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evaczyk
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Frankfurt

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Insgesamt 275 Bewertungen
Bewertung vom 28.04.2024
Armut
Desmond, Matthew

Armut


sehr gut

In seinem Buch "Armut" analysiert der Soziologe und Pulitzer-Preisträger Mathew Desmond die Strukturen, die verhindern, warum die Ärmsten der US-Gesellschaft vom Wohlstand des Landes ausgeschlossen bleiben und trotz aller Mühen nur selten den Weg aus der Armut heraus finden. Desmond ist selbst in prekären Verhältnissen aufgewachsen und trotz des wissenschaftlich-analytischen Ansatzes ist die Wut über Missstände gerade dann beim Lesen spürbar, wenn er von individuellen Schicksalen berichtet.

Armut in einer reichen Gesellschaft ist natürlich kein Sonderstellungsmerkmal der USA, auch in Deutschland ist der Reichtum höchst ungleich verteilt und die soziale Schere klafft zunehmend auseinander. Aber, und das ist der große Unterschied zwischen den USA und Europa, die Idee des Wohlfahrtsstaates hat in Amerika nie richtig Fuß gefasst. Dass eine Krankenversicherung oder eine Sozial- und Rentenversicherung in einer der reichsten Industrienationen der Welt nicht selbstverständlich sind, habe ich noch nie verstanden.

Desmond zeigt strukturelle Benachteiligungen auf, die vor allem Arme und dann besonders arme Schwarze und Latinos treffen - sei es beim Thema Wohnen, Zugang zur Bildung, aber auch buchstäblicher Ausgrenzung etwa durch Flächennutzungspläne. Die Rechenbeispiele, die er vorlegt, machen betroffen und wütend: Dass die Aufwendungen armer Amerikaner für Mieten und Lebenshaltungskosten kaum niedriger sind als die der Mittelklasse, dafür aber für ungleich miesere Verhältnisse, dem Slumlord sei Dank. Dass Vernachlässigung ganzer Stadtteile letztlich auch die Gesundheit der Bewohner gefährdet. Die Steuerabschreibungen und Zuschüsse, die bereits Wohlhabenden ein noch besseres Leben verschaffen, während zur Verringerung von Armut zu wenig getan wird.

Ja, dass es Klientel-Parteien gibt, die die Besteuerung von Unternehmensgewinnen und Reichen so weit wie möglich abwenden wollen, das kennen wir auch aus Deutschland. Vom angespannten Wohnungsmarkt und der Miete, die gerade in den Großstädten das Gehalt auffrisst, ganz zu schweigen. Und Unternehmerkinder, die als Studenten Papas Firmenwagen fahren und in der abschreibungsfähigen Eigentumswohnung leben, während Kommilitonen zwischen Praktika und Jobben irgendwie das Studium schaffen müssen. Alles nicht fair und gerecht, aber so haarsträubend wie in den USA dann doch (noch?) nicht.

Insofern ist "Armut" auch eine Warnung, amerikanischen Verhältnissen in Europa die Tür zu öffnen. Denn die Verhältnisse sind so, dass die einen von der Armut der anderen profitieren und Ausbeutung zulassen. Und da muss man dann wiederum gar nicht erst nach Amerika blicken, sondern die Bedingungen der Scheinselbständigen auch in Deutschland genauer betrachten. Beim Lesen von "Armut" wird gleichzeitig klar, wie wichtig starke Gewerkschaften und Betriebsräte sind, um die Interessen gerade der im Niedriglohnbereich Beschäftigten durchzusetzen. Dass der Organisation der Arbeitnehmer in den USA auch im 21. Jahrhundert noch erhebliche Steine in den Weg gesetzt werden - und die Gewerkschaften selbst eine traurige rassistische Vergangenheit haben - zeigt, dass die klassische Tellerwäscherkarriere im angeblichen Land der unbegrenzten Möglichkeiten letztlich nur ein Mythos ist. In der Welt, die Desmond beschreibt, sind die Möglichkeiten sehr, sehr begrenzt.

