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Benutzername: 
Christian1977
Wohnort: 
Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 179 Bewertungen
Bewertung vom 21.12.2024
Unter Wölfen
Wray, John

Unter Wölfen


sehr gut

Kip Norvald kann es sich nicht erklären. Immer wieder überkommen den Teenager diese Gewaltausbrüche, dieses rauschhafte Weiß, das ihn völlig außer Kontrolle geraten lässt. Im Florida der späten 1980er-Jahre ist er genau so ein Außenseiter wie der schwarze bisexuelle Leslie Z und das Trailer-Girl Kira Carson. Was die drei so unterschiedlichen Charaktere verbindet, ist eine gemeinsame Liebe: die zum Heavy Metal. Über das Erwachsenwerden dreier Außenseiter:innen in den 80er- und 90er-Jahren und vor allem über die Kraft der Musik schreibt John Wray in seinem neuen Roman "Unter Wölfen", der in der deutschen Übersetzung aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben bei Rowohlt erschienen ist. Rock'n'Roll pur!

Hat es jemals zuvor einen literarischen Roman über Heavy Metal gegeben? Ich wage dies zu bezweifeln, auch wenn aktuell beispielsweise Karl Ove Knausgård kongenial und philosophisch den norwegischen Black Metal in seine "Morgenstern"-Reihe integriert. In diesem Umfang und mit dieser Hingabe ist John Wrays "Unter Wölfen" allerdings ein Novum. Dabei stammt der Autor selbst eher aus der Rockszene und musste sich für das Buch erst in die Metalszene einlesen, wie er im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur verriet. Nun ist ihm dies überwiegend hervorragend gelungen.

Der Roman teilt sich in drei große Abschnitte, die sich sowohl in den Handlungsorten als auch den jeweiligen Musikrichtungen stark unterscheiden. Teil eins spielt in Venice, Florida, wo die drei Hauptfiguren ihre Liebe zum Death Metal und aufkommenden Bands wie Death, Deicide oder Cannibal Corpse frönen. Im Mittelteil reisen die Drei nach L.A. und lernen dort den Glamrock in all seinen Facetten kennen und - so geben sie es zumindest vor - hassen. Der Schlusspart führt die Leserschaft gar nach Bergen in Norwegen - und damit tief in das düstere Herz des norwegischen Black Metal zu Beginn der 90er-Jahre mit Bands wie Mayhem, Emperor und Burzum.

Zu loben ist auf jeden Fall, wie abwechslungsreich sich nicht nur musikalisch "Unter Wölfen" präsentiert. Von einem Coming-of-Age-Roman mit auch sprachlichem Rock'n'Roll entwickelt sich das Buch nämlich zu einem Liebesroman und am Ende gar zu einer Art literarischem Thriller, der zwar nicht das Unheimliche von Bret Easton Ellis' "The Shards" erreicht, aber durchaus gekonnt mit Ellis-haften Motiven spielt.

Hervorragend eingebunden sind auch die nerdigen Metal-Insiderfakten, die John Wray immer wieder ins Spiel bringt. Dies führt sogar dazu, dass Metal-Legenden selbst diverse Auftritte haben. Ob Vince Neil von Mötley Crüe oder im Schlussteil Euronymous von Mayhem, Samoth von Emperor oder der unsägliche Count Grishnackh: Sie alle geben sich in "Unter Wölfen" ihr Stelldichein. Für Metalheads definitiv ein großer Spaß! In einer besonders genialen Szene entdeckt Kip beispielsweise die legendären Polaroid-Fotos, die Euronymous nach dem Tod des Mayhem-Sängers Dead von dessen Leiche geschossen hat. Wray bindet dies als Randnotiz ein, ohne Pelle Ohlin alias Dead überhaupt namentlich zu erwähnen. Ein Gimmick für Metalfreund:innen, von denen es in dem Roman zahlreiche zu entdecken gibt.

Wenn man etwas kritisieren möchte, dann sind das einerseits die Figuren, die sich gerade in den manchmal etwas nervigen Dialogen zu wenig entwickeln. Zudem wirkt der Roman durch ein paar belanglose Szenen doch etwas zu lang. Aus Metalsicht ist jedoch das größte Ärgernis, dass im letzten Abschnitt zwischen Black Metal-Figuren wie Euronymous und dessen späteren Mörder Varg Vikernes alias Count Grishnackh zu wenig differenziert wird. Beide wirken auf die Leserschaft wie satanistische, ideologisch rechts stehende Musiker, die irgendwo zwischen Bedrohung und Knallchargentum agieren. Dabei kommen Euronymous' kommunistische Ansichten ebenso zu kurz wie das spätere Täter-Opfer-Verhältnis der beiden.

Kleinere Wermutstropfen eines insgesamt aber spannenden und unterhaltsamen Romans, der insbesondere Metal-Fans aller Genres und Musikliebhaber:innen ohne Scheuklappen ansprechen sollte. Keep on rockin', John!

