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Magineer
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Köln

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Insgesamt 53 Bewertungen
Bewertung vom 14.12.2024
Low
Kleist, Reinhard

Low


ausgezeichnet

Nicht nur für Fans

Ausgebrannt, erschöpft, gefressen vom eigenen Erfolg und dem seiner Kunstfigur Ziggy Stardust: Mitte der 70er Jahre braucht David Bowie dringend eine Auszeit, muss sich selbst neu erfinden und die selbstzerstörerische Aura des glamourösen L.A. hinter sich lassen. Und wo könnte ihm das besser gelingen als in der grauen, eingezäunten und vom Kalten Krieg bedrohten Exklave West-Berlin, deren lebensfrohe Seite (denn auch die gibt es) hungrig zwischen Punk und Avantgarde, Elektro und Fashion, Irrsinn und Methode vibriert? Mit einem Umweg über Frankreich (wo er das Album vorbereitet) kommt Bowie zusammen mit Iggy Pop in die Stadt hinter der Mauer und findet dort die Kreativität, die er verloren glaubte, und den Zusammenhalt, den er brauchte. Und damit entsteht sein Jahrhundertwerk "Low", das auch heute noch zum Besten zählt, was der Thin White Duke je produziert hat ...

Musikgeschichte als Comic (oder Graphic Novel, um im Neudeutschen zu bleiben) - wahrscheinlich kann das keiner besser als der Biographiekünstler Reinhard Kleist, dessen Werk im wesentlichen Verneigungen vor all den Größen des Musikgeschäfts umfasst. Seine Johnny-Cash-Bio "I See a Darkness" wurde mit Preisen überschüttet, sein Elvis-Porträt ist ebenso gelungen wie die zwei Bände zu Underground-Genie Nick Cave. Da ist es wenig überraschend, dass auch "Low" überraschende und vielschichtige Einblicke in die Seele eines Superstars zu bieten hat - zumal Kleists Zusammenfassung von Bowies Berlin-Jahren schon der zweite Band seiner illustrierten Lebensgeschichte des Musikers ist: Vor drei Jahren erschien bereits "Starman", der Auftakt zu diesem Projekt, in dem es um die Zeit vor Berlin geht, den Wahnsinn des kometenhaften Aufstiegs von Bowie, die Ziggy-Stardust-Phase, den Exzess des Erfolgs, der letztlich zwingend Bowies Flucht nach Europa einleiten muss. Man muss den ersten Band nicht gelesen haben, aber es hilft, falls man ansonsten noch gar nichts über Bowie weiß. Darüber hinaus ist "Low" aber sehr gut alleinstehend genießbar.

Reinhard Kleists Zeichnungen bleiben sachlich, seine Panels sind übersichtlich und bedienen keine Kunst nur um der Kunst willen, aber vielleicht macht genau das auch die Faszination seiner Arbeit aus. In "Low" steht Berlin im Mittelpunkt, jenes rotzige, gleichzeitig politische und apolitische Anarcho-Ungetüm, dessen isolierte Lage Fluch und Segen zugleich war und gerade in der Hochphase dieser Isolation ein Auffangbecken für all diejenigen, die vor der Langeweile flüchteten, vor dem Überfluss, vor Kreativengpässen und Mutlosigkeit und sich dann dort trafen, in den Straßen, die irgendwann in Mauern endeten und in denen doch alles möglich war. Kleist fängt diese faszinierende Subkultur der Mauerstadt in vielen kleinen Details ein, verbindet sie mit Bowie, der Schritt für Schritt seine neue Welt entdeckt, und vergisst auch Freunde und Weggefährten wie natürlich seinen WG-Genossen Iggy Pop oder die schillernde Romy Haag dabei nicht und dokumentiert so ganz nebenbei auch den Entstehungsprozess des Albums in den legendenumrankten Räumen der Hansa-Studios.

"Low" ist Künstlerbiographie, spannende Lebensgeschichte und nostalgische Rückschau auf eine Zeit, als Musik noch Bedeutung hatte und die Welt eine andere war. Faszinierend realistisch und halluzinatorisch fantastisch zugleich, ein Stilmix, eine Hommage und ein Abgesang auf eine Epoche, in seiner dunklen Lebensfreude von sogartiger Wirkung: Reinhard Kleist macht - wieder mal - süchtig nach mehr ...