Bewertung vom 28.04.2024
Die Bewegungs-Docs - Unser Programm für mehr Gesundheit und Leichtigkeit
Hümmelgen, Melanie;Riepenhof, Helge;Sturm, Christian

Die Bewegungs-Docs - Unser Programm für mehr Gesundheit und Leichtigkeit


sehr gut

Ganzheitlich für mehr Gesundheit

Bewegung, Ernährung, Achtsamkeit - mit einem ganzheitlichen Konzept gehen die "Bewegungs-Docs" Melanie Hümmelgen, Helge Riepenhof und Christian Sturm ihren Ratgeber an. Die drei Mediziner kommen aus verschiedenen Disziplinen - Kardiologie, Internistik, Orthopädie und haben also nicht nur Herz und Kreislauf, sondern auch Stoffwechsel, Muskulatur und Gelenke im Blick.

Der Ratgeber gibt zahlreiche Erläuterungen, wie etwa Muskulatur oder ausreichend Schlaf und Stressvermeidung ganz konkrete Auswirkungen auf die organische Gesundheit, das Wohlempfinden und nicht zuletzt die Lebenserwartung haben. Er unterstützt zugleich beim Reboot, um wieder mobil und fit zu werden, erklärt die Unterschiede von Kraft- und Ausdauertraining und welche Auswirkungen sie jeweils für den Organismus haben.

Ein drei-Wochen-Programm bietet mit kurzen und machbaren Übungen den Übergang in ein beweglicheres, gesünderes Leben: Von der Basis-Fitness über eine Feel-Good-Woche, in der Achtsamkeit, Atmen, Stretching größere Bedeutung zukommt und der Turbo-Fitness. Daneben gibt es kurze Übungsprogramme für bestimmte Krankheitsbilder, etwa Bluthochdruck, Diabetes, aber auch Knieschmerzen oder Hüftarthrose. Auch ein Selbsthilfeprogramm gegen Kopfschmerzen ist dabei. Klar stellen die Bewegungsdocs aber auch: wer eine schwerere Vorerkrankung hat, sollte vor der Aufnahme eines Trainings auf jeden Fall erst mal mit Arzt oder Ärztin reden.

Damit auch beim Thema Ernährung auf leichte und gesunde Kost gesetzt wird, gibt es auch einen kurzen Rezeptteil. Der Schwerpunkt des Ratgebers mit zahlreichen erläuternden Grafiken liegt aber eindeutig beim Thema Bewegung. Dabei sind die Autoren motivierend und zeigen anschaulich, wie unabhängig vom Lebensalter es nie zu spät ist, vom Sofa hochzukommen und die Muskeln wieder zu üben. Für überzeugte Fitnessaktive sicher zu niedrigschwellig, aber Couch Potatoes mit dem willen zur Veränderung finden hier einen sanften Einstieg, um wieder aktiv zu werden.

Bewertung vom 27.04.2024
Mord unterm Reetdach / Kristan Dennermann ermittelt Bd.1
Weißmann, Eric

Mord unterm Reetdach / Kristan Dennermann ermittelt Bd.1


gut

Makler, Mord, Melodrama

Mit Immobiliengeschäften kennt sich Autor Eric Weißmann aus: Wenn er keinen Krimi schreibt, ist er als Makler auf Sylt in seinem Brotberuf. Da lag es vermutlich nahe, einen Sylter Makler in den Mittelpunkt einer neuen Krimireihe zu stellen. "Mord unterm Reetdach" ist der erste Teil davon, und Sylt-Fans können in der Tat in der Beschreibung von Reetdächern, Heckenrosen, Dünen und unverbaubarem Meeresblick schwelgen. Einen Toten gibt es natürlich auch, Makler Kristan Dennermann stolpert buchstäblich über den Besitzer der Immobilie, die er gerade an den Mann oder an die Frau bringen soll.

