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Benutzername: 
Rita Fischer
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 11 Bewertungen
12
Bewertung vom 22.09.2020
Ein Mann der Kunst
Magnusson, Kristof

Ein Mann der Kunst


sehr gut

Magnusson, Kristof:
Ein Mann der Kunst
Kunstmann-Verlag 2020
237 Seiten

KD Pratz..
Klaus Dieter? Karl Detlef?
Nein, KD Pratz wie HA Schult, Akronyme, kryptische Kurzformen gemeiner Vornamen als künstlerisches Alleinstellungsmerkmal.

KD Pratz ist Künstler, ein Malerfürst der Düsseldorfer Schule, ein Eremit, der abgeschieden auf seiner Burg im Rheingau lebt und arbeitet. Er gilt als genial, schwierig, menschenscheu und radikal. Er selbst begreift sich als Handwerker, „weil die Kunst am Ende ist.“

Ein Kunst- Förderverein aus Frankfurt will darüber entscheiden, ob ein geplanter Museumsanbau ausschließlich ihm und seinem Werk gewidmet werden sollte, und begibt sich auf eine Kulturreise an den Rhein, um u.a. einen geführten Blick in KD Pratz‘ abgeschottetes Atelier auf Burg Ernsteck zu werfen.

Der Ausflug in den malerischen Rheingau erweist sich bald als alptraumartige Pilgerreise, deren geplantes Ziel beinahe verfehlt wird. Beinahe. Der Künstler greift zu Mitteln, die als Happening mit Actionpainting eine neue Kunstform kreieren.

Die Kunstwelt gewinnt so eine neue Sichtweise auf den Künstler. KD Pratz ist wieder präsent und -bleibt in seinem Elfenbeinturm.

Der Autor Kristof Magnusson seziert die Kunstwelt, ihre Strömungen und die Avantgarde der zeitgenössischen Kunst. Mit spitzer Feder arrangiert er um den rheinischen Elfenbeinturm herum die Befindlichkeiten des Bildungsbürgertums und seine fordernde Anspruchshaltung. Er beobachtet den Kunstbetrieb und lässt den Leser amüsiert zuschauen.
Rita Fischer 2020