Bewertung vom 19.12.2024
Über dem Tal
Preston, Scott

Über dem Tal


sehr gut

Als im Norden Englands 2001 die Maul- und Klauenseuche ausbricht, steht für die Schafzüchter Steve Elliman und William Herne mehr als die Existenz auf dem Spiel. Die Fells, so der Name der Region, sind ihr Leben, doch ohne Tiere scheint dieses dort nicht mehr möglich zu sein. Immerhin überlebt mit dem von Steve versteckten Lamm Rusty ein Hoffnungsträger. Wie kann man existieren, wenn einem die Lebensgrundlage wegbricht? Und was macht diese karg-schöne Gegend mit ihren Bewohner:innen? Davon erzählt Scott Preston in seinem Debütroman „Über dem Tal“, der in der deutschen Übersetzung aus dem Englischen von Bernhard Robben bei S. Fischer erschienen ist.


Zunächst einmal sollte man sich von dem romantisierenden Cover der deutschen Ausgabe nicht täuschen lassen, denn „The Borrowed Hills“, wie der Roman im Original heißt, ist keineswegs süßlich leichte Kost, die man als ZDF-Verfilmung am Sonntagabend genießen könnte. Vielmehr verbindet Preston in seinem Erstling poetisch-raue Landschaftsbeschreibungen mit einem brutalen Crimeplot zu einer unheilvollen und abwechslungsreichen Melange.

Dabei ist es vor allem die Sprache, die heraussticht. Sie bildet einen wirkungsvollen Kontrast zu den oftmals explizit grausamen Szenen, in denen sehr viel Schafs- und Menschenblut fließt. Auch Ich-Erzähler Steve merkt dies und entschuldigt sich beinahe zu Beginn eines Kapitels, als er auf der Metaebene bemerkt: „Es floss Blut genug, um ein Kanonenboot drin schwimmen zu lassen.“ Sehr gelungen auch, wie Preston mit der Verknappung der Sprache spielt. So spiegeln fehlende Subjekte die Rauheit und Kargheit der Fells wider.

Erstaunlich souverän für ein Debüt agiert „Über dem Tal“ zudem in berauschenden Tempowechseln zwischen ausufernder Trägheit und schnellen Schnitten, wie man sie in einem Actionfilm erwarten würde. In dieser Hinsicht bleibt vor allem die Schlüsselszene des Romans in Erinnerung. In einer tollkühnen Aktion rauben William und Steve zusammen mit dem Schwerkriminellen Colin und dessen Kumpanen einige Hundert Schafe von einem Biohof. Gebannt folgt man als Leser:in nicht nur dem Diebstahl, sondern im Anschluss an einen Unfall auch einem 15-stündigen Fußmarsch mit den unzähligen Tieren.

Positiv sind zudem die vielen Überraschungen in der Handlung und die Vielfalt, mit der der Roman zwischen Landwirtschaftsdrama und einer Art Hard Boiled-Krimi ohne Ermittler:in oder Neo-Noir-Western chargiert.

Weniger überzeugend ist die Figurenzeichnung. Teilweise handeln Steve, William und die Nebenfiguren nicht nur unüberlegt, sondern für die Leserschaft unverständlich. So wird eigentlich von Beginn an nicht klar, warum Steve von William so fasziniert ist, dass er ihn in der Folge auf Schritt und Tritt begleitet. In ihrer Gesamtheit entpuppt sich die Figur William nämlich eher als literarisch laues Lüftchen wie einst der vermeintliche Charismatiker Kurtz in Joseph Conrads „Herz der Finsternis“. Und die Gangsterepisode um den bemerkenswert böse geratenen Colin nimmt doch etwas zu viel Raum ein.

Doch im wendungsreichen und dramatischen Finale des Romans spielt Scott Preston noch einmal seine ganze Stärke aus und lässt das Buch mit einer intensiven Szene ausklingen, über die sich trefflich diskutieren lässt.

Scott Prestons „Über dem Tal“ ist ein lesenswertes Debüt, für das man allerdings starke Nerven braucht und den Figuren ihre Nachlässigkeiten verzeihen muss. Belohnt wird man dafür mit einem Roman, der gleichermaßen weh tut wie berührt.

Bewertung vom 26.11.2024
Täuschend echt
Lewinsky, Charles

Täuschend echt


gut

Nachdem der namenlose Ich-Erzähler von seiner Freundin verlassen wurde, verliert er auch noch seinen Job als Werbetexter in einer Agentur. Da kommt ihm das Angebot eines Bekannten seiner Nachbarin gerade recht. Frank sucht nämlich jemanden, der die ihm vorliegenden Berichte von Einzelschicksalen verschiedener Menschen in eine angemessene literarische Form bringt. Kein Problem für den Protagonisten, der schon seit einiger Zeit mithilfe von Künstlicher Intelligenz an einem eigenen Roman arbeitet. Doch als das Schicksal der ausgedachten Schabnam unerwartet zu einem Bestseller wird, nehmen die Dinge ihren Lauf...

Clemens J. Setz, Raphaela Edelbauer, Ian McEwan. Die Liste der Autor:innen, die sich mit KI befassen, wird immer länger. Mit seinem neuen Roman "Täuschend echt", der bei Diogenes erschienen ist, reiht sich nun auch Charles Lewinsky in diese namhafte Aufzählung ein. Wobei er anders als McEwan und Edelbauer nicht auf künstliche Menschen setzt, sondern auf die Möglichkeiten eingeht, Literatur künstlich zu erzeugen. Ein kühner und mutiger Ansatz, der aber nur teilweise überzeugt.