Dabei hat Dennermann noch kurz zuvor, beim letzten Kontrollgang vor einer Präsentation des Hauses, im Tiefkühlfach einen Diamantring und eine Botschaft an eine Unbekannte in einer Packung gefrosteter Erbsen gefunden. Nun könnte Dennermann die Aufklärung des Todes der Polizei überlassen - aber das wäre ja für den Plot einer Makler-Krimiserie gewissermaßen tödlich. Nein, Dennermann sieht sich in der Pflicht, selbst zu ermitteln, zusammen mit seiner patenten Sekretärin und Corgie "Prince of Wales".

Angesichts des Haustieres ist schon klar: Dennermann ist Royal Fan, und mit seinem aristokratisch eingerichteten Hundezimmer im Häuschen in List passt er ja auch irgendwie auf die Insel der Reichen und Schönen. Mit reichlich neureicher Sylter Klientel hat er nicht nur in seinem Makler-Alltag zu tun, auch die Geschwindigkeit, mit der die Söhne des Toten das Haus an einen neuen Besitzer bringen wollen, ist ihm irgendwie suspekt. Und auch die reiche Teilzeit-Sylterin aus Hamburg, die Immobilien sammelt wie andere Menschen Briefmarken, ist irgendwie ein bißchen zu pushy. Wieso also glaubt der Inselkommissar, vor allem Dennermann auf die Liste seiner Verdächtigen stecken zu müssen.

Im übrigen hält der Autor reichlich Melodrama bereit: Dennermann hat in der Vergangenheit traumatisches erlebt und leidet noch immer darunter, wie gerne und häufig in die Erzählung eingeflochten wird. Jahrelang strich er als trauriger einsamer Wolf über die Insel, doch das könnte sich ändern, nachdem er sich als Retter einer Maid in Bedrängnis bewähren kann.

"Mord unterm Reetdach" ist ein nicht sonderlich blutiger Cozy-Ratekrimi mit viel Nordsee- und Inselflair. Da kennt sich der Autor aus, zur Arbeit der Polizei ist ihm eher die Phantasie durchgegangen, aber die Berufsermittler spielen hier eh nur eine Nebenrolle. Insgesamt ganz nett, aber vermutlich vor allem für Sylt-Fans.

Bewertung vom 25.04.2024
Happy Hour
Granados, Marlowe

Happy Hour


weniger gut

Zwei Partygirls in New York

Titelgestaltung und Klappentext von Marlowe Granados´Debütroman "Happy Hour" hatten mich spontan angesprochen: Zwei junge Frauen ohne Geld als (Über-)Lebenskünstlerinnen eines New Yorker Sommers. New York ist immer gut, und der Roman klang vielversprechend. Nachdem ich das Buch beendet habe, muss ich allerdings feststellen, dass das Buch einfach nicht mein Ding ist: Weder gibt es einen echten Plot, noch konnte ich den Protagonistinnen etwas abgewinnen. Das mag zum einen daran liegen, dass ich vielleicht eh nicht die Zielgruppe eines Buches bin, in dessen Mittelpunkt zwei 21-jährige sind.

Zum anderen konnte ich weder mit Ich-Erzählerin Isa noch mit ihrer besten Freundin Gala warm werden, die sich einen New Yorker Sommer lang mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten und feiern, was das Zeug hält. Dabei suchen sie sich stets jemanden (meist einen oder mehrere Männer), der die Rechnung bezahlt für Cocktails und Austern, denn die beiden haben zwar kein Geld, aber Geschmack. Und jung und schön zu sein, ist offenbar Begründung und Daseinsberechtigung genug, sich von anderen das Partygirl-Leben bezahlen zu lassen.

Dafür nehmen die beiden auch Demütigungen und Erniedrigungen durch die Sponsoren ihres süßen Lebens in Kauf und flüchten sich im schlimmsten Fall zu Freunden, die sie umsonst aufnehmen, wenn mal alles den Bach runtergeht. Sie haben weder Geld noch irgendeine erkennbare Ausbildung, dafür aber einen gewissen Markenfetischismus und Geschmack am süßen Leben. Isa hat es zudem fertiggebracht, durch Europa zu reisen, wobei ich mich frage, wie sie angesichts ihrer knappen Finanzen überhaupt den Flug bezahlt hat.