Bewertung vom 09.12.2017
Schwarz und Weiß
Dische, Irene

Schwarz und Weiß


sehr gut

Schwarz und Weiß. Keine Zwischentöne. Der Holzschnitt im Einband kennt nur zwei Farben: die des Papiers (in der Regel weiß) und die der Druckfarbe (in der Regel schwarz). Auch dieser Roman hat keine Grautöne. Er ist weder versöhnlich noch beschwichtigend und er macht nichts gut. Er ist unerbittlich tiefschwarz und die Charaktere sind weiß im Schwarzen und schwarz im Weißen. Soviel zur Farbgebung.
Man könnte den Roman einen Entwicklungsroman nennen. Ein junger Schwarzer aus den Südstaaten kommt Anfang der Siebziger ins brodelnde New York. Er ist unbedarft und dadurch formbar. Sein Gaumen ist frisch und die Knospen lernfähig. Ein Weinhändler sucht einen Assistenten, um reichen New Yorkern die teure Währung Wein schmackhaft zu machen. So wird Duke Weinverkoster, nicht irgendeiner, nein, DER Experte. Seine junge bildhübsche blonde Frau Lili, die sich von einem hässlichen Entlein zu einem erfolgreichen Super-Model wandelt, liebt ihren großen naiven, unschuldigen, unverdorbenen schwarzen Mann Duke. Schon bald gehören beide zur hippen New Yorker Gesellschaft. Ihre Liebe ist beispiellos groß, nicht klein und mittelmäßig. Zwischentöne gibt es nicht.
Schönheitswahn, Kokain, Sensationsgier im Schein der Schönen und Reichen, ein bisschen Showbiz von Liz Taylor bis zum Schah von Persien, das alles très chic und gleichzeitig dekadent, füllen die Seiten und die der Klatschpresse in den 70-igern. Der Jahrtausendwechsel naht, die Angst vor AIDS greift um sich und die damals neuesten Errungenschaften der Technologie wie Walkman und PC entwickeln sich milleniumtauglich.
Duke ist naiv, schlicht, unerfahren und gutgläubig. Er kennt keine Steuererklärung und hat kein eigenes Bankkonto. Geld ist für ihn „Privatsache“. Seine Liebe zu seiner Frau bleibt trotz stiller Verdachtsmomente jahrelang unangetastet.
Lili lebt ihr verwöhntes Leben als It-Girl. Sie muss im Mittelpunkt stehen, koste es, was es wolle. Dafür geht sie über Leichen. Menschen, die ihr von Nutzen sein könnten, werden zum Spielball ihrer Eitelkeiten. Sie ist die Meisterin im Ränkeschmieden und schreckt vor nichts zurück. Sie so direkt, dass es weh tut.
Neben den beiden Protagonisten gibt es noch weitere Hauptpersonen, an denen sich die Story reibt: Jo, die weiße Mutter des schwarzen Duke, die Stimme aus dem Off, die richtigstellt und kommentiert, und die Stones, Lilis Eltern, er Professor und sie Journalistin. Letztere leben in der Upper West Side, umgeben von überquellenden Bücherregalen und intellektuellen Freunden. Wer ihre Dinnerpartys besucht, ist wichtig. Beide besuchen regelmäßig ihren Psychiater. Und doch gerät ihre Welt aus den Fugen.
Dukes deutschstämmige Mutter Jo hat nie richtig Fuß gefasst. Die Hassliebe zu ihrer Tochter Anne beruht auf Gegenseitigkeit.
Vietnam und Nazideutschland, eine Alleinerziehende mit farbigem Kind, Rassenressentiments, eine reiche Hollywood-Schönheit ohne Publikum, spätes Coming-out eines gestandenen Heteros, eine Nutte in Kenia und eine unbekannte Tochter - das alles macht den Stoff aus Eitelkeiten aus und zündet ein Fegefeuer. Menschliche Tragödien werden wie beiläufig lakonisch angeführt und lassen den Leser atemlos zurück.
Der Schluss lässt so manche Frage offen. Warum geht es so aus, wie es ausgeht? Verweben sich Alptraum, Wunschtraum und die nackte Wahrheit so fest ineinander, weil das Leben so ist? Können die starren Strukturen der amerikanischen Gesellschaft vielleicht gar nicht aufgebrochen werden, obwohl sich die Welt in den 70-igern schneller zu drehen begann? Eifersucht, Neid, Gier und Macht können menschliche Abgründe auftun, deren Nährboden Liebe ist. Der Leser schwankt zwischen Mitleid und Angst.
Eine antike Tragödie, deren Katharsis ein Opfer braucht.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.11.2017
Die Zweisamkeit der Einzelgänger / Alle Toten fliegen hoch Bd.4
Meyerhoff, Joachim

Die Zweisamkeit der Einzelgänger / Alle Toten fliegen hoch Bd.4


ausgezeichnet

„Die Zweisamkeit der Einzelgänger“- das lang ersehnte 4. Buch von Joachim Meyerhoff!

Wer die ersten Bücher von ihm gelesen hat, der hat sich mit Sicherheit rechtzeitig den Erscheinungstag, den 9.November 2017, rot in seinen Kalender geschrieben und den Buchhändler gebeten, das Buch bitte, bitte zurückzulegen.

Entspricht es den ersehnten Erwartungen?

Ja, das tut es! Es ist wie bei der Ferrante-Trilogie: Mann-Frau macht es sich gemütlich, stellt Tee und Plätzchen bereit und den Anrufbeantworter an, schlägt die erste Seite auf … und liest… und liest.
Alles ist wieder präsent: Die Sprache. Der Witz. Die Dialoge. Die lautmalenden Charaktere und der zappelige Protagonist, der überall und nirgends ist.

Ob er nächtens hüllenlos bei Deichmann Schuhe anprobiert, die Fünf-Minuten-Terrine madig macht, sich mit Lakritzschnecken knotig verbandelt oder sich den von Zecken verseuchten Rücken absucht, man ist dabei und Komplize in der abgefahrenen Welt des Provinztheater-Mimen. Bielefeld und Dortmund sind Kulissen, die ihm -nicht- die Welt bedeuten, im Gegenteil.