Bewertung vom 19.10.2024
Tage einer Hexe
Dimova, Genoveva

Tage einer Hexe


sehr gut

Slawisch inspirierte Fantasy

Kosara ist eine eher mittelmäßige Hexe, die sich in der düsteren Stadt Chernograd durchs Leben schlägt - was besonders in den zwölf Tagen nach Neujahr gefährlich ist, wenn eine Armee an Monstern über den Ort herfällt und es besonderer Magie und Talismane bedarf, um die finsteren Nächte zu überleben. Eines dieser Monster (der Zmey) ist das gefährlichste von allen und hegt zudem noch einen persönlichen Groll gegen Kosara. Um dem Zmey zu entkommen, tauscht die Hexe ihren Schatten gegen eine Fluchtmöglichkeit in die Nachbarstadt Belograd - ein heller, lichtdurchfluteter und reicher Ort, in dem die Menschen in geradezu dekadentem Luxus schwelgen, getrennt von Chernograd durch eine fast unüberwindbare magische Mauer. In den Straßen von Belograd stolpert Kosara auf der Suche nach ihrem Schatten über ein grausames Verbrechen und muss mit der Unterstützung eines aufrechten Polizeikommandanten nach dem Dieb und Mörder jagen - bevor die Schattenkrankheit sie innerhalb weniger Tage tötet ...

Der bulgarischen Autorin Genoveva Dimova ist mit ihrem auf Englisch verfassten Romandebüt gleich ein verblüffend innovativer Geniestreich geglückt, dessen faszinierende Welt den Leser sofort in ihren Bann schlägt. Eine intelligente Mischung aus urbaner Fantasy, einem Hauch Steampunk und düsterem Mysterykrimi, die vor allem von ihren unverkennbar in der slawischen Folklore verankerten Wurzeln profitiert und auf fesselnde Weise ein Panoptikum aus mythischen Wesen und albtraumhaften Sagengestalten vom Balkan mit einer Zwei-Klassen-Gesellschaft verwebt, die mal mehr und mal weniger subtil auch auf gesellschaftliche und politische Missstände in unserer aktuellen Welt und Zeit hinweist. Dabei hebt Dimova nie belehrend den Zeigefinger, sondern stellt mit ihrer Protagonistin Kosara eine Figur in den Mittelpunkt, die weder moralisch perfekt noch magisch hochbegabt einen Durchschnitt verkörpert, der in einer Ära der Superhelden und Powerfrauen erfrischend normal wirkt.

Dass sich derartiges Lesefutter dann auch noch ausnehmend unterhaltsam an wenigen Abenden vorm Kamin verschlingen lässt, ist dann noch das Sahnehäubchen auf einem einzigartigen Fantasy-Debüt. Der zweite (und letzte) Teil der Reihe darf also gern kommen!

Zur deutschen Ausgabe aber dennoch ein Wort: Zwar hat Klett-Cotta mal wieder keinerlei Kosten und Mühen gescheut, um aus "Tage einer Hexe" eine wunderschöne Hardcover-Ausgabe (toll mit Goldfolie und farbigem Buchschnitt!) herauszuholen und hat auch anderweitig wieder bewiesen, dass ihre Verlagsauswahl exquisit wie immer ins Ziel trifft - aber den einen Stern Abzug holt sich hier leider die etwas lieblose Übersetzung, die gleich im zweiten Absatz mit falsch gesetzten Kommata einen im Deutschen ohnehin schon etwas gestelzten Satz unnötig sinnentstellt ("Die Gäste saßen dicht gedrängt, Schulter an Schulter, hoben sie die Gläser.") Danach fängt sich der Stil zwar ein wenig, wirkt aber an vielen Stellen immer noch seltsam hakelig, manchmal flapsig und oft emotional völlig unberührt, so dass sich der Lesesog der englischen Fassung hier nur schwer einstellt. Das ist schade, und ich hoffe, dass man sich beim zweiten Band wieder ein bisschen mehr auf Qualitätskontrolle verlässt, um die einzigartige Stimmung der von Dimova so perfekt kreierten Welt auch angemessen herüberzubringen.