Das Buch verspricht die Entlarvung einer Klassengesellschaft, aber es bleibt letztlich bei der nicht ganz neuen Feststellung, das Geld und Schönheit gerne eine Partnerschaft eingehen und im Zweifelsfall derjenige mit dem Geld am längeren Hebel sitzt. Insofern bleibt die Handlung so oberflächlich wie die beiden Protagonistinnen. Daran können auch einige spritzige Dialoge und Beschreibungen nichts ändern. Sarkastische Beschreibungen der New Yorker Schicki-Micki-Gesellschaft haben mir in anderen Büchern schon besser gefallen. Und das ultimative literarische Partygirl bleibt auch weiterhin Holly Golightly.

Bewertung vom 25.04.2024
Tödliche Tide in St. Peter-(M)Ording
Janz, Tanja

Tödliche Tide in St. Peter-(M)Ording


gut

Tod eines Serienstars

Ein neuer Fall für die Polizei in St Peter-Ording lässt auch Insellehrerin Ilva nicht ruhen. Die Hobby-Detektivin will die Aufklärung des Todes des Seriendarstellers Titus Frank nicht allein ihrem Bruder, dem Inselpolizisten Ernie und dessen Kollegen Fred überlassen. Schließlich hatte sie schon in den vorangegangenen Fällen die Spürnase vorn.

In "Tödliche Tide in St Peter (M)Ording" von Tanja Janz erhält das Team aber zudem Verstärkung; Freds Vater, der eigentlich Familienurlaub machen wollte und aus Gelsenkirchen zu Besuch ist, ist als Kommissar im Ruhestand nicht zu bremsen und begibt sich als verdeckter Ermittler unter die Filmleute, die in St Peter Ording eine beliebte Krimireihe drehen. Bis eben eine echte Leiche alles durcheinander bringt. Und schnell steht fest: Der Tod des Serienstars war Mord.

So einiges ist in diesem Cozy-Krimi ziemlich überzeichnet und dramatisiert, einige Personen sind schon früh so verdächtig, dass Krimileser gleich wissen: der/die kann es nicht sein! Das Ermittlerteam ist liebenswert und verbreitet Familienidylle, ganz im Gegensatz zu den privaten Untiefen, die sich nach und nach im Leben des toten Schauspielers offenbaren.

Wer die vorangegangenen Bände gelesen hat, befindet sich im Vorteil, aber es ist problemlos möglich, auch ohne jede Vorkenntnis den Protagonisten dieses Nordseekrimis zu folgen. Manches Klischee zwischen Fischköppen und Ruhris wird hier gepflegt, überhaupt ist dieser Krimi eher harmlos-unterhaltsam und nicht sonderlich brutal - gute Strandkorb-Lektüre eben.

Bewertung vom 21.04.2024
Das Fenster zur Welt
Winman, Sarah

Das Fenster zur Welt


sehr gut

Poetischer Wohlfühlroman

Mit "Das Fenster zur Welt" hat Sarah Winman einen poetischen Wohlfühlroman mit märchenhaften Elementen geschrieben, in dessen Mittelpunkt Liebe und Freundschaft stehen - die Gefühle für andere Menschen ebenso wie die Liebe zu Kunst und Literatur, eingebettet in die Schönheit von Florenz und der Toskana. Hier ist es auch, wo sich in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs die 64 Jahre alte Kunsthistorikerin Evelyn und der junge britische Soldat Ulysses treffen und der aus dem Londoner East End stammende Ulysses zum ersten Mal Zugang zur Kunst der Renaissance erfährt.