Darf er das? Darf der Protagonist Namen und Orte und Zeiten verwenden, die wenig Schmeichelhaftes preisgeben? Könnte man nicht aufdecken, wer Hase und wer Intendant gewesen ist? Hat Meyerhoff mit Absicht tief in die Klamottenkiste gegriffen und sich in Rage fabuliert, Wahrheit und Fiktion verzwirbelt? Als Romanautor muss er das. Er nimmt wahrlich kein Blatt vor den eloquenten Mund und auch nicht vor Körperteile, die im Drama der Liebe wichtige Rollen spielen. Und darum geht es in diesem 4. Band: Liebe.

Der Solo-Auftritt als Pubertier mit Taucherbrille splitternackt am Strand von Elba, wo sich nackte Frauenkörper im Sand rekeln, ist zu komisch. Ebenso die „String- und Weihnachtskatastrophe“- zu witzig! Eine Ratte zu spielen und sich gleichzeitig vor sich selbst zu ekeln: schaurig-schön. Der Komödiant dreht auf und durch, der Leser kichert sich durch die Seiten.

Aber das ist nicht alles. Joachim, das Sensibelchen, will geliebt werden und sucht sie, die ultimative Beziehung. Eine reicht nicht aus, verschiedene Bedürfnisse können nur von verschiedenen Frauen angemessen befriedigt werden. Ob Hanna oder Franka oder Ilse, jede ist für Amor die Psyche. Das kann dauerhaft nicht gut gehen und verlangt dem Mann eine Menge Slapsticks ab.

Es ist ein Roman und doch fragt sich der amüsierte Leser, ob nicht mehr autobiografische Züge enthalten sind als vielleicht beabsichtigt. Meyerhoff zieht seinen Protagonisten aus. Er stülpt sein Innerstes nach außen, macht es für alle lesbar und zeigt ihn nackt und bloß und groß für alle sichtbar. Seine sprachwitzigen Dialoge übertünchen seine innere Zerrissenheit nur so lange, wie ein Gesprächspartner zugegen ist. Seine Einsamkeit holt ihn immer wieder ein. Ist er in einer Szene laut und chaotisch, wird er wieder leise und grüblerisch und hadert mit allem, vor allem mit sich selbst. Es gibt Seiten, die traurig und nachdenklich machen. Der Unfalltod seiner Jugendfreundin nimmt ihn dermaßen mit, dass er vollends seine Mitte verliert. Zu viele Menschen hat er verloren und die Toten bleiben gegenwärtig.

Diese Zweisamkeit der Einzelgänger ist ein brüllend komisches Buch und ein tieftrauriges.

Wann bitte kommt Band 5?
Möge Meyerhoff noch einmal in sich gehen. Hinterm Horizont ging´s doch weiter!?

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.11.2017
Tyll
Kehlmann, Daniel

Tyll


sehr gut

Till Eulenspiegel- wer hat den Bronzefuß nicht angefasst bei einem Besuch in Mölln? Soll das Reiben doch Glück bringen und einen wiederkommen lassen- irgendwann im Leben!

