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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Antie
Wohnort: 
Ahrensburg

Bewertungen

Insgesamt 16 Bewertungen
12
Bewertung vom 07.08.2024
Juli, August, September
Grjasnowa, Olga

Juli, August, September


sehr gut

Der in der Ich-Form geschriebene Roman konfrontiert die Leser*innen mit einer ganzen Reihe von Fragen, die sich alle um Identität drehen. Die Protagonistin Lou hat russisch-jüdischen Hintergrund, aber sie ist wurzellos, fühlt sich in keinem Land zu Hause, weder in Israel, noch in Deutschland, wo sie mit ihrem zweiten Ehemann, einem Pianisten, lebt, und am allerwenigsten in Russland, obwohl sie russisch spricht.
Nach einer Totgeburt im sechsten Schwangerschaftsmonat ist ihre Ehe am Ende. Sie reist mit ihrer Tochter nach Gran Canaria, um im großen Familienkreis den 90. Geburtstag ihrer Großtante zu feiern. Die Familie hat sich im Grunde nichts zu sagen, es gibt keine herzlichen Zusammengehörigkeitsgefühle, keine Nähe und keine gemeinsamen Ziele. Selbst die Vergangenheit ist interpretierbar und fluide. Irgendwann stellt Lou fest, dass sie Israel besuchen muss, um sich selbst und ihre Familiengeschichte besser zu verstehen.
Lou berichtet all das lakonisch und ohne erkennbare Emotionen. Das ist Stärke und Schwäche dieses Buches zugleich. Man kann sich in die Hauptperson nicht recht einfühlen und sie wird einem im Laufe des Buches auch nicht vertrauter, denn was sie wirklich denkt und fühlt, erfahren die Leser*innen nicht. Es werden die äußeren Vorgänge erzählt, nicht jedoch die inneren. Das erinnert an „Der Russe ist einer, der Birken liebt“. Hier wie dort geht es um die Frage, wo man zu Hause ist, und um die Bewältigung von Traumatisierung aus der Perspektive von entwurzelten und traumatisierten Familien.
Das Cover spiegelt das wider durch die lose Ansammlung willkürlich zusammengestellter Gegenstände.
Alles in allem ein durchaus lesenswertes Buch.

Bewertung vom 23.07.2024
Reise nach Laredo
Geiger, Arno

Reise nach Laredo


weniger gut

Sehr seltsames buch
Bisher habe ich fast jedes Buch von Arno Geiger mit Begeisterung gelesen. Entsprechend hoch waren meine Erwartungen, als ich anfing zu lesen. Doch diesem neuen Werk kann ich nichts abgewinnen.
Dem Buch liegen historische Ereignisse zugrunde. Es geht um Kaiser Karl V.
Der Kaiser hat abgedankt und verbringt seine letzte Lebenszeit in Yuste, in unmittelbarer Nähe des dortigen Klosters hat er sich ein Haus bauen lassen. Er liegt im Sterben.
In seinen Fieberträumen, auch durch Laudanum hervorgerufen, unternimmt er eine Reise mit seinem Sohn Geronimo, der jedoch nicht weiß, dass er Karls Sohn ist. Diese Reise soll an die Küste nach Laredo gehen. Unterwegs erlebt er einige Abenteuer und lernt das Leben, die Sorgen und Nöte und Beschränkungen des einfachen Volkes und der Unterprivilegierten kennen.
Als Leser erkennt man erst nach einer Weile, dass sich die Reise im Kopf von Karl abspielt, obwohl es recht schnell Hinweise darauf gibt. Spätestens dann, wenn es um die Existenz des Greifs geht, hat man keine Zweifel mehr daran. Dennoch erschließt sich nicht, warum der Autor Karl diese Reise unternehmen lässt. Die Ereignisse sind beschwerlich, Erkenntnisse, die Karl gewinnt, bleiben überschaubar, die Umgebung und die Menschen wirken bedrückend.
Zweifellos ist Arno Geiger ein herausragender Erzähler, doch ich war von dieser Geschichte nicht gefesselt, sondern eher abgestoßen. Sicher trägt dazu bei, dass durch die streng durchgehaltene personale Erzählweise Karl in einem Zustand permanenter Reflexion gezeigt wird, der keinen Zugang zu seinen Emotionen hat.
Abgesetzt davon sind das erste und das letzte Kapitel, beide im Präsens, im Gegensatz zu dem Rest, der im Präteritum erzählt wird. Sie bilden den Rahmen, in dem die tatsächlichen Ereignisse geschildert werden.
An vielen Stellen fließen Informationen ein, die zeigen, dass der Autor gründlich recherchiert hat und seinen Protagonisten mit seinen Lebensumständen und seiner Zeit gut kennt. Dennoch konnte ich keinen Zugang zu den Personen bekommen.
Alles in allem ein enttäuschendes Leseerlebnis.