Wer sich von diesem Schönheitsfehler nicht abschrecken lässt und vollumfänglich in diese Leseerfahrung eintaucht, wird jedoch mit einem der erstaunlichsten und fantasievollsten Romandebüt seit Jahren belohnt. Also traut euch!

Bewertung vom 11.10.2024
Verborgene Fabelwesen der Meere
Schäfer, Florian

Verborgene Fabelwesen der Meere


ausgezeichnet

Große historische Fantasy

Eines vorweg: Die Aufmachung von "Verborgene Fabelwesen der Meere" ist schlichtweg atemberaubend (und dabei wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass dies natürlich ein wichtiger Teil der Verlagsphilosophie von arsEdition ist). Ein wunderschönes zweifarbiges Hardcover, mit geprägtem Silberaufdruck auf edlem Blau, dazu ein Sonderformat, dass man sonst nur von hochwertigen Kunstbildbänden kennt, machen das Buch schon von außen zum idealen Coffee-Table-Dekostück.

Die Gestaltung setzt sich innen qualitativ nahtlos fort - Florian Schäfers fantasievolle Fortsetzung von "Fast verschwundene Fabelwesen" begleitet erneut den Mythozoologen Konstantin O. Boldt im 19. Jahrhundert auf einer unglaublichen Reise in eine Welt voller legendenhafter Kreaturen, diesmal unter der Meeresoberfläche. Seine Abenteuer werden in Schrift und Bild festgehalten, in Tagebucheinträgen formuliert, aber auch mittels alter Karten, detaillierter Zeichnungen und authentisch zurechtgemachter Berichte dokumentiert, die in ihrer Gesamtheit eine fantastische Alternativwelt-Geschichte in einer Vergangenheit erzählen, die unserer zwar historisch weitgehend ähnlich ist, aber durchsetzt ist von den Wesen und Kreaturen aus Mythen und Legenden, mit denen die Menschheit inzwischen gelernt hat, zu koexistieren. Ein Fake-Geschichtsatlas, wenn man so will, aber was für einer: Irgendwo zwischen Jules Verne und modernem Steampunk fabuliert Schäfer, immer in enger Kooperation mit seiner Ausnahmegrafikerin Elif Siebenpfeiffer, von aufregenden Abenteuern auf einer Reise in die letzten unerforschten Winkel der Erde.

Das wirkt aufgrund der gesamten Gestaltung der Erzählung so unfassbar lebendig und bis ins kleinste Detail authentisch, dass man sich als Leser immer wieder dabei erwischt, einfach nur im Buch zu blättern und fasziniert alte Zeitungsausschnitte oder Briefe zu studieren, um immer tiefer in die Geschichte abzutauchen. Eine ganzheitliche Erfahrung, die aus einer schon brillanten Grundidee einen immersiven Trip macht, den man sich wieder und wieder wünscht - bitte mehr davon!

Bewertung vom 23.09.2024
Spellshop
Durst, Sarah Beth

Spellshop


ausgezeichnet

Entschleunigung für alle

Eins vorweg: Cozy Fantasy, momentan (und sowieso spätestens seit Travis Baldrees "Legends & Lattes") einer der heißesten Trends auf dem Buchmarkt, ist Eskapismus pur, ein Subgenre innerhalb einer literarischen Gattung, die ohnehin schon ihre Leser in fremde und wundervolle Welten entführt. Natürlich ist dieser Trend kein völlig neuer, da auch in der Vergangenheit viele Fantasy-Autoren schon auf Elemente idyllischer Verklärung und Found-Family-Tropes gesetzt haben (etwa Terry Brooks' völlig unterschätzte Landover-Saga) und selbst ein bissiger Humorist wie Pratchett mit seinen Scheibenwelt-Romanen eine ähnliche Herangehensweise nutzte, auch wenn er sie nahezu durchgehend ins Absurde übersteigerte.