Die Handlung folgt den beiden, die durch soziale Herkunft ganz unterschiedlichen Welten angehören. Evelyn, die Kunst und Frauen liebt, gerät dabei zunächst ein bißchen in den Hintergrund, während sich der Fokus auf Ulysses Welt in Hackney richtet - der Pub, in dem er ein Auskommen findet, seine Frau Peg, die sich während Ulysses Abwesenheit in einen amerikanischen Soldaten verliebt hat, von ihm ein Kind bekommen hat und irgendwie eine verlorene Seele ist, der alte Cress, irgendwie die gute Seele des Viertels, ein Mann, der mit Bäumen spricht, der cholerische Pubwirt Col und seine geistig behinderte Tochter, der Musiker Pete, der ein bißchen Boheme in die Kneipe bringt. Nicht zu vergessen Claude, der Papagei, des Shakespeare zitiert und ein eigenes Bewusstsein hat.

Ein unerwartete Erbschaft bringt Ulysses zurück nach Florenz - und er geht nicht alleine, sondern wird begleitet von Cress, Claude und der "Kleinen", Pegs mittlerweile acht Jahre alter Tochter. Peg, von der er längst geschieden ist, hat ihm die Vormundschaft über die kleine Alys hinterlassen, die künstlerisch talentiert und eine alte Seele in kindlicher Gestalt ist.

Zwischen London und Florenz spielt die Handlung, wobei nicht immer so viel passiert als vielmehr harmoniert. Freundschaften werden geschlossen, die Verbindung zur Vergangenheit gepflegt, zugleich spiegelt mit den vergehenden Jahren der Roman auch den Kulturwandel wider, von Beatnik-Zeit bis Anti-Vietnamkrieg-Bewegung. Es wird Jahrzehnte dauern, bis Ulysses und Evelyn sich wiedersehen werden, auch wenn sie sich oft nur knapp verpasst haben. "Das Fenster zur Welt" ist auch ein Appell für Toleranz, Menschen so zu nehmen, wie sie sind und verschiedenen Arten von Liebe das gleiche Verständnis entgegenzubringen.

Ist das mitunter allzu rosarot gezeichnet und ein bißchen kitschig? Möglicherweise, aber es passt zu diesem Buch, dass ein bißchen wie eine heiße Schokolade mit Sahne ist, versöhnend und tröstend mit einer Welt, die meist nicht so ist wie im Roman.

Bewertung vom 19.04.2024
Die Hamas
Croitoru, Joseph

Die Hamas


sehr gut

Geschichte einer Terrororganisation
Nach dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober haben sicherlich viele gerätselt: Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Wie konnten, gerade angesichts der beengten Verhältnisse auf dem Gazastreifen die Terroristen eine solches Waffenpersonal horten? Und wie konnte es sein, dass die israelischen Sicherheitsbehörden, seit Jahrzehnten geübt und erfahren in der Terrorabwehr, nicht rechtzeitig erkannt oder erfahren haben, was sich auf dem Gazastreifen zusammenbraute? Andere, für die der Nahostkonflikt immer sehr weit weg war, mögen gefragt haben: Was genau ist eigentlich die Hamas, was treibt sie an, was ist ihre Ideologie?


Auf all diese Fragen gibt Joseph Croitoru in seinem Buch „Die Hamas“ Antworten – und angesichts des emotional aufgeladenen Themenkomplexes Nahost ist seine sachliche Gründlichkeit gar nicht hoch genug einzuschätzen. Für alle, die sich historischen Hintergrund und ideologisch-politische Einordnung gleichermaßen verschaffen wollen, ist dieses Buch unbedingt zu empfehlen.

Croitoru greift weit zurück, in die Zeit der Staatsgründung Israels, die Verbindungen zwischen ägyptischer Moslembruderschaft und ihren palästinensischen Geistesbrüdern, zur Geschichte von PLO und Al Fattah und den im nachhinein gefährlichen und folgenschweren Allianzen Israels mit Islamisten, aus denen die Hamas hervorging, um die PLO zu schwächen - nach dem Motto: Der Feind meines Feindes ist vielleicht nicht mein Freund, aber doch nützlicher Verbündeter.