Bewertung vom 27.05.2024
Man sieht sich
Karnick, Julia

Man sieht sich


sehr gut

Das Buch von Julia Karnick bietet eine Lektüre für den unbeschwerten Sommerurlaub. Schon nach wenigen Seiten wissen die Leser*innen, dass zwischen Robert und Friederika, abgekürzt Frie, etwas laufen wird bzw. schon etwas gelaufen ist. Aber es wird noch viele Seiten dauern, bis die beiden endgültig zusammenkommen. Bis dahin kann man sich gemütlich mit einem Prosecco zurücklehnen und den beiden dabei zuschauen, wie sie es immer wieder verpassen, sich aufeinander einzulassen. Dabei kann man sich das sehr gelungene Cover ansehen, das die Situation deutlich spiegelt: zwei Menschen gehen nebeneinander her, halten sich an den Händen und sind doch klar voneinander getrennt.
Die Autorin schildert zu Beginn eine Schülerliebe oder eine gute Freundschaft, je nach Betrachtungsweise der Protagonisten. Und das tut sie mit viel Detailwissen und einem guten Gefühl für die Atmosphäre und das Lebensgefühl von Jugendlichen / jungen Erwachsenen vor und nach dem Abitur. Weniger überzeugend und kürzer fallen die Teile aus, die die beiden als Erwachsene zeigen: zunächst Frie als Studentin und später Mutter und Robert als Musiker mit Anfang dreißig und schlussendlich im fortgeschritteneren Alter mit fünfzig. Die Perspektiven wechseln. Mal ist es die Sicht von Robert, mal die Sicht von Frie.
Gewürzt ist das Auf und Ab in der Beziehung der beiden mit gut gezeichneten Nebenfiguren wie dem alten Generalmajor a. D., Herrn Selk, der für eine märchenhafte Wende im Leben von Robert sorgt, so dass dem Happy End schließlich nichts mehr im Wege steht. Die allerletzte Volte erscheint dann doch etwas zuviel.
Wer eine leichte und unterhaltsame Lektüre sucht, die nicht zu platt ist, kann bei Julia Karnick fündig werden.