Den letzten Anstoß für die aktuelle Beliebtheit des Genres lieferten dann tatsächlich andere Medien, die schon länger mit der Sehnsucht nach Entschleunigung experimentieren und damit bereits wichtige Impulse für das medienübergreifende Phänomen Cottagecore lieferten: Vorreiter waren Videospiele wie das knuffige "Stardew Valley" oder das aus Deutschland stammende "Dorf-Romantik" sowie eine Vielzahl an Mangas und Animes, die mit Serien wie "Spice & Wolf" oder "Laid Back Camp" das sogenannte Slice-of-Life-Genre erst so richtig etablierten. Und natürlich war da auch der literarische Vorreiter Cozy Crime/Cozy Mystery, der nie wirklich aus der Mode kam und vieles von dem vorgemacht hat, was seinen kleinen Fantasy-Bruder auszeichnet: die Idylle einer dörflichen Gemeinschaft, ein vertrauter Alltag, der durch Ereignisse in der Regel nur leicht aus dem Tritt gebracht wird, und ein generell niedriger Konfliktlevel, der schwerwiegende Probleme und existentielle Dramatik weitgehend ausspart.

Mit anderen Worten: Nein, Cozy Fantasy ist nicht zwangsläufig "langweilig".
Cozy Fantasy ist Zen.
Cozy Fantasy ist ein bisschen Meditation.
Cozy Fantasy ist Entschleunigung.
Also keine Angst, das muss so!

Und hier kommt Sarah Beth Durst ins Spiel: "Spellshop" ist die Quintessenz gemütlicher Cozy Fantasy. Kiela ist eine grundsympathische Protagonistin, die nur für ihre Bücher lebt, den Unruhen eines Aufstandes in der Hauptstadt entflieht und zurück auf der heimatlichen kleinen Insel landet, der sie einst entfliehen wollte. Caz ist ihr Sidekick - eine wandelnde Topfpflanze (okay, eigentlich ein Spinnenkraut) mit einigen Neurosen und sehr unterhaltsamen Sprüchen. Und dann ist da noch Larran, der Seepferdzüchter von nebenan. Damit beginnt ein wunderbar entspanntes Abenteuer für Kiela, die erst einmal das alte Haus und den Garten auf Vordermann bringen muss, bevor sie sich ans Marmelade-Kochen und ähnlich beruhigende Tätigkeiten machen kann.

Klingt nicht sehr spannend? Ist es aber. "Spellshop" ist Comfort Food, das Leibgericht in der rustikalen Landküche, die heiße Tasse Kakao vorm gemütlichen Kamin, der laue Sommerabend auf der Terrasse. Zwar kommen später durchaus einige Probleme auf Liera und Caz zu, aber nichts davon ist so bedrohlich, dass es den Leser aus der vertrauten Kuschligkeit herausreißen könnte. Ein gewollter Effekt in diesem Genre, und selbst für Skeptiker eine Erfahrung, die man durchaus mal machen sollte, bevor man sich wieder dem nächsten Thriller zuwendet.

Neben Travis Baldree, T.J. Klune, Sangu Mandanna, Lydia Kang und Rebecca Thorne behauptet sich auch Sarah Beth Durst locker im Spitzenfeld der Cozy-Fantasy-Autoren - mit locker-leichter Schreibe, sympathischen Charakteren und einer großen Portion an idyllischer Wohlfühlatmosphäre ist "Spellshop" die ideale Einstiegsdroge ins Genre: für jung und alt, für gestresste Großstädter und ruhesuchende Urlauber, für Gelegenheitsliteraten und Fantasy-verrückte Vielleser. Entschleunigung für alle. Unbedingt ausprobieren!

Bewertung vom 08.09.2024
Ich fürchte, Ihr habt Drachen
Beagle, Peter S.

Ich fürchte, Ihr habt Drachen


ausgezeichnet

Der absolute Goldstandard!