Lewinsky, der wie seine Hauptfigur selbst einmal Werbetexte verfasst hat, sagte in einer Lesung einmal, er habe den Anspruch, mit jedem neuen Buch auch immer etwas ganz Neues zu erzählen. Und tatsächlich: Von seinem Goethe-Roman "Rauch und Schall" aus dem letzten Jahr zum aktuellen Spiel mit ChatGPT und der Künstlichen Intelligenz ist es wohl nicht weniger als ein thematischer Quantensprung, der ihm hier gelingt.

Übersteht man als Leser:in die ersten 50 Seiten, die sich vor allem in Rachefantasien gegenüber der Ex-Freundin und Albernheiten in Bezug auf Müsli-Werbetexte gerieren, nimmt "Täuschend echt" gewaltig Fahrt auf. Im Umgang mit der KI, die der Protagonist irgendwann fast liebevoll "Kirsten" tauft, funktioniert der Roman plötzlich auf verschiedenen Ebenen. Auch wenn der Autor die Hauptfigur zweimal zu oft die Meta-Ebene beschwören lässt, ist es gerade diese, die das Buch so interessant macht. Auf gewisse Weise verschwimmen die Handlungsebenen, Lewinsky spielt gekonnt mit den Parametern. Er zeigt einerseits, dass es durchaus möglich ist, künstlich literarische Texte zu erzeugen. Andererseits sind diese durch ihre zahlreichen Wortwiederholungen und Adjektive aber so uninteressant, dass es wiederum unmöglich scheint, einen wirklich literarischen Roman auf diese Weise zu kreieren. Oder die Prompts der Hauptfigur stimmten einfach nicht.

Bedauerlich ist, dass Lewinksy in der zweiten Hälfte des Buches dieses Spiel aber gar nicht auf die Spitze treibt und beispielsweise den wirklich komischen Einfall, die fiktive Buchautorin werde zu einem TV-Termin in die bekannte Literatursendung "Druckfrisch" mit Denis Scheck eingeladen, zu einem befriedigenden Ende bringt. Stattdessen wandelt sich "Täuschend echt" wieder zu einer mit Müsli-Gags durchsetzten Racheposse, der Kirsten mit ihren zahlreichen, irgendwann langweilig werdenden Listen nur noch als Stichwortgeberin dient. Schade, denn spätestens seit dem "Stotterer" wissen wir, wie gut und gleichzeitig böse Charles Lewinsky als Erzähler sein kann. "Täuschend echt" hinterlässt hingegen eher den Eindruck, der Autor habe auf den sehr luftig gedruckten 340 Seiten irgendwie die KI einbauen wollen, ohne das große Potenzial dieser Idee wirklich nutzen zu können.

So ist "Täuschend echt" ein über weite Strecken zwar recht unterhaltsamer, aber nicht besonders kluger Roman, der zudem mit klischeehaften und überzeichneten Figuren und - offenbar bewusst - unglaubwürdigen Wendungen zwar nicht "echt enttäuschend", aber auch nicht der ganz große Wurf geworden ist. Wer lesen möchte, wie genial die KI in literarische Texte eingebunden werden kann, der greife lieber zu Clemens J. Setz' "Bot", das übrigens schon 2018 erschienen ist. Was in Sachen Künstlicher Intelligenz ein zeitlich mindestens ebenso großer Quantensprung ist wie von Goethe zu ChatGPT.

Bewertung vom 30.10.2024
Die Lungenschwimmprobe
Renberg, Tore

Die Lungenschwimmprobe


ausgezeichnet

Pegau in Sachsen, 1681: Der renommierte Arzt Dr. Johannes Schreyer ist eigentlich auf dem Weg zur Leipziger Messe, als er vom Amtmann Abraham Walther beauftragt wird, den Leichnam eines neugeborenen Säuglings zu begutachten. Die 15-jährige Anna Voigt wird verdächtigt, ihre kleine Tochter gleich nach der Geburt getötet zu haben. Die Stichwunden am Körper des Babys sprechen Bände, doch um auf Nummer sicher zu gehen, legt Schreyer ein Teilchen der Lunge in einen Behälter mit Wasser. Als die Lunge sinkt und nicht oben schwimmt, ist für Schreyer klar: Das Kind hat nie geatmet und war bei der Geburt folglich schon tot. Vorhang auf für die Lungenschwimmprobe - und damit für den neuen Roman des Norwegers Tore Renberg, der in der deutschen Übersetzung von Karoline Hippe und Ina Kronenberger bei Luchterhand erschienen ist.

"Die Lungenschwimmprobe" ist der erste Historische Roman Renbergs, der sich bisher der zeitgenössischen Literatur verschrieben hatte. Auf gut 700 Seiten entfaltet er ein buntes und sprachgewaltiges Panorama des Hochbarock, das sich nicht nur mit der Geburt der modernen Gerichtsmedizin befasst, sondern auch einen detaillierten Blick auf Leipzig nach dem Dreißigjährigen Krieg und die Entwicklung des Rechtssystems wirft. Dass dies keine einzige Seite langweilig wird, liegt an der Erzählkunst des Autors und an der ungewöhnlichen Form des Romans.