Dieser Tyll ist allerdings ganz und gar nicht unbeweglich und abwartend. Seine Füße tänzeln durch die brennenden und wunden Landschaften mitten im Dreißigjährigen Krieg.
Tyll ist der Sohn des Müllers, der eigentlich gar kein Müller sein will und der sich lieber mit der Magie und Erforschung der Mondlaufbahn beschäftigt. Während ihm seine Formeln und sein Wissensdurst zum Verhängnis werden, schenkt seine Naivität Tyll die Freiheit, die Narrenfreiheit. Dieser zieht von Marktplatz zu Marktplatz, ein Freier ohne Rechte, aber auch ohne Pflichten.
In diesem langen Krieg gibt es keine blühenden Landschaften mehr. Das Volk leidet Hunger, der Klerus bestraft Andersdenkende und der Adel nimmt sich das Wenige, das noch da ist. Den Königen kommt das Land abhanden und dem Volk der rechte Glaube. Tyll macht Karriere und hält dem Hof den Spiegel vor, der des Kaisers neue Kleider zeigt: „Das alles sei wahr, sogar das Erfundene sei wahr.“
Daniel Kehlmann lässt Goyas Gaukler auf dem Buchumschlag lebendig werden und das Mittelalter aufleben mit seinen finsteren Gassen, dem Aberglauben und der Gottesfürchtigkeit. Alpträume, Hunger und Angst verschonen auch den „Winterkönig“ nicht und lassen ihn einsam und ohne Würde sterben.
Lug und Trug, Gewalt und Macht sind Spielbälle des Glücks und machen vor niemandem Halt.
Tyll ist das Band, das die Erzählstränge verbindet und trägt. Hin und wieder scheint er kurz abhandengekommen zu sein, bis er den Faden wiederaufnimmt und sich einbringt.
Der Leser muss kein Geschichtsgelehrter sein und die historischen Zusammenhänge ableiten, um sie im Kontext zu verstehen. Denn Daniel Kehlmann zitiert aus der Geschichte und so manche Begebenheit lässt er nur wahr erscheinen.

Oder etwa nicht?

5 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.10.2017
Swing Time
Smith, Zadie

Swing Time


sehr gut

Zadie Smith: Swing Time

Man kann sich nicht davon freimachen: Das Rione mit Lila und Lenu wird im Norden Londons mit Tracey und ihrer Freundin neu lebendig.

Tracey, dunkler als die Ich- Erzählerin, absolut begabt als Tänzerin, aber haltlos, spontan und frei von Konventionen, entwickelt sich anders als die Erzählerin. Die eine, die Erzählerin ohne Namen, bleibt trotz allen inneren Widerstands Tochter einer bildungshungrigen feministischen Jamaikanerin, die sich auf Kosten ihrer Familie emanzipiert und ihre Tochter durch ständiges Hinterfragen und politisches Agieren zum kritischen Anderssein erzieht.
Die andere, Tracey, hingegen erfährt mit ihrer Mainstream-Mutter eine Verbündete gegen ihr Scheitern in einer Gesellschaft, die sie für ihren sozialen Abstieg verantwortlich machen.
In ihrer symbiotischen Komplizenschaft spielen sich beide einen erträumten Lebenszustand vor, den es nicht gibt und nie gegeben hat. Der kriminelle Vater, der sporadisch auftaucht, baut ein Haus aus Glas, das beiden Frauen zum Rückzugsort aus der Wirklichkeit wird.

Zadie Smith beschreibt die Freundschaft der beiden Mädchen in ihren Mädchenjahren und darüber hinaus ihr einander Fremdwerden in den Jahren zum Erwachsenwerden und darüber hinaus.
Sie sehen sich wenig und die Erzählerin scheint mehr unter der Entfremdung zu leiden als Tracey, die für sie Verbündete und Anker bleibt.

Obwohl die Jahre des Erwachsenwerdens mit Traceys Erfolgen als Tänzerin und das Studium der anderen in entgegengesetzte Richtungen führen, ist bei einem Wiedertreffen die verloren geglaubte Vertrautheit meist schnell wieder da.