Peter S. Beagle ist der Letzte einer aussterbenden Art von Fantasyautoren - ein Sprachkünstler, der eben keine drei bis acht Bände einer Fantasyreihe braucht, um seinen Protagonisten Gewicht zu verleihen. Im Gegenteil: Auf gerade mal 300 Seiten erschafft er eine Welt, die noch lange im Gedächtnis bleibt, ein sprachlich makelloses Epos, dessen Figuren so prägnant und ausgeformt sind, dass der Leser innerhalb weniger Seiten in ein Universum eingesogen wird, das seinesgleichen sucht. Das war natürlich schon im "Letzten Einhorn" der Fall, jenem Werk , das ihm Weltruhm eingebracht hat, nicht zuletzt aufgrund seiner kongenialen Zeichentrickverfilmung.

Aber selbst 50 Jahre später bleibt Beagle der Goldstandard unter den aktuellen Fantasy-Schreibern - er ist letztendlich der klassisch gebildete Schriftsteller, für den Fantasy nur ein weiterer Tummelort ist, um seine Fantasien in sprachliche Bilder umzusetzen. Er ist einer der wenigen, die bereits kurz nach Tolkien das Genre für sich entdeckt haben, und ähnlich wie seine zeitgenössischen Kollegen (Michael Ende, Ursula K. LeGuin, Michael Moorcock) ist das Genre an sich fast bedeutungslos und nur eine Ablassader für überbordende Schreiblust und großartiges Talent. Auch "Ich fürchte, Ihr habt Drachen" ist, auf sich selbst reduziert, nur eine kleine Geschichte in einer märchenhaften Welt, aber Beagle macht aus seiner recht knuffigen Prämisse keine moderne Meta-Fabel, sondern bleibt dem klassischen Erzählschema so treu, dass man sich wünscht, die Geschichte möge niemals enden. Eine wunderbar altmodische Rückkehr zu den Wurzeln der Fantasy, geschrieben von einem, der es wissen muss wie kein zweiter. Ein absoluter Home Run für den Klett-Cotta-Verlag!

Bewertung vom 18.08.2024
Signum / Stormland Bd.2
Lindqvist, John Ajvide

Signum / Stormland Bd.2


ausgezeichnet

Thriller-Nachschlag

Nach den Geschehnissen rund um das Mittsommerparty-Massaker im letztjährigen Auftaktband geht es in "Signum" nun endlich weiter mit den Hauptfiguren. Während Astrid die Vergangenheit zu verarbeiten versucht, hat Kim schon seine ganz eigene Methode dafür gefunden und hält seinen ehemaligen Doktor, den Peiniger seiner Kindheit, in Gefangenschaft. Julia taucht währenddessen tiefer in die Recherchen zu einem neuen Roman ein und kommt einer rechtsextremen Bewegung gefährlich nahe.

Ja, idealerweise sollte man "Refugium", den ersten Band der Mittsommer-Trilogie, gelesen haben, um "Signum" in all seinen Details zu schätzen, aber nötig ist das aufgrund gut eingeflochtener Verweise nicht unbedingt. Leider gilt aber auch für die Fortsetzung der vielzitierte Grundsatz, dass man nicht jeden Erfolg wiederholen können wird. Kommerziell gesehen gilt das vielleicht weniger (da habe ich bei den Auflagenzahlen Lindqvists keine Angst), aber qualitativ lässt "Signum" tatsächlich etwas nach, weil dem Sequel der rote Faden des Originals fehlt, in dem ein monströses Verbrechen den Auslöser für eine ganze Reihe von Handlungsebenen bildete. Hier dagegen ist man mehr mit Reflexion beschäftigt, mit alten Wunden und persönlichen Dingen - die sind für sich gesehen durchaus auch nicht uninteressant, denn Lindqvists Trumpfkarte waren und sind seine realistischen Figuren (selbst wenn sie so offensichtlich von Stieg Larssons Millennium-Erfolg inspiriert sind), und jemandem wie Kim folgt man auch einfach gern durch die Story, aber als Leser des ersten Teils erfährt man wenig Neues aus der Gedankenwelt der geliebten Charaktere. Das ist schade und mindert den Lesespaß, auch aufgrund mangelnder großer Actionsequenzen und der reduzierten Schauplatzwechsel. Dennoch: Immer noch ein "guter" Thriller und für Leser des ersten Bandes auf jeden Fall lohnenswert - vielleicht haben wir hier ja nur ein vorübergehendes Formtief auf dem Wege zu einem umso grandioseren Finale in Teil 3!