Es ist auch eine Analyse den Nahostkonflikts und der israelischen Politik in den besetzten Gebieten wie auch im israelischen Kernland, eine Geschichte gescheiterter, auch von der einen oder anderen Seite ungewollter Friedensprozesse, der Haltung der Hamas zu Juden und Christen.

Manches scheint im Rückblick wie ein Alarmsignal aufzuleuchten, etwa die Information, dass festgenommene Hamas-Kämpfer bereits 2014 im israelischen Verhör gestanden, Angriffe mit Gleitschirmen geübt zu haben. Nun ist man hinterher immer schlauer, aber die Hinweise, die Monate auch israelischer Armee-Beobachterinnen an der Grenze zum Gazastreifen, die von ihren Vorgesetzten ignoriert wurden, wie mittlerweile bekannt ist, machen den 7. Oktober dann doch zu einer Katastrophe, die in diesen Ausmaßen vielleicht hätte verhindert werden können.

Wie geht es weiter? Darauf weiß auch Croitoru keine Antwort. Der massive Militäreinsatz Israels auf dem Gazastreifen mit seinen fürchterlichen Auswirkungen für die Zivilbevölkerung kann die Hamas schwächen, besonders durch die gezielte Tötung der politischen und militärischen Verantwortlichen für den Terror vom 7. Oktober. Dass dies aber das Ende der Hamas ist, bleibt fraglich.

Bewertung vom 16.04.2024
Die Influencerin
Russ, Rebecca

Die Influencerin


gut

Melodrama um Influencerin
Ursprünglich wollte Sarah ihr Fitness- und Ernährungsprogramm dokumentieren und teilen. Doch längst schon ist sie Influencerin mit Zehntausenden von Followern. Ihr Ehemann ist auch ihr Manager, und sie können ziemlich gut von Sarahs social Media-Aktivitäten leben: Ein großes Haus am Stadtrand, Sponsoren, Geschenke für product placement, und immer diese Woge von Zuspruch und Fanliebe.

Bis die Verehrung plötzlich ins Gegenteil umschlägt: Ein junges Mädchen, das mit offenbar niedrigem Selbstwertgefühl und Unzufriedenheit über sein Aussehen Sarah als Idol erkoren hatte, hat sich umgebracht. Ihre letzte Nachricht war eine verzweifelte Botschaft an Sarah, auf deren Antwort sie vergeblich gewartet hatte. Und plötzlich ist das Netz bereit, Sarah gnadenlos fertig zu machen, mit Hass und Häme zu überziehen. Plötzlich muss Sarah die Schattenseiten der Internet-Berühmtheit erfahren und feststellen, dass ihrer pubertierende Tochter die digitale Dauerpräsenz der Mutter schwer zu schaffen macht.

Sarah zieht die Reißleine, deaktiviert ihren Account. Doch dann erscheint ein neuer Account, der wirkt wie ein Ableger von Sarahs. In ihrem privaten Umfeld häufen sich Vorfälle, die darauf hinweisen, dass jemand sie beobachtet und ihr schaden will. Sarah versucht Detektivarbeit in eigener Sache und stellt fest, dass irgendjemand ihr sehr, sehr nahe ist und ihre lange versteckten Geheimnisse kennt.

"Die Influencerin" von Rebecca Russ ist ein Krimi aus der Welt des Internets, die für manche - ob Influencer oder Fans - realer zu sein scheint als das richtige Leben, ohne den Schein gefilterter und editierter Beiträge zu hinterfragen. Auch die Oberflächlichkeit dieses Lebens stellt die Autorin nicht wirklich in Frage.

Während Teile der Lösung der Fragen, auf die Sarah eine Antwort sucht, für mich relativ früh feststanden, gibt es doch die eine oder andere Überraschung im Plot des Romans. Allerdings geht es mitunter arg melodramatisch zu. Vielleicht ja auch an ein Zugeständnis an die vermutlich eher junge Zielgruppe des Romans, die der Influencer-Welt aufgeschlossen gegenübersteht und die Daueraufgeregtheit der digitalen Welt als völlig normal und okay empfindet.