Wer nämlich einen schlichten Historischen Schmöker erwartet, dürfte vielleicht enttäuscht sein, denn Renberg spielt mehr als einmal mit den erzählerischen Konventionen. Hier streut er den Text des damaligen Strafgesetzbuches ein, dort eine Ballade, dann ein Märchen, ein paar Tagebucheinträge und Briefe. Die wohl größte Überraschung ist aber, dass sich der Autor als Ich-Erzähler immer wieder selbst an die Leserschaft wendet. Das kommt am Ende des ersten Kapitels völlig unvermittelt und zieht sich später durch ganze eigenständige Abschnitte. Am brillantesten gelingt ihm die Verbindung zwischen Autor und Materie im bemerkenswerten Kapitel "Der Korridor", als sich bei einem Besuch im Nürnberg der Gegenwart eine Art Zeitfenster öffnet und Renberg plötzlich seinen Romanfiguren gegenüberzustehen glaubt.

Wobei die meisten Figuren des Buches auf historischen Personen beruhen. Allen voran die vermeintliche Kindsmörderin Anna und ihr Anwalt Christian Thomasius, einer der späteren Gründungsväter der Universität von Halle an der Saale. Wenn es so etwas wie eine Hauptfigur in diesem an Personal reichen Roman gibt, dann ist es der umtriebige Jurist, der als einer der ersten Vertreter:innen der Aufklärung eine gewaltige Unruhe in die damals vor sich hin dösende und vom Krieg noch immer traumatisierte Stadt Leipzig brachte. Nicht von ungefähr bezieht sich der Untertitel des Romans auf Thomasius' Wirken: "Verteidigung einer jungen Frau, die des Kindsmords bezichtigt wurde".

Ein nicht minder bedeutender Verteidiger ist allerdings Tore Renberg selbst, der auf einer Lesung zugab, er fühle sich immer als Anwalt seiner Figuren. Mit großer Empathie nähert sich Renberg der jungen Beschuldigten, über deren Leben es gerade einmal zwei historische Quellen gab - von Thomasius und von Dr. Schreyer. Auch seine Bewunderung für Christian Thomasius ist stets spürbar, ohne dessen Eitelkeit und Narzissmus zu verschweigen.

Ohnehin ist es die Ambivalenz der Figuren, die ein weiteres Qualitätsmerkmal des Romans ausmacht. Anna Voigt ist genauso wenig nur Opfer, wie beispielsweise der Leipziger Scharfrichter Christoph Heintze nur grausam oder emotionslos ist. Da hätte es bei all dieser thematischen und formalen Vielfalt die blutige und explizit grausame Rachegeschichte von Annas Vater Hans Heinrich in meinen Augen gar nicht mehr gebraucht.

Zu erwähnen ist auch noch die umfangreiche Recherche, die Renberg für das Schreiben des Romans betreiben musste - nachzulesen in einem knapp 50-seitigen digitalen Anhang mit Quellenangaben und historischen Karten. Da ist es schon verwunderlich, dass der Autor "nur" etwa fünf Jahre daran schrieb.

Insgesamt ist "Die Lungenschwimmprobe" ein berührendes, kluges und auch in seiner Form hochspannendes Epos, das nicht nur die Bürger:innen Leipzigs ihre Stadt mit anderen Augen sehen lässt, sondern auch deutlich macht, dass nicht das Mittelalter die grausamste aller Zeiten war.

Bewertung vom 20.10.2024
Eine ganz gewöhnliche Fliege und andere heitere Erzählungen
Hamsun, Knut

Eine ganz gewöhnliche Fliege und andere heitere Erzählungen


ausgezeichnet

Eine Fliege, die sich weigert das Arbeitszimmer zu verlassen. Eine ziellose Zugfahrt durch Schweden, die immer teurer wird. Oder ein Straßenbahnschaffner in Chicago, der von einem Fahrgast ein merkwürdiges Angebot erhält. So unterschiedlich und vielfältig präsentiert sich der spätere Literaturnobelpreisträger Knut Hamsun in seinen frühen heiteren Erzählungen, die bei Reclam erschienen sind und von der renommierten Übersetzerin und Autorin Gabriele Haefs herausgegeben und mit einem Nachwort versehen wurden. Laut Klappentext zeige sich Hamsun in ihnen, "wie man ihn bisher noch nicht kannte: heiter, komisch, grotesk", was allerdings nur halbwegs stimmt. Denn diese Seite des Norwegers findet man auch in seinem Erfolgsroman "Hunger" an mehreren Stellen überdeutlich, was nicht nur Astrid Lindgren bemerkte. Überraschend ist vielmehr, wie unterschiedlich dieser Humor, diese heitere Seite in den Geschichten hervortritt, was aus dem Erzählband ein wunderbares Dokument der frühen Hamsun-Schaffensphase macht.