Bewertung vom 23.01.2024
Wir sitzen im Dickicht und weinen
Prokopetz, Felicitas

Wir sitzen im Dickicht und weinen


sehr gut

Schwierige Familienbeziehungen
Der Roman „Wir sitzen im Dickicht und weinen“ erzählt von Frauen einer Familie über drei Generationen hinweg. Die Männer spielen eine untergeordnete Rolle, obgleich sie durch ihr Verhalten in der Familie deutliche Spuren hinterlassen
Im Vordergrund steht die Ich-Perspektive von Valerie, die mit 16-jährigem Sohn als alleinerziehende Mutter in Wien lebt. Sie ist eine fast schon karikaturreife Helikoptermutter mit unangenehm übergriffigem Verhalten dem Sohn gegenüber den sie nicht loslassen kann. Als Erklärung dafür wird deutlich, dass sie geschädigt durch das Verhalten ihrer eigenen Mutter ist, die zwischen laissez-faire-Erziehung in Valeries Kindheit und weinerlich-aggressiver Selbstbezogenheit schwankt. Die Mutter war selbst auch alleinerziehend. Sie hat Krebs. Das mögliche Ende der Mutter bringt Valerie dazu, sich an ihre Kindheit zu erinnern. Es wird deutlich, dass die Wurzeln ihres Verhaltens schon in der Großelterngeneration zu suchen sind.
Auch das Leben ihrer Großmutter und der Schwiegermutter sowie deren Mutter wird in Episoden geschildert. Immer wieder wird die die Unfähigkeit der Eltern- und Großelterngeneration zu echter, zugewandter Partnerschaft und darauffolgend Elternschaft deutlich, stattdessen präsentieren sich den Leser*innen dysfunktionale Familienstrukturen, die ihre Spuren hinterlassen. Die Figuren sitzen buchstäblich im titelgebenden Dickicht ihrer Familienbeziehungen, aus denen sie sich kaum befreien können. Die Ausnahme ist da vielleicht der Sohn von Valerie, der die Chance hat, ein Jahr in England zu verbringen und sich so von seiner Mutter zu lösen.
Es ist nicht ganz leicht, den Überblick zu behalten, wer wer ist und wer in welche Familie gehört, denn kapitelweise wechselt die Perspektive. Der Roman fügt sich so ein in die Reihe der Familienromane, die mehrere Generationen in den Blick nehmen und versuchen, Linien zu ziehen von früher bis in die Gegenwart, dabei aber multiperspektivisch arbeiten anstatt chronologisch zu erzählen.
Ein Kunstgriff sind die Grabreden, die Valerie von Kindheit an immer mal wieder über ihren Vater schreibt, der nicht für sie da ist und sich auch nicht um sie kümmert. Sie gehen besonders unter die Haut, weil sehr subtil die Sehnsucht nach Gemeinsamkeit und Zuwendung zu spüren ist, genauso wie die Wut und Frustration über die mangelnde Anwesenheit.
Der Roman ist sensibel geschrieben, die Ambivalenzen und Brüche in den Persönlichkeiten sind genau beobachtet und einfühlsam in Worte gefasst. Zu wenig nachvollziehbar bleibt allerdings die Wandlung der Mutter Christina von der Vorzeigetochter zur schwierigen Mutter.
Der in zarten Pastellfarben gehaltene Schutzumschlag suggeriert einen heiter-fröhlichen Inhalt, der darüber hinwegtäuscht, dass hier von den Entbehrungen, Zumutungen und Verletzungen erzählt wird, die in einer Familie auftreten können.

Bewertung vom 07.08.2023
Tasmanien
Giordano, Paolo

Tasmanien


sehr gut

"Ich schreibe über alles, was mich zum Weinen gebracht hat", sagt der Protagonist am Schluss des Buches, um damit zu begründen, warum er dabei ist, ein Buch über die Atombombe zu verfassen. Dieser Satz könnte aber genauso gut als Motto über dem gesamten Buch stehen. Der Schriftsteller Paolo Giordano erweckt den Anschein, über weite Strecken mit dem Ich-Erzähler identisch zu sein. Wie dieser ist er Physiker, der die Naturwissenschaft gegen das Schreiben von Zeitungsartikeln und Büchern eingetauscht hat und für Recherchen herumreist. Wie dieser kommt er aus Turin und hat am 19. Dezember Geburtstag.
In "Tasmanien" erzählt er nun von vielen Begegnungen, die er bei seinen unsteten Reisen hat, und von kleinen und großen weltpolitischen und zwischenmenschlichen Katastrophen. Ausgehend von den Anschlägen des IS im Pariser Bataclan erwähnt er in der Folge jeden weiteren islamistischen Anschlag, wenn auch manchmal nur in einem kurzen Abschnitt. Dadurch jedoch entsteht eine Atmosphäre von latenter Angst und Verunsicherung, zumal der Autor diese Ereignisse geschickt verknüpft mit dem Erleben seines Protagonisten und dem seiner Familie und seiner Freunde. Auf diese Weise gibt es eine Fülle von Dingen, die einen Menschen zum Weinen bringen könnten: ein unerfüllter Kinderwunsch, zerrüttete Ehen, Sorgerechtsstreitigkeiten, zerbrechende Freundschaften, Terrorismus, die Auswirkungen der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki, Folgen von Umweltverschmutzung u.a..
Ein roter Faden ist bei dieser Vielzahl der angerissenen Themen und Schauplätze immer das Buch über die Atombombe, das der Protagonist schreiben will, und der sich verschärfende Klimawandel. Diese beiden Themen werden an vielen Stellen aufgegriffen und bilden damit einen Kontrapunkt zu den vielen persönlichen/ zwischenmenschlichen Problemen und Herausforderungen.
Letztlich ist "Tasmanien" ein Buch über unerfüllte Lebensträume und über das Unbehaustsein in einer unberechenbaren und unsicheren Welt. Denn der ich-Erzähler ist ein Getriebener, der nirgendwo ankommt.
Trotz der Überfülle an angeschnittenen Themen habe ich das Buch gern und sehr schnell durchgelesen, obwohl ich anfangs andere Erwartungen hatte. Dennoch kann ich es eindeutig weiterempfehlen. Immer wieder habe ich überlegt, wie autobiographisch sein Buch wohl ist Ich hätte "Paolo" auch gern sein Tasmanien gewünscht.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.07.2023
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
Knecht, Doris

