leseempfehlung!