Der Komik in "Hunger" am nächsten kommt dabei gleich die erste Erzählung "Die Königin von Saba". "Freakig" nennt Gabriele Haefs "Hunger" in ihrem Nachwort und so kann man auch den Humor in dieser Geschichte beschreiben. In ihr reist der Ich-Erzähler offenbar ziel- und planlos nach Schweden und verfängt sich in den Augen eines jungen Mädchens, was letztlich zu einer teuren Zug-Odyssee führt. Die Dialoge des Protagonisten mit den Mitreisenden und mit der jungen Frau erinnern an den hinreißenden Anarcho-Humor der "Hunger"-Hauptfigur und auch im völlig willkürlichen Umgang mit dem wenigen Geld, in der ironischen Selbstüberschätzung des Ich-Erzählers im Hinblick auf seine Wirkung auf Frauen blitzt der Klassiker immer wieder durch.

Ohnehin sind es die Frauen, die in "Eine ganz gewöhnliche Fliege" eine zentrale Rolle spielen. Werden sie zunächst scheinbar oberflächlich auf ihr Aussehen und ihre Wirkung auf Männer reduziert, entpuppen sie sich nicht selten als clevere Gewinnerinnen der Erzählungen. So beispielsweise im "klitzekleinen Roman" "Hinein in den süßen Sommer", in dem sich Hamsun mit Augenzwinkern über die gehobene Gesellschaft lustig macht oder überdeutlich nicht nur aufgrund des Titels im schwarzhumorig-bösen "Frauensieg". Der Ich-Erzähler arbeitet als Straßenbahnschaffner in Chicago, wie es Hamsun einst selbst tat. Als er sich durch ein seltsames Angebot eines Fahrgastes ein paar Dollar hinzuverdienen möchte, ist es eine Frau, die dieses Vorhaben auf überraschende Weise durchkreuzt. Und selbst die Stubenfliege hat etwas Weibliches an sich und irgendwann "einen Liebhaber von der Straße im Schlepptau", ein Fliegenmännchen, was beim schreibenden Protagonisten zu Eifersuchtsanfällen führt. Fast immer ist es die Suche nach Liebe, die die Hauptfiguren umtreibt, was auch Haefs im Nachwort noch einmal hervorhebt.

Wahrscheinlich nicht ganz zufällig in der Mitte des Bandes steht dabei die Erzählung "Auf Tournee", in der Knut Hamsun selbst vielleicht am stärksten als literarische Figur zu erkennen ist. Ein erfolgloser Schriftsteller möchte darin auf eigene Faust einen "Vortrag über moderne norwegische Literatur halten". Natürlich kommt es anders, als er denkt und ein Antispiritist, der sein Publikum mit vermeintlich exotischen Tieren überrascht, stiehlt ihm alle potenziellen Zuschauer:innen. "Mein Weg ist der zu den Idealen", entgegnet der Protagonist dem betrügerischen Nebenbuhler - und endet letztlich doch als brillanter Rhetoriker bei der Tierpräsentation. Hamsuns tragikomische Selbstironie, die skurrilen Ereignisse rund um den geplanten Vortrag sind allein schon den Kauf des Buches wert.

Und auch Haefs' Nachwort ist erhellend, auch wenn die "späteren Schandtaten" des Schriftstellers im Bezug auf norwegische Nazi-Organisationen fast ausgeklammert werden. Gelungen ist beispielsweise die Entscheidung, die einzelnen Erzählungen von vielen unterschiedlichen Übersetzerinnen - tatsächlich sind es ausschließlich Frauen - bearbeiten zu lassen, was auch im Deutschen zu mehr Vielfalt führt. Die titelgebende Fliegen-Geschichte wurde sogar von einem kompletten Übersetzungsseminar ins Deutsche übertragen. Was leider fehlt, sind die norwegischen Originaltitel der Geschichten und die genauen Entstehungsjahre. Insgesamt ist "Eine ganz gewöhnliche Fliege" aber ein hervorragender Erzählband, der die Leser:innen von Schweden nach Chicago, von London nach Paris begleitet und dabei nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich mit seinen häufigen Wechseln der Erzählzeiten und dem abwechslungsreichen Humor immer wieder überrascht.

Bewertung vom 10.10.2024
La Louisiane
Malye, Julia

La Louisiane


ausgezeichnet

Paris, 1720. Marguérite muss sich entscheiden. 92 Frauennamen muss die Leiterin des Hospitals La Salpêtrière auf die Liste schreiben, die über das weitere Schicksal ihrer Schützlinge bestimmt. Hier, in diesem Sammelbecken von Waisenkindern, Gefangenen, psychisch Kranken und weiteren gesellschaftlichen Außenseiterinnen. 92 Frauen, "Freiwillige", die in Kürze eine mehrmonatige Reise über den Ozean antreten müssen. Ihr Ziel: die französische Kolonie La Louisiane, deren Fortbestand aufgrund fehlenden Nachwuchses ansonsten nicht gewährleistet wäre...