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe


ausgezeichnet

Wenn eine Frau ihr altes Leben und ihre alte Wohnung hinter sich lassen will und muss, bedeutet das einen immensen Einschnitt. Das alte Leben mit den Zwillingen als alleinerziehende Mutter ist für die Ich-Erzählerin in dem Moment vorbei, als beide nach dem Abitur ausziehen. Sie zieht Bilanz und richtet sich neu aus. "Wenn die Kinder ausziehen, wird von uns maximaler Schmerz erwartet, sagt die Ich-Erzählerin, und heulendes Elend..."(S.128). Genau das aber ist in diesem Buch nicht zu finden. In zahlreichen kurzen und teils sehr kurzen Kapiteln wirft die Autorin jeweils ein Schlaglicht auf den Gang der Dinge und auf Aspekte des Abschieds und des Neuanfangs.
So erfahren die Leser*innen einerseits viel über das Leben der Familie, andererseits aber auch über die Herkunftsfamilie der Ich-Erzählerin, in der sie als Älteste von fünf Mädchen, darunter zwei Zwillingspaare, keinen leichten Stand hatte. Dabei beschreibt sie leichtfüßig und heiter, trotz vieler melancholischer Momente, wie sie sich behauptet und wie aktiv sie den Neuanfang gestaltet.
Gleichzeitig handelt das Buch aber auch vom Schreiben und davon, wie Reflexions- und Schreibprozesse die Wirklichkeit verändern können. So wird nebenbei die Tochter kurzerhand zum Sohn und eine problematische Kindheit wandelt sich zu einer überwiegend unbeschwerten.
Am Ende hat man einen versöhnlichen Roman gelesen, der zwar nichts beschönigt, aber auch nichts dramatisiert.

Bewertung vom 17.08.2021
Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García
Rinke, Moritz

Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García


ausgezeichnet

Es ist ein Buch über Vulkane und Fußball, über Flüchtlinge und über das Vatersein, aber genauso gut auch ein Buch über die Suche nach den eigenen Wurzeln.
Moritz Rinke hat in seinem Roman „Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García“ viele Themen miteinander verknüpft. Sein Protagonist Pedro, ein 40-jähriger spanischer Postbote, der auf der Insel Lanzarote mit einer Diensthonda Briefe austrägt, wirkt ein bisschen wie aus der Zeit gefallen. Er stemmt sich gegen den unaufhaltsamen Niedergang seiner Zunft im Zeitalter des Internets. Nur noch wenige Briefe sind zuzustellen, dabei ist das Amt des Postboten schon in der dritten Generation in seiner Familie. Manchmal wirkt Pedro wie ein tumber Tor, der von überwältigender Liebe zu dem Sohn seiner Lebensgefährtin Carlota gesteuert ist und damit die Leere füllt, die der unbefriedigende berufliche Alltag mit sich bringt. Darum ist er auch komplett entwurzelt, als Carlota ihn verlässt. Indem er sich dadurch seiner Familiengeschichte stellt, kann er mit der Vergangenheit abschließen und sich neuen Ideen öffnen.
Der Leser erfährt ganz nebenbei viel über die Geschichte des Spanischen Bürgerkrieges und über den Strukturwandel auf der Insel Lanzarote. Nicht nur Pedro wird kaum mehr gebraucht, auch sein agiler, leicht verrückter Freund Tenaro, der Fischer war, hat keine Perspektive in diesem Bereich mehr und sehnt sich, ebenso wie Pedro, nach den Zeiten zurück, als die Ausübung des Berufes noch möglich war.
Neben Pedro, Tenaro, Carlota und ihrem Sohn Miguel spielt auch noch der Flüchtling Amado eine Rolle in diesem Buch. Alle Personen werden von ihrem Autor mit Zuneigung und Humor geschildert. Auch Gegenständen wird dabei eine entscheidende Rolle zugewiesen: ein Schreibtisch aus massiver Eiche lässt Pedro seine familiäre Herkunft hinterfragen, ein gefundenes Boot scheint Tenaro neue Möglichkeiten zu eröffnen und ein blauer Kinderball reist bis nach Marokko.
Der Autor erzählt nicht nur eine Geschichte, er erzählt viele und reichert sie mit großem historischem, literarischem und geologischem Wissen an. Entstanden ist so ein sehr unterhaltsames Buch mit Tiefgang.