Bewertung vom 16.04.2024
Fannys Rache
Iczkovits, Yaniv

Fannys Rache


ausgezeichnet

Emanzipationsgeschichte, Roadtrip, spannende historische Geschichte - "Fannys Rache" von Yaniv Iczkovits ist vieles und wirkt mitunter wie eine Fusion gewaltgeladener Tarrantino-Filme mit den Geschichten von Isaak Bashevi Singer. Der israelische Schriftsteller, von Haus aus eigentlich Philiosoph, schickt seine Leser*innen zusammen mit Protagonistin Fanny auf einen Parforceritt durch das zaristische Russland - etwa zur gleichen Zeit, in der "Anatevka" spielt, aber mit weniger Gesang und mehr Blut.

Ein solcher Roman von einem israelischen Autor ist um so erstaunlicher, als die Stetl-Kultur und selbst das Jiddische lange bei vielen Israelis geradezu verpönt waren: Zu sehr wurde beides mit Ghetto-Dasein, Opferrollen und Hinnehmen von Gewalt und Leid in Verbindung gebracht, zu wenig passten die Bilder frommer Juden mit Schläfenlocken, Torahstudium und Schicksalsergebenheit in eine Gesellschaft, die auf Selbstbehauptung setzt und Parallelwelten der Ultraorthodoxen wie etwa in Vierteln wie Mea Shearim ablehnt.

Aber dann: schicksalsergeben ist Fanny Kajsman nun wirklich nicht, auch wenn sie in mancherlei Hinsicht dem Bild einer frommen jüdischen Frau aus einem osteuropäischen Stetl zu entsprechen scheint: Sie befolgt die religiösen Gebote, ist mit 25 Jahren bereits fünffache Mutter und widmet sich ganz Haushalt und Familie. Allerdings lebt sie mit ihrer Familie nicht im Stetl, sondern auf einem Dorf polnischer Gojim, hat sogar deren Sprache gelernt - das kommt vielen der alten Nachbarn nicht richtig vor. Und als sie noch Fanny Schechter hieß und zusammen mit ihrer Schwester Mende vom früh verwitweten Vater aufgezogen wurde, galt sie als "a wilde chaje", ein Mädchen, das sich nicht in die vorgeschriebene Rolle fügen wollte, sondern den Vater überreden konnte, sie das Schächten, also das koschere Schlachten, zu lehren.

Auch wenn Fanny und ihre Familie schon seit Jahren kein Fleisch mehr essen - das Messer trägt sie weiterhin bei sich. Erst recht, als sie einen Plan ersinnt, um ihrer Schwester Mende zu helfen. Deren Mann hat sich nämlich abgesetzt aus dem Stetl und ist wohl nach Minsk gegangen. Dass der Taugenichts weg ist, macht aus Fanny Sicht gar nichts, doch er hat keinen Get, einen Scheidebrief, hinterlassen, damit Mende ihr Leben wieder in geordnete Bahnen lenken kann.

Angesichts des Unglücks der Schwester entschließt sich Fanny zu einem folgenreichen Schritt: Sie wird ihren Schwager aufspüren und zwingen, Mende frei zu geben. Sie kann den stummen Fährmann Cicek Berschow überreden, sie zu begleiten, als sie bei Nacht und Nebel ihre Familie verlässt. Die Suche nach dem Schwager wird buchstäblich zu einer Räuberpistole. Fanny muss sich mit Straßenräubern und Spitzeln der Geheimpolizei, mit zaristischen Soldaten und einer antisemitischen Gesellschaft auseinandersetzen. Und schon bald wird sie von einem gefährlichen und intelligentem Gegenspieler gejagt, dem Offizier Novak von der Ochrana, der Geheimpolizei des Zaren.