"La Louisiane" ist der neue Roman von Julia Malye, der in der Übersetzung aus dem Französischen von Sina de Malafosse beim neuen Gutkind Verlag erschienen ist. Malye, die ihren ersten Roman im Alter von 15 Jahren veröffentlichte, erscheint damit erstmals auf Deutsch. Für "La Louisiane", den sie auf Englisch und Französisch schrieb, recherchierte sie sage und schreibe zehn Jahre. Eine Arbeit, die dem Roman von vorn bis hinten anzumerken ist, denn "La Louisiane" ist ein mehr als 520 Seiten starkes Epos geworden, das nicht nur mit historischen Details glänzt, sondern auch mit einer plastisch-poetischen Sprache und herausragenden Frauenfiguren.

Und so verwundert es auch nicht, dass der französische Artikel "La" im Titel so präsent ist, denn "La Louisiane" zeichnet sich vor allem durch unbändige weibliche Energie aus. Im Mittelpunkt stehen die drei Protagonistinnen Geneviève, eine homosexuelle "Engelmacherin", die zu Beginn zwölfjährige Waisin Charlotte und die naive und durch ein Muttermal entstellte Pétronille. Über 14 Jahre begleiten die Leser:innen diese Hauptfiguren durch wenig Freud und viel Leid, und es ist erstaunlich, wie viel Tiefe Julia Malye ihnen schenkt. Die Ängste und Sorgen der Mädchen und Frauen müssen dabei gar nicht explizit ausgesprochen werden, es reichen Gesten und Andeutungen.

Sprachlich stark sind die Beschreibungen der Schauplätze und der Naturphänomene, die diese begleiten. Seien es die peitschenden Stürme auf der Überfahrt nach La Louisiane, seien es die Geräusche und Gerüche in der überdimensionierten Salpêtrière oder später die Sümpfe in La Louisiane - Julia Malye schreibt so plastisch, dass man als Leser:in eine unmittelbare Vorstellung der Settings erhält und diese fast zu riechen oder hören scheint. Hoch anzurechnen ist der Autorin zudem, dass sie mit "La Louisiane" eine fast vergessene Episode der französischen Geschichte zum Leben erweckt. Unglaublich scheint es aus heutiger Sicht, dass Frauen und Mädchen - überwiegend gegen ihren Willen - auf einen meilenweit entfernten Kontinent verschifft werden konnten, ohne zu wissen, was sie dort erwartet. Und natürlich ohne ein wirkliches Mitspracherecht in Bezug auf ihre auserwählten Bräutigame zu haben.

Tatsächlich ist "La Louisiane" weit mehr als ein gewöhnlicher "Historien-Schmöker". Wer dies erwartet, dürfte vielleicht enttäuscht sein. Dafür ist Malyes Sprache zu literarisch, das Erzähltempo zu langsam, dafür sind die Beschreibungen zu kleinteilig. Vielmehr verbindet der Roman viele Themen, die nicht an Aktualität verloren haben. Ob Heimat oder Sprache, ob queere Liebe oder Feminismus, ob Kolonialismus oder Rassismus - mit Sensibilität und sprachlicher Eleganz verknüpft Julia Malye all dies zu diesen mächtigen Epos, das "La Louisiane" letztlich geworden ist.

Am Ende unbedingt hervorzuheben ist noch das zehnte Kapitel, das in dem Roman eine bemerkenswerte Sonderstellung einnimmt. Es ist nach dem Auftaktkapitel das einzige, das nicht aus der Perspektive einer der drei Hauptfiguren erzählt wird, sondern aus Sicht der indigenen Jugendlichen Utu'wv Ecoko'nesel. Das Mädchen soll Pétronille Kenntnisse über die heilenden Kräfte der Pflanzen vermitteln und gerät dabei in mehrere Konflikte, denen Julia Malye mit herausragender Empathie begegnet. Das Kapitel ist sowohl auf der Spannungsskala als auch in Sachen Emotionalität der unbestrittene Höhepunkt eines insgesamt begeisternden Historischen Romans.

Bewertung vom 02.10.2024
Trauriger Tiger
Sinno, Neige

Trauriger Tiger


sehr gut

Etwa mit sieben Jahren beginnt es. Neiges Stiefvater nähert sich ihr in der Nacht oder wenn die Mutter nicht im Hause ist. Er wird es immer wieder tun, über Jahre hinweg, bis in die Pubertät hinein. Ein Stiefvater und Vergewaltiger. Wie lebt ein Kind, das sich einer solchen Gewalt ausgesetzt sieht? Wie überlebt es? Und wie kann man den Menschen davon erzählen, dem eigenen Umfeld, aber auch der ganzen Welt? Mit einem Buch wie "Trauriger Tiger" von Neige Sinno, das in der Übersetzung aus dem Französischen von Michaela Meßner bei dtv erschienen ist.