Bewertung vom 21.07.2021
Raumfahrer
Rietzschel, Lukas

Raumfahrer


ausgezeichnet

Wurzellos
Raumfahrer, das sind Jan und seine Eltern, die orientierungs- und ziellos durch die Öde der ehemaligen DDR irren. Gescheiterte alle drei, auch noch nach 30 Jahren, zerbrochen an der Lebenswirklichkeit der DDR und den Umständen ihrer Auflösung.
Die Welt von Jan ist grau, instabil und bröckelig. Das betrifft sein Lebensumfeld, - er wohnt bei seinem Vater im Keller -, seine beruflichen Umstände, - er arbeitet als Abholer in einer Klinik, die kurz vor ihrer Schließung steht -, seine Beziehung zu Karolina, einer jungen Ärztin, und das Verhältnis zu seinen Eltern. Der scheinbar festgefügte und gleichförmige Alltag Jans gerät aus den Fugen, als er durch einen Patienten der Klinik entdecken muss, dass das Schicksal seiner Familie mit dem Schicksal seines Patienten Thorsten Kern verknüpft ist, dessen Onkel wiederum Georg Baselitz ist.
Die Geschichte der beiden Brüder Günter und Georg Kern, Künstlername Georg Baselitz, ist eingewoben in die Schilderung der Entdeckungen, die Jan über seine Mutter und seine Herkunft macht. Das ist als Leser nicht immer leicht nachzuvollziehen und einzuordnen. Denn nichts ist so, wie es scheint, hinter jeder vermeintlichen Gewissheit deutet sich eine andere Wahrheit an.
Die Protagonisten sind desillusioniert, niemand hat Pläne, Hoffnungen oder Perspektiven. Sie sind Gefangene ihrer Vergangenheit oder der ihrer Eltern.
Das System der DDR mit Stasi, IMs und Überwachung seiner Bürger, wird lakonisch, fast beiläufig zu einem Thema, das untergründig das ganze Buch durchzieht. Das weiß man erst, wenn man bis zu Ende gelesen hat und am Schluss viele Dinge in einem neuen Licht erscheinen.
Lukas Rietzschel hat mit seinem Roman dem Umstand Rechnung getragen, dass man seine Gegenwart nicht versteht, wenn man seine Vergangenheit nicht kennt. Die interessante, wenn auch nicht ganz einfach zu durchschauende Handlung machen das Buch zu einem reizvollen Lesegenuss.

Bewertung vom 06.05.2021
Die Geschichte von Kat und Easy
Pásztor, Susann

Die Geschichte von Kat und Easy


sehr gut

Zwei Frauen, beide Anfang sechzig, treffen sich nach fast fünfzig Jahren zu einem Urlaub auf der Insel Kreta. Bei ihrem Treffen werden die 70er-Jahre wieder lebendig, ihr Lebensgefühl als Jugendliche mit autonomem Jugendzentrum, Drogen, Rockfestival und dem ersten Sex. Diese Erlebnisse bilden den Hintergrund für die Wiederannäherung der beiden Frauen als Erwachsene. Denn es ist trotz der erwähnten Aspekte kein Coming-of-Age-Roman, sondern eher die Geschichte von zwei älter gewordenen Frauen, die durch die Erlebnisse in ihrer Jugend nachhaltig geprägt worden sind.
Abwechselnd befinden sich die Leser*innen entweder im Jahr 1973 in Laustedt, einer deutschen Kleinstadt, oder auf Kreta im Hier und Jetzt. Die Kreta-Episoden werden aus der Perspektive der Ich-Erzählerin Kat geschildert, die Laustedt-Rückblenden sind in personalem Erzählstil gehalten. Das ist nicht die einzige Brechung in diesem Roman. Ein interessanter Kunstgriff besteht darin, dass Aussprache und Annäherung von Kat und Easy zunächst quasi anonym über einen Blog Kats erfolgt. Das ermöglicht der Autorin Susann Pásztor, den wesentlichen Grund für die Trennung der Freundinnen bis ganz zum Schluss verborgen zu halten.
Sehr gelungen hat sie die Atmosphäre der 70er-Jahre eingefangen. Die erste Liebe und der freie Umgang mit Sex spielen eine wesentliche Rolle in der Beziehung der Protagonistinnen, die als Jugendliche glaubhaft beschrieben werden. Ihre Verletzlichkeit und ihre heutige Persönlichkeit lassen sich auf die Erfahrungen in dem besonderen Sommer 1973 zurückführen. Allerdings bleibt die Charakterzeichnung der erwachsenen Easy dabei hinter der von Kat zurück und manches in der Beziehung erscheint nicht folgerichtig.
„Wir waren jung damals, aber wir waren trotzdem längst die, die wir heute sind. Das ist erschreckend und tröstlich zugleich (…).“ Das ist einer der letzten Sätze des Romans. So ganz konnte die Autorin das jedoch über die Länge des 269 Seiten umfassenden Buchs nicht deutlich machen.