Der Erzählerin bietet sich die Chance, nach dem beendeten Studium als Assistentin des berühmten Popstars Aimée zu arbeiten. Sie tauscht den sozial schwachen Norden Londons ein gegen den Glamour New Yorks und das Jet-Set-Leben im Learjet um die Welt. Mehr als zehn Jahre arbeitet sie im "Schatten" dieser Ausnahmekünstlerin und vergisst ihr eigenes Leben. Sie betreut nicht nur die privaten Probleme und begleitet die musikalischen Erfolge des Weltstars, sondern setzt auch deren soziales Engagement, den Bau einer Schule für Mädchen
in einem afrikanischen Dorf, trotz nie abreißender Probleme um. Freundschaften mit farbigen Mitarbeitern vor Ort prägen sie und geben ihr Nähe, die sie in ihrer Heimat London nicht (mehr) hat.
Der Vergleich mit dem Kunstwerk Madonna liegt auf der Hand.
Und da ist er, der Handlungsstrang, der von Rezensenten gefärbt in das noch naive Leseverhalten dringt! Man kann sich nicht freimachen von der Vorstellung, durch ein Schlüsselloch Madonnas Leben zu begleiten.
Zadie Smith scheint die Diva mit allen Extravaganzen studiert zu haben, als gelte es, die Starallüren, das Geltungsbedürfnis Madonnas, aber auch die leisen Momente aus dem Blickwinkel des Insiders sichtbar zu machen und zu bewerten. Das gelingt so dicht, dass dem Leser keine eigene Interpretation der Figur von Aimée bleibt. Auch ein Nicht-Eingeweihter einschlägiger Showbiz-News weiß um Madonnas Exzentrik, aber auch von ihrem ernsthaften Einsatz für Bildung in Afrika sowie von ihren Adoptionen schwarzafrikanischer Kinder.
So interessant und dicht der Roman gerade hier erzählt wird und die Suche nach dem eigenen Ich die Erzählerin quält, -der Popstar mit den Zwängen seiner Entourage bleibt im Rampenlicht stehen- "illuminated" und dominant.

Schade, das "Woher komme ich- wohin gehe ich?" verliert sich in der Auseinandersetzung im Licht und Dunkel der übergestülpten Scheinwelt. Und genau um diese Frage rankt sich von Anfang an der Kern der Erzählung: die Suche nach der eigenen Mitte.

Nur schade, dass das Madonnenbild so übermächtig ist!

Bewertung vom 06.09.2017
Die Geschichte der getrennten Wege / Neapolitanische Saga Bd.3
Ferrante, Elena

Die Geschichte der getrennten Wege / Neapolitanische Saga Bd.3


sehr gut

Ferrante, Elena: Die Geschichte der getrennten Wege

„Schleifpapier der Qualen“…, da ist sie wieder, die Sprache, die das Brodeln und Spüren der unausgesprochenen Sehnsüchte nach außen kehrt und sie lebendig macht. Der Bauch Neapels hat wieder eine Stimme und wir begleiten Lenù und Lila weiter durch ihr Leben.
Elena, Lenù, die Ich-Erzählerin, lässt uns teilhaben an ihrem Blick auf die Welt im kleinen Rione und dem großen Universum. Ihre Unsicherheit, ihr fehlendes Selbstvertrauen, ihre Mutmaßungen und ihr stilles Hinterfragen beziehen uns wieder mit ein in ihre uns schon so vertraute Welt und machen süchtig nach mehr.
Lenù trifft im Jahr 2005 ihre alte Freundin Lila, die ihren Kiez nicht verlassen hat und mit ihrem Sohn in der alten Wohnung ihrer Eltern lebt. Sie ist noch genauso spontan, wie sie es als junges Mädchen gewesen ist. Ihr Selbstbewusstsein und ihre Sprunghaftigkeit schüchtern Lenù ein. Sie will ihr Vieles anvertrauen, weiß aber auch, dass sie trotz ihrer Bildung der schonungslosen Konsequenz Lilas nicht gewachsen ist.
In der folgenden Rückblende blicken wir zurück in die Sechziger und Siebziger und erfahren, dass Lenù während ihrer Verlobungszeit Nino wiedertrifft und sich danach mit Selbstzweifeln aufreibt. Was wäre, was würde sein, wenn…?
Lenù quält sich. Andererseits trifft sie Entscheidungen. Sie heiratet Pietro, Geschichtsprofessor aus intellektuellem Haus, und lebt mit ihm und den beiden gemeinsamen Kindern in Florenz. Ihr erstes Buch erscheint und sie genießt das Ansehen einer erfolgreichen Schriftstellerin.
Währenddessen lebt Lila mit ihrem Sohn Gennaro und dem alten Jugendfreund Enzo in Neapel zusammen. Sie arbeitet sich in einer Wurstfabrik die Hände blutig. Als es in Italien zunehmend zu politischen Unruhen kommt und Faschisten und Kommunisten aufeinander einschlagen, bezieht Lila Stellung und muss die Konsequenzen tragen. Die Comorra zieht ihre Kreise um Lenù und Lila.
Weil es Lila gesundheitlich schlecht geht, will Lenù der Freundin zur Seite stehen und sie im Kampf gegen die Allmacht der Obrigkeit unterstützen, was ihr nur partiell gelingt. Sie wacht aber auf aus ihrem Hausfrauendasein und dem gut gespülten Leben und beginnt, sich mit der politischen Auseinandersetzung und dem Feminismus auch schriftstellerisch zu beschäftigen.
Eines Tages taucht Nino auf…