Schon der Anfang strahlt diese Wucht aus, die die Leserschaft während der Lektüre des Buches häufig überfallen wird. Völlig unvermittelt beginnt Neige Sinno nämlich mit dem Versuch des Porträts ihres Peinigers, den sie einst mit ihrer späten Anzeige vor Gericht brachte. Sie wird in der Folge immer wieder damit beginnen. "Denn auch mich interessiert im Grunde vor allem das, was im Kopf des Täters vor sich geht", so lautet der überraschende erste Satz von "Trauriger Tiger", das in Frankreich fünf große Literaturpreise und dazu den Premio Strega Europeo erhielt. "Porträts" und "Gespenster" heißen die beiden Teile des Buches, die sich zunächst um das Umfeld von Neige und ihrer Familie drehen, ehe es in der zweiten Hälfte der gut 300 Seiten eher um die Auswirkungen des Missbrauchs auf die "Überlebenden", wie Neige Sinno die Missbrauchsopfer häufig nennt, und somit auf sie selbst geht.

Wobei die literarischen Auszeichnungen doch etwas überraschend sind. Rein sprachlich ist das Buch nämlich recht unauffällig. Zwar gibt es zwischendurch immer wieder so aufrüttelnde Sätze wie "Man vergewaltigt, um zu existieren", doch in seiner Gesamtheit liest sich "Trauriger Tiger" eher wie eine Mischung aus Sachbuch und Memoir. Das Besondere ist vielmehr Neige Sinnos Zugang zu ihrer so persönlichen Geschichte. Und hier kommt die Literatur dann doch wieder ins Spiel, denn Sinno analysiert und beschreibt ihren langjährigen Missbrauch und die Auswirkungen auf sie, aber auch auf den Täter, auch mithilfe von Büchern und Erzählungen. Ob Nabokovs "Lolita", Hans Christian Andersens "Die wilden Schwäne" oder Emmanuel Carrères "Widersacher" - sie alle spielen eine zentrale Rolle in "Trauriger Tiger".

Positiv hervorzuheben ist, dass das Buch keineswegs voyeuristisch ist. Im Gegenteil, die Darstellung des Grausamen ist erstaunlich sachlich, was einen emotionaleren Zugang zum Buch allerdings teilweise auch verhindert. In dieser Hinsicht konnte "Tiger, Tiger" der mittlerweile verstorbenen Margaux Fragoso mit einem sehr ähnlichen Thema aus dem Jahre 2011 deutlich mehr überzeugen. "Tiger, Tiger", das unverblümt Namenspate für Neige Sinnos Werk ist, hat letztere überraschenderweise aber gar nicht gelesen, obwohl sie sonst nahezu alles zum Thema Missbrauch verschlungen hat. Abgeschreckt hat sie eine negative Kritik, was eine etwas seltsame Entscheidung ist.

Der Zugang über die Literatur ist dennoch ein kluger, wenn auch nicht der einzige Ansatz von Neige Sinno in diesem Buch. Sie reflektiert über die Auswirkungen der jahrelangen Vergewaltigungen, über männliche Sexualität, über Schuld, über die Wirksamkeit von Therapien und Strafen, ja, sogar über das Leben und den Tod. Und es gelingt ihr, dass man auch als Leser:in darüber reflektiert, dass man gezwungen wird, eine Haltung einzunehmen. Schwächer ist das Buch, wenn Sinno sich in ihren Gedankengängen verheddert, unverständlich bleibt und wenn sie einzelne Passagen zu häufig wiederholt.

Zudem wird nicht ganz klar, warum Neige Sinno ihr Buch überhaupt geschrieben hat. Sie wünscht ihm "nicht viele Leser", ja, es widere sie sogar an, aus ihrer Geschichte Kunst zu machen, was man beides nicht besonders glaubwürdig findet. Eine therapeutische Wirkung hatte das Schreiben für sie auch nicht. Warum also auch immer, die Entscheidung war natürlich richtig. Denn "Trauriger Tiger" gelingt es trotz oder wegen des persönlichen Schicksals der Autorin, dass man als Leser:in schockiert und nachdenklich zurückbleibt. Und dass man Neige Sinno, die Überlebende, nicht so schnell wieder vergisst.

3,5/5

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.09.2024
Das große Spiel
Powers, Richard

Das große Spiel


sehr gut

Irgendwann im Jahr 2027: Die Menschen auf Makatea, einer kleinen Pazifikinsel, müssen sich entscheiden: Aus den USA gibt es das Angebot, aus dem verschlafenen Eiland eine Gesellschaft der Zukunft zu machen, eine schwimmende Stadt mit hochmodernem Hafen. Hoffnungen und Zweifel halten sich die Waage. Unter den Unentschlossenen befinden sich auch die über 90-jährige Meeresforscherin Evie Beaulieu, Künstlerin Ina Aroita und ihr Mann, der Literaturfreund Rafi Young, den einst eine tiefe Freundschaft mit dem mittlerweile steinreichen IT-Nerd Todd Keane verband. Währenddessen erinnert sich der demenzkranke Keane in den USA an diese Freundschaft und ihre Anfänge. Was hat die beiden Sonderlinge einst nur auseinandergebracht?

Über eine zerbrechende Männerfreundschaft, den Einfluss der Technik auf den Menschen und die unbändige Liebe zum Ozean schreibt Richard Powers in seinem neuesten Roman „Das große Spiel“, der in der Übersetzung aus dem Amerikanischen von Eva Bonné bei Penguin erschienen ist. Im Vergleich zum Vorgänger „Erstaunen“ also ein neuer Verlag, eine neue Übersetzerin, aber immer noch die große Lust des Erzählers Powers, so aktuelle und gesellschaftsrelevante Themen wie Umweltschutz und technischen Fortschritt zu vereinen. Während Makatea und seine Bewohner:innen für den Ozean und die Natur stehen, verkörpert Todd Keane die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten der Computertechnologie inklusive Künstlicher Intelligenz.