Bewertung vom 19.04.2021
Hauskonzert
Levit, Igor;Zinnecker, Florian

Hauskonzert


ausgezeichnet

Igor Levit ganz nah
Er ist ein Ausnahmetalent, er wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und er ist politisch engagiert. Ein Pianist, der zweifellos aus dem Rahmen fällt. „Ich will immer mehr! Mehr leben, sehen, erleben, tun, lernen.“ Das sagt Igor Levit in dem Buch „Hauskonzert“, das gerade bei Hanser erschienen ist. Und so vielfältig zeigt er sich auch auf den 300 Seiten, die Florian Zinnecker mit ihm zusammen geschrieben hat.
Vom Dezember 2019 an begleitet F. Zinnecker den Pianisten ein knappes Jahr lang. Geplant war ein Jahr mit vielen Konzerten und dem normalen Alltagswahnsinn eines erfolgreichen Pianisten, doch es wurde ein besonderes Jahr mit Rückzug und Stillstand durch die coronabedingten Einschränkungen. Um so interessanter die Einblicke in das Innenleben Levits.
Das Buch zeigt Igor Levit von unterschiedlichen Seiten: den sensiblen, verletzlichen Menschen, der unter unverschämten, ungerechtfertigten, unfairen Kritiken leidet und der von Selbstzweifeln gequält wird, den besessenen Künstler, der ein riesengroßes Repertoire hat und in der Lage ist, sich in sehr kurzer Zeit neue Stücke zu erarbeiten, den politisch engagierten Mann, der sich gegen Antisemitismus, gegen rechtes Gedankengut und gegen gesellschaftliche Schieflagen wehrt.
Rückblenden machen wesentliche Schritte hin zu seinem jetzigen Erfolg deutlich. Ein Weg, der in der Kindheit in Russland beginnt, über eine holprige Schullaufbahn in Deutschland, dann über Wettbewerbe und sein Studium bei unterschiedlichen Lehrern und Professoren läuft und schließlich in eine Karriere mündet, die erst langsam, dann immer schneller an Fahrt aufnimmt, um dann durch die Pandemie jäh gestoppt zu werden. Als Leser*in erscheint einem Igor Levit oft als Getriebener, der Mühe hat, seine vielen Facetten unter einen Hut zu bringen und seine Energien zu kanalisieren. Jemand, der unbedingt auf das Echo eines Gegenübers angewiesen ist, gerade auch in seinen Konzerten.
Insbesondere wird deutlich, dass er für den herkömmlichen Konzertbetrieb eine Herausforderung ist. „Aus seiner Sicht ist Kunst, ist Musik ohne Positionierung nicht denkbar(…).“ Dadurch eckt er an und wird manches Mal zur Zielscheibe, zumal er seine Gedanken auf Twitter verbreitet und keinen Hehl daraus macht.
Das Buch bringt einem Igor Levit sehr nah, den Menschen, den Pianisten und den politischen Akteur. Dadurch, dass oftmals Interaktionen zwischen Levit und Zinnecker wie sehr spontan aufgeschrieben und nicht redigiert wirken, entsteht eine unvermittelte Lebendigkeit und das Gefühl, einen guten Einblick in das Innenleben und die Gedankenwelt des Pianisten zu bekommen, aber auch in die Härten, die eine Solistenkarriere mit sich bringt.

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