Der Roman fesselt wie die beiden ersten Bände der neapolitanischen Saga, weil der Leser Mitwisser ist und die Protagonisten gut zu kennen scheint. Manche Episode jedoch ermüdet wegen Lenùs Verbohrtheit, immer wieder sich und das Geschehene zu hinterfragen, abzuwägen, zu korrigieren und der Meinung der Freundin gegenüberzustellen. Da sich das wiederholt und so die Abhängigkeit beider voneinander widergespiegelt wird, erwartet man nichts Neues und der Leser kann sich die Freiheit nehmen, auch einmal ein paar Absätze großzügig zu überfliegen. Der Roman nimmt aber schnell wieder Fahrt auf und das Ferrante-Fieber glüht weiter.

Die Umschlaggestaltung ist für Nicht-Eingeweihte irreführend. Eine Schwarze mit einem Kleinkind auf dem Arm schaut von einem mediterran anmutenden Balkon in die Ferne. So könnte man auf den ersten Blick das Cover deuten. Nur „Feveristen“ wissen, dass es nur eine sein kann… So what?

Egal, das Lesen entscheidet: Wie gestalten sich „die getrennten Wege“ von Lenù und Lila?
Darum allein geht es. Die Sucht hat Futter.

Bewertung vom 30.08.2017
Charlotte Salomon
Greiner, Margret

Charlotte Salomon


ausgezeichnet

Margret Greiner: "Charlotte Salomon: Es ist mein ganzes Leben“

1325 Bilder in 18 Monaten gemalt, Charlottes ganzes Leben.
Margret Greiner hat die Lebensgeschichte der Künstlerin Charlotte Salomon aufgeschrieben. So könnte es gewesen sein- das kurze Leben dieser besonderen jungen Frau, die 1917 in die großbürgerliche jüdische Familie Salomon hineingeboren wird.
Charlottes Mutter begeht Selbstmord. Wie auch andere Blutsverwandte ist sie depressiv und von einer tiefen Todessehnsucht erfüllt. Charlotte erfährt erst als Erwachsene von ihrem Suizid.
Mit der Machtergreifung Hitlers ändert sich das öffentliche Leben Deutschlands. Charlottes Talent an der Kunsthochschule fällt auf, aber als Jüdin muss sie auch dort Diskriminierungen erfahren. Als Paula den Gesangpädagogen Alfred engagiert, verliebt sich Charlotte in ihn, -eine einseitige Liebe, die sie lange quälen wird.
Das Leben der Familie ist zunehmend der antijüdischen Stimmung ausgesetzt. Die Großeltern emigrieren nach Südfrankreich. 1939 beschließen die Eltern, dass Lotte ihnen hinterher reisen soll.
Trotz der farbenfrohen, scheinbar friedlichen Welt fühlt sie sich einsam und mit der fremden Situation überfordert. Sie igelt sich ein, übernimmt die Betreuung ihrer psychisch kranken Großmutter und dem ewig gestrigen Großvater. Schon bald müssen Charlotte und ihr Großvater am eigenen Leib den langen Arm der Hitler-Administration erfahren und werden für kurze Zeit in ein Lager in den Pyrenäen interniert.
Um ihre eigene Mitte zu finden, zieht sich Lotte entmutigt und allein in eine kleine Pension am Meer zurück und malt sich fortan wie im Rausch die Seele aus dem Leib.
Alles, was jetzt geschieht, überrascht nicht. Obwohl man als Leser weiß, welches Ende dieses Leben nehmen wird und obwohl die Bedrohung greifbar nah ist, hofft man auf einen glücklichen Ausgang.
Margret Greiner hat mit den wenigen Dokumenten und Aussagen von Zeitzeugen das Leben von Charlotte Salomon nachgespürt. Ihre Hauptquelle sind die 1324 Blätter, die Charlotte in kurzer Zeit wie gehetzt gemalt hat, eigentlich gedacht als Therapie auf Anraten ihres Arztes hin. Das künstlerische Tun hilft ihr, ihre Vergangenheit und innere Unruhe gestalterisch zu verarbeiten und mit dem Getriebensein verbunden mit Angst besser umzugehen.