Dabei wechselt sich Richard Powers in den einzelnen Erzählsträngen ab, wobei Todd Keane als Ich-Erzähler in einer Art Tagebuch auf sein bewegtes Leben zurückblickt, während Makatea von einem allwissenden Erzähler beobachtet wird. Verbindendes Element zwischen beiden Welten ist die Figur Rafi Young. Auf Makatea arbeitet er mittlerweile als Pädagoge in der Inselschule, einst schaffte er als schwarzer Junge den Aufstieg in die Eliteschulen der USA, wo er sich aufgrund der gemeinsamen Leidenschaft für Brettspiele mit Todd anfreundete.

Als Leser:in braucht man auf den gut 500 Seiten des Romans durchaus einen langen Atem, denn insbesondere die Freundschaft zwischen Rafi und Todd nimmt in den Rückblicken einen großen Raum ein. Zudem nervt sie mit der Zeit ein wenig, da das Verhältnis der beiden zueinander ständig von einer aufgesetzten Coolness der Figuren begleitet ist. Stärker ist „Das große Spiel“, wenn Richard Powers sich auf seine in jedem Moment spürbare Liebe zu der Natur, in diesem Fall insbesondere zum Ozean und seinen Bewohnern konzentriert. Wenn beispielsweise die Ozeanologin Evie mit riesigen Mantarochen um die Wette schwimmt oder sich Ina Aroita gemeinsam mit ihrer Tochter um den Plastikmüll im Magen eines verendeten Albatros kümmert, setzt der Roman auch sprachlich seine auffälligsten Akzente.

Wobei die eigentliche Sensation des Romans das Finale ist. Ohne zu viel verraten zu wollen, setzt Richard Powers auch in „Das große Spiel“ wie schon in „Erstaunen“ zu einem bemerkenswerten Schlussakkord an, ja, zu einem regelrechten Paukenschlag, der einen komplett aus der Bahn wirft. Hier erhält auch der Romantitel einen doppelten oder gar dreifachen Boden. Denn neben den Spielen von Todd und Rafi und dem Spiel von Evie Beaulieu mit den Tieren des Ozeans ist es eben auch Richard Powers, der ein großes Spiel mit der Leserschaft betreibt.

Auffällig ist zudem, dass auch Powers offenbar das ewige Leben oder die Umkehrung des Todes umtreibt. Denn wie schon in der „Morgenstern“-Reihe von Karl Ove Knausgard spielt auch in diesem Buch die Theorie des russischen Philosophen Nikolai Fjodorowitsch Fjodorow eine zentrale Rolle.

Insgesamt ist „Das große Spiel“ ein lesenswerter Roman zwischen Umweltschutz und Künstlicher Intelligenz, der zwar Längen aufweist, aber spätestens mit dem großartigen letzten Viertel die Leserschaft auf seine Seite ziehen sollte.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.09.2024
Das Wohlbefinden
Lenze, Ulla

Das Wohlbefinden


sehr gut

Beelitz, 2020: Als sich Vanessa die luxuriös sanierte Wohnung im ehemaligen Postgebäude der Beelitzer Heilstätten anschaut, weiß sie sofort, dass sie sich diese nicht leisten kann. Knapp 400.000 Euro für 66 Quadratmeter, wer soll das vom Makler angepriesene "Schnäppchen" bloß bezahlen? Doch sie braucht dringend eine Wohnung, weil ihr der Vermieter wegen Eigenbedarfs in zentraler Berliner Lage einfach gekündigt hat. Noch ahnt sie nicht, dass die Begegnung mit dem Makler und die Besichtigung der Heilstätten ihrem Leben eine ungeahnte Wende geben sollen. Denn an diesem Ort recherchierte einst Vanessas Urgroßmutter Johanna für ihren Anfang des 20. Jahrhunderts erschienenen Erfolgsroman "Das Schmuckzimmer". Und es ist ausgerechnet der Makler Maurus, dem ein bislang unveröffentlichtes Manuskript Johannas vorliegt...

Zugegebenermaßen ein wenig konstruiert beginnt Ulla Lenzes neuer Roman "Das Wohlbefinden", der bei Klett-Cotta erschienen ist und es bis auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 schaffte. Dennoch ist dieser Beginn so aufregend, dass die Leserschaft es ihm verzeihen wird. Denn Lenze öffnet sogleich den Vorhang für den eigentlichen Star des Buches: Welcome to Beelitz, dem "Zauberberg der Proletarier", wie ein Professor die Heilstätten 1907 einst nannte, und genießen Sie doch Ihren Aufenthalt an diesem etwas surrealen Ort, den die Natur längst für sich zurückerobert hat. Überhaupt trifft Ulla Lenze mit den Heilstätten als Ort des Geschehens ganz offenbar einen Nerv der zeitgenössischen Literatur.

"