Bewertung vom 18.08.2024
Die unendliche Reise der Aubry Tourvel
Westerbeke, Douglas

Die unendliche Reise der Aubry Tourvel


ausgezeichnet

Wirklich magisch

Die junge Aubry Tourvel ist noch keine zehn Jahre alt, als eine rätselhafte Krankheit sie dazu zwingt, alle paar Tage ihren Aufenthaltsort zu ändern. Bleibt sie länger, als die Zeitspanne es erlaubt, wird sie sterben. Viele Jahre später erzählt sie ihre Geschichte auf einem Flussdampfer in Siam und entfaltet vor uns einen abenteuerlichen Bilderbogen der bekannten (und weniger bekannten) Welt im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert.

Douglas Westerbekes Debütroman wird seine Leserschaft sicherlich in zwei Lager spalten, denn "Die unendliche Reise der Aubry Tourvel" ist weder konsensfähiger Romantikkitsch noch (archetypische) Fantasy, sondern tatsächlich ein Rücksturz in die klassische Abenteuerliteratur vom Schlage eines Jules Verne oder Conan Doyle - im Vordergrund steht die Lust an der Entdeckung, die Begegnung mit Menschen und das Staunen über all die Merkwürdigkeiten einer damals noch nicht vollständig erschlossenen Welt. Aubrys "Krankheit" ist dabei nur das Vehikel, das ihre Geschichte transportiert, eines von diversen Elementen des magischen Realismus in diesem Roman. Das muss man mögen und akzeptieren, denn die Handlung an sich entwickelt wenig Drang nach vorn und unterwirft sich Westerbekes unbedingtem Willen zu dichter Atmosphäre und seinem schon als Drehbuchautor angeeignetem Talent für faszinierende Figuren. So lässt man sich denn angenehm altmodisch treiben durch diesen Entdecker-Roman und genießt die Reise entlang der 460 Seiten. Definitiv kein Buch für Menschen mit sehr festgelegtem Geschmack oder den üblichen Erwartungen ans Genre, dafür aber ein liebevoll aufgemachtes Schmuckstück (mit grandiosem Coverartwork!) zum Immer-wieder-abtauchen. Sowas gibt es heutzutage viel zu selten, und daher mit vollem Recht beide Daumen nach oben für Aubry Tourvels fantastische Reise durch die Welt! Wunderschön ...

Bewertung vom 18.08.2024
Letzte Lügen / Georgia Bd.12
Slaughter, Karin

Letzte Lügen / Georgia Bd.12


ausgezeichnet

Return of the Thriller Queen

Natürlich gehört Karin Slaughter nun schon seit über 20 Jahren zur Speerspitze der internationalen Thriller-Autoren und dürfte zusammen mit Kathy Reichs und Gillian Flynn auch unbestritten zum amtierenden weiblichen Dreigestirn am Genrehimmel gehören. Seit achtzehn Büchern lässt sie nun ihre Forensikerin Sara Linton in der schwülen Hitze Georgias in den grausigsten Mordfällen ermitteln, zuerst gemeinsam mit ihrem Mann Jeffrey Tolliver in den sechs Teilen der Grant-County-Serie und später gemeinsam mit dem Ermittler Will Trent im GBI (Georgia Bureau of Investigation) im urbanen Dschungel von Atlanta. "Letzte Lügen", der zwölfte Band der Atlanta-Reihe, schließt nun scheinbar auch dieses Kapitel ab - und man durfte gespannt sein.

Strukturell gestaltet sich die Handlung in "Letzte Lügen" linearer als in den früheren Fällen, was vor allem damit zu tun hat, dass das auslösende Verbrechen unsere beiden Hauptfiguren mitten auf ihrer Hochzeitsreise erwischt, in einem entlegenen Resort in den Bergen, abgeschnitten vom Rest der Zivilisation und nur mit einer Handvoll weiterer Verdächtiger (und potentieller weiterer Mordopfer) im direkten Umkreis. Ein klassisches Whodunit also, ein Murder Mystery, das aber dennoch unverkennbar Slaughters Handschrift trägt. Der Fall reißt alte Wunden auf, fördert Ereignisse und Verbindungen in der Vergangenheit zu Tage, die bislang im Dunkeln lagen und gibt sich auch sonst unerbittlich düster und ergeht sich - für die Meisterin des Blutvergießens typisch - erneut in expliziter Brutalität.

Fans der Autorin wird das nicht überraschen, denn Gewalt war schon immer ein ständiger Begleiter im beruflichen und privaten Leben von Sara und Will - und Slaughter hat sich nie davor gescheut, das Böse mit schmerzhafter Offenheit und in allen Details auf ihre Figuren und Leser loszulassen, was sie letztlich auch von ihren gemäßigteren Kolleginnen wie eben den oben erwähnten Kathy Reichs und Gillian Flynn unterscheidet. Allenfalls eine (leider schon verstorbene) Mo Hayder ist in ihren Romanen ähnlich rabiat vorgegangen, und auch bei ihr waren die Meinungen dazu stets geteilt. Sei's drum, "Letzte Lügen" dreht zum Abschluss der Reihe noch einmal richtig auf, bleibt durchgehend spannend, einigermaßen logisch und psychologisch fundiert, wirkt aber dennoch immer ein bisschen zu aufgedreht für sein eher klassisches Setting. Das ist im Vergleich mit neunzig Prozent der restlichen Autoren im Thrillergenre immer noch Premiumklasse, kommt aber nie ganz an frühere Glanzlichter im Linton/Trent-Universum heran und schon gar nicht an die atemlos aktuelle Dringlichkeit in der vorhergehenden Grant-County-Serie, die immer noch Maßstäbe für den modernen, harten Südstaaten-Thriller setzt. Das ist jedoch Geschmackssache, die sich an Details entscheidet (zum Beispiel, ob man eher Will-Trent-Fan oder Jeffrey-Tolliver-Nerd ist) und reißt die Top-Bewertung nicht nennenswert nach unten. Karin Slaughter bleibt einfach das Maß aller Dinge in ihrem Bereich, und wer sich an gar zu unappetitlichen Einzelheiten nicht stört, sondern das genauso in einem morbiden Psychokrimi erwartet, wird auch das große Finale bis zur letzten der fast 600 Seiten verschlingen. Top-Tipp für den Thrillersommer!

Bewertung vom 12.06.2024
Aufbruch in eine neue Welt / Savannah Bd.1
Wilke, Malou

Aufbruch in eine neue Welt / Savannah Bd.1


sehr gut

Historische Auswanderersaga

"Savannah", dessen erster Teil hier passend den Untertitel "Aufbruch in eine neue Welt" trägt, hat durch seine Prämisse natürlich den Vorteil, gleichzeitig eine ganze Reihe beliebter Elemente bedienen zu können: detaillierte historische Panoramen, die Abenteuerlichkeit der Reise in eine unbekannte Ferne, zahlreiche Figuren in diversen Beziehungen zueinander, die auch romantische Erzählanteile ermöglichen, und natürlich die immer wieder gern genommene starke unabhängige Frauenfigur im Mittelpunkt. Hier ist das die junge Nellie, die im Preußen des Jahres 1732 zuerst schwanger von ihrem Vater aus dem Haus geworfen wird, für ein Weilchen bei der Familie ihres Cousins unterkommt, wo ihre uneheliche Tochter geboren wird, und dann mit dem entfernt verwandten Zimmermann Justus ihre Chance wahrnimmt, um sich in England in Richtung Amerika einzuschiffen, wo gerade dringend Siedler für die neue Kolonie Georgia gebraucht werden. Gerade in dieser turbulenten Zeit impliziert das natürlich die Möglichkeit für reichlich Abenteuer - und ebenso auch die Hoffnung auf einen romantischen Neuanfang mit dem Engländer Samuel ...