Die Autorin geht chronologisch vor und spürt die Lebensstationen, die Charlotte expressiv oder en detail malerisch gestaltet hat, erzählerisch nach. Mal beschreibt sie ein Werk klassisch nach Form, Farbe und Bildgegenstand und webt es ein in die jeweilige Lebenssituation, mal begibt sie sich mit dem Bildsujet in Charlottes Innerstes. So wird Lottes "ganzes Leben", ein Tagebuch der Seelenbilder, wie ein Kaleidoskop aufgeblättert. Die vielen Seiten werden lebendig und fügen Tausende von Augenblicken zu einem Ganzen zusammen.
Die von Lotte nummerierten Werke behalten ihre vorgegebene Reihenfolge und jedem Bildzitat wird die entsprechende Verzeichnisnummer zugeordnet. Der Leser weiß so um den Wahrheitsgehalt der aufgeschriebenen Lebensgeschichte und gleichzeitig ist ihm bewusst, dass die sensible subjektive Deutung der Bilder den fiktiven Rahmen der Biografie ausmacht.
Im Herbst wird der Bildband " Leben?oder Theater?“ im Taschen-Verlag herausgebracht. Auch wenn in dem oben besprochenen Buch 24 farbige Abbildungen einzelner Gemälde gezeigt werden und im Text exemplarisch auf sie verwiesen wird, fehlen die vielen anderen Bilder, deren Bildsprache direkt und unmittelbar in diesem Bildband zu lesen wären. Jetzt frage ich mich, ob vielleicht zuerst die Bildersammlung angesehen werden sollte, dann das Buch von Margret Greiner gelesen und abschließend die sprachlich sehr schöne Ausgabe von David Foenkinos „Charlotte“. Oder doch umgekehrt? Egal, Charlotte Salomon und ihre Lebensbilder sind für sich eine große Bereicherung.
Margret Greiner hat ein eindrucksvolles Buch über diese besondere Künstlerin geschrieben.

Bewertung vom 26.08.2017
Das achte Leben (Für Brilka)
Haratischwili, Nino

Das achte Leben (Für Brilka)


ausgezeichnet

Nino Haratischwili:

Das Achte Leben (für Brilka)



Eine Familiensaga -wie beginnt man, sie zu erzählen? Die Erzählerin versteht ihr Handwerk. Sie verknüpft parallele Handlungsstränge miteinander und macht dem Ansprechpartner, dem Leser, Appetit ob der angerissenen Lebenslinien. Sie vergisst kein Schicksal, sie fügt die Splitter in Rückblenden und Jetzt-Zeit zusammen, sie lässt Leben entstehen und lässt es nehmen.

Der Stammbaum der Familie Jaschi zeigt 100 Jahre auf fast 1300 Seiten. Und ganz nebenbei Geschichtsunterricht: Russland, Georgien. Revolution. Bolschewiken. Kommunisten. Faschisten. Krieg. Fall des Eisernen Vorhangs. Perestroika, Glasnost und alles wieder von vorn: Rebellen, Revolution.
M a c h t. Große Kleine Männer hier und Kleine Große Männer dort. Dabei miteinander verwoben der Fall der Werte. Der Leser lernt das Einschleichen der totalitären Mächte im Großen zu begreifen und im Kleinen nachzuempfinden im Teppichmuster der Familie. Schoko-Sinne werden gekitzelt, Geheimnisse bewahrt und verraten. V e r r a t. So lange her und doch so nah. Und immer wieder neu.

Mensch sein und Träume leben ohne Kalkül. Realtät ausblenden, nicht wahrhaben wollen, das kleine Glück nicht gefährden. LIEBE. Schwein sein und Macht haben, HASS. ANGST. Immer wieder und überall Orwell.