Novak selbst ist, ebenso wie Cicek eine tragische Figur und in mancher Hinsicht ein gebrochener Charakter. Der Roman ist von atemlosen Tempo, bildhaft und wortgewaltig, lässt wirklich eintauchen in die gar nicht so gute alte Zeit und erzählt nicht nur die Geschichte von Fanny und ihrer Rache, sondern über die verschiedenen Lebenswelten im Russland des 19. Jahrhunderts, in Adelspalästen und Armeelagern, Kaschemmen und Stetln.

Von Fannys Reise und ihrer Rache will ich hier gar nicht viel schreiben, weil ich nicht spoilern will. Aber Iczkovits hat ein sprachlich großartiges, thematisch faszinierendes und dabei sowohl unterhaltsam wie spannendes Buch geschrieben, dessen Figuren nachhallen.

Bewertung vom 12.04.2024
James
Everett, Percival

James


sehr gut

Huckleberry Finn, von Jim erzählt

Mit seinem Roman "James" hat Percival Everett den Klassiker "Huckleberry Finn" von Mark Twain einmal ganz neu aufgerollt: Denn hier erzählt Jim, der entlaufene Sklave, mit dem Huck seine Abenteuer auf dem Mississippi erlebt. Einige Plots sind bekannt, andere kommen ganz neu hinzu. Und natürlich: es ist ein schwarzer Blick auf die bekannt geglaubte Geschichte.

Huckleberry Finn war immer die ernstere Geschichte, gegen die die Abenteuer von Tom Sawyer eben wie Lausbubenstreiche wirkten. Eine Coming of Age-Geschichte, in der auch ein durchaus kritischer Blick auf die Sklaverei geworfen wird, auch wenn Twain wegen der Verwendung des N-Worts von politisch besonders korrekten Bibliothekaren und Literaturkritikern heute als schon fragwürdig gesehen wird. Everett zeigt: Besser als Cancel Culture ist es, sich kreativ des Themas anzunehmen.

Denn James, der Sklave Jim, mag in Unfreiheit geboren worden sein, aber indem er sich das Lesen und Schreiben beigebracht hat (wie, das bleibt leider unbekannt), hat er sich gewissermaßen innerlich befreit, sich nicht nur über die Rolle erhoben, die ihm zugedacht wurde, sondern auch über manchen tumben Sklavenhalter. Denn James liest Voltaire, Rousseau, die Werke der Aufklärung.

Einer der Twists dieses Romans ist, dass die Sklaven den verhunzten Südstaatenslang nur für die Weißen sprechen, um sie im falschen Glauben ihrer Überlegenheit zu lassen, während sie tatsächlich untereinander in perfekter Schriftsprache kommunizieren. In der deutschen Übersetzung kommt dieser Slang eher als Kunstsprache rüber, aber andererseits - der Übersetzer hatte im Deutschen keine vergleichbare Entsprechung. Kein Wunder, dass James Huck in große Verwirrung stürzt, als er im Schlaf plötzlich ganz anders spricht und gar nicht mehr nach Sklave klingt.

Netter Einfall, auch wenn er unberücksichtigt lässt, dass einerseits auch die weißen Südstaatler einen recht eigenen Dialekt sprechen und andererseits bis heute viele Afroamerikaner Anstoß nehmen an schwarzen Amerikanern, die "weiß" klingen (ganz anders als beispielsweise in Großbritannien).

Bei aller Ironie und einem Humor, der sicher auch Mark Twain gefallen hätte, kommen die ernsten Themen nicht zu kurz - die Sklaverei und die Misshandlungen, das Auseinanderreißen von Familien, blackfacing und rassistisches Denken. Ein - früh absehbarer - ganz besonderer Aspekt im Verhältnis zwischen Huck und Jim kommt mir dagegen unnötig und angesichts der Gesellschaft des alten Südens auch unglaubwürdig vor. Eindringlich dagegen die Szenen, die den Preis zeigen, die Freiheitsstreben und unabhängiges Denken haben können.