"Savannah" bedient auf knapp 600 Seiten letztlich genau die Erwartungen, die man an einen historischen (Frauen-)Roman stellt, und bleibt bis zum letzten Kapitel unterhaltsam und abwechslungsreich. Natürlich muss man sich als Zugeständnis durchaus an den einen oder anderen romantischen Einschub gewöhnen und dem Klischee der auch vor knapp 300 Jahren starken und aufgeklärten Frau gutmütig ein paar Anachronismen durchgehen lassen, aber das ist nun mal der Markt, für den Malou Wilke schreibt. Ansonsten liest sich ihr Debüt durchgehend flüssig, greift nur manchmal auf zu viele Adjektive zurück und neigt zu einigen doch sehr blumigen Passagen - aber das verzeiht man ihr angesichts der abenteuerlichen Gesamthandlung dann doch recht schnell. Sicherlich kein anspruchsvolles Literaturkunstwerk, aber gerade für den kommenden Sommerurlaub als Strandkorb- oder Balkonlektüre genau das Richtige. Man darf auf Teil 2 (ab Anfang 2025) durchaus gespannt sein.

Bewertung vom 19.05.2024
Bücher und Barbaren / Die Viv-Chroniken Bd.2
Baldree, Travis

Bücher und Barbaren / Die Viv-Chroniken Bd.2


ausgezeichnet

Kuschelfantasy deluxe!

Eigentlich lebt die Söldnerin Viv für den Rausch der Schlacht, doch mit Krieg und Kämpferei ist es für den Moment vorbei, nachdem sie bei einem Scharmützel mit magischen Skeletten den Kürzeren zieht. Mit dem Versprechen, sie bald wieder abzuholen, setzt ihr Trupp die Orc-Kriegerin zur Genesung in einer idyllischen Kleinstadt am Meer ab - und Viv könnte sich an diesem beschaulichen Ort nicht stärker langweilen. Doch dann stolpert sie über die Bücherei der Rättin Fern und Maylees Bäckerei und lernt eine ganz neue Sichtweise auf die Dinge kennen. Schon bald will sie gar nicht mehr wirklich weg ...

Mit "Magie & Milchschaum", dem ersten Teil seiner Saga um die Kriegerin Viv, gab Travis Baldree dem Genre Cozy Fantasy auf Anhieb ein neues, erfolgreiches Gesicht. Und so folgt natürlich auch "Bücher & Barbaren", sein zeitlich vor dem Auftakt angesiedeltes Prequel, der altvertrauten Formel, die sich dank Baldrees meisterhaftem Sinn für reichlich Atmosphäre so kuschlig anfühlt wie ein jahrelang getragener Lieblings-Wollpullover. Schnell schließt man die skurrilen Charaktere und ihre alltäglichen Sorgen ins Herz und lässt sich fallen in eine Fantasywelt, in der man sich uneingeschränkt wohlfühlen kann. Und wer hier zu wenig Inhalt und Konflikt bemängelt, hat schlicht den Sinn des Genres Cozy Fantasy (alternativ und hier auch recht zutreffend als "Cottagecore" bezeichnet) noch nicht verinnerlicht.

Fantasy war schon immer eine der eskapistischsten Literaturgattungen überhaupt. Cozy Fantasy steigert dieses Verlangen nach einer Flucht in andere Welten nun noch einmal mehr, indem sie den Wohlfühlfaktor in den Vordergrund stellt (ähnlich wie die berühmten britischen Cozy Crimes das mit schrulligen Ermittler:innen und beschaulichen Dörfchen tun, in denen Verbrechen nur ein lästiges Hindernis auf dem Weg zum nächsten Kaffeeklatsch sind). Wer also im "Herrn der Ringe" immer schon die Dorfgeschichten im Auenland am spannendsten fand, bei "Harry Potter" die Ausflüge in die Winkelgasse und nach Hogsmeade genossen hat und am Computer stundenlang in den Spielewelten von "Animal Crossing" oder "Stardew Valley" abtaucht, für den ist "Bücher & Barbaren" ein ganz klarer Fall - unbedingt lesen! Die Kenntnis des Vorgängers, der zeitlich ohnehin Jahre nach der hier geschilderten Handlung spielt, ist zwar nicht zwingend erforderlich, aber unabhängig davon ist auch dieser mindestens genauso zu empfehlen. Travis Baldree hat sich mit den Geschichten um Viv zu Recht zum unangefochtenen König der Kuschel-Fantasy aufgeschwungen - dieses Buch macht süchtig!