Es ist unglaublich, wie die Schriftstellerin Nino Haratischwili, Jahrgang 1983, lebensklug und historisch fundiert eine Familiengeschichte erzählt, die fesselt und den Leser zum Mitwisser macht. Man leidet mit, man möchte warnen und ist erleichtert, wenn Gefährliches gut ausgeht. Man fühlt Freundschaft und Abscheu und möchte vor Schlimmem bewahren und kann doch nur resignieren. Geschichtsunterricht wird lebendig und die Nachrichten aus den 60-iger und folgenden Jahren erinnern an selbstgehörte Vergangenheit, weniger an selbst-er-lebte westliche Erfahrung.

Die letzten 50 Seiten lassen beim Leser den Abschiedsschmerz nicht ganz so groß werden, denn eigentlich ist alles gesagt und Nizas und Brilkas Zusammenführung scheint eher dem Kunstgriff geschuldet zu sein, der Ich- Erzählerin und ihrer Adressatin eine Perspektive schenken zu wollen. In einem guten Film würde sich der Regisseur vom Drehbuch lösen und in der Totalen auf die Phantasie des Zuschauers setzen, der mit seinen eigenen Gedanken die Geschichte zu Ende denken würde. Aber ein solches überhebliches Ansinnen steht mir als Leserin dieses Meisterwerks (ja,das ist es!) nicht zu.

Insgesamt ein fesselnder Familienentwicklungsroman, der neugierig macht auf ein mir unbekanntes Georgien.

7 von 9 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.08.2017
Charlotte
Foenkinos, David

Charlotte


ausgezeichnet

Foenkinos, David: Charlotte
Penguin-Verlag 2016, 237 Seiten

Ein
berührendes
Buch.
Ein Buch, das den Schalter der Erwartung umlegt, wenn die ersten Seiten verflogen sind. Will der Leser wie gewohnt möglichst schnell und tief in eine neue Geschichte eintauchen, wird er hier be-hindert, ihm wird Zeit abgefordert und des Lesers Ungeduld verliert Satz für Satz an Gewicht. Jeder Satz eine Zeile, 237 Seiten lang.
Jede Zeile braucht nur wenige Wörter und mit jedem Wort will das Buch erobert werden. Dieser eher lyrische Weg des Erzählens entwickelt einen unglaublichen Sog, weil Füllwörter, die überflüssig geworden sind, fehlen. Das Wesentliche bekommt in seiner sprachlichen Schlichtheit Gewicht und das, was ungesagt bleibt, lässt Bildern Raum.
Die Lebensgeschichte der Malerin Charlotte Salomon ist nicht mit anderen Biografien bekannter Künstler zu vergleichen. Der Autor hat sich in die Gemälde und Zeichnungen dieser unbekannten Künstlerin verliebt und es sich zur Aufgabe gemacht, die wenigen hinterlassenen Dokumente dieses jungen Lebens zu sichten und das Leben dahinter nachzuspüren. Er bringt sich mit seiner Suche und Begegnungen mit Zeitzeugen in den Roman ein, schafft Nähe zu Vergangenem und macht mit dieser Unmittelbarkeit betroffen.
Die Jüdin Charlotte lebt mit ihrer Familie in Berlin, das sie vor 1940 verlässt, um in Südfrankreich dem Nazi- Schrecken zu entgehen. Sie ist eine begnadete Künstlerin, die so anders ist als andere junge Frauen ihres Alters, was zum Einen an einer gefährlichen Melancholie in ihrer Familie liegt, zum Anderen an ihrer eigenwilligen Begabung als Malerin. Das Familienschicksal der Salomons gleicht dem vieler jüdischer Familien und ist doch so anders.
Da man um die Grausamkeiten der Nazi-Schergen weiß, scheint auch dieses Schicksal kein gutes Ende zu nehmen. Der Autor streut im Laufe des Romans entsprechende Hinweise, die den Leser hilflos zurücklassen. Aber das ist so gewollt. Die Vergangenheit ist gegenwärtig und beschönigt nichts.
Tolles Buch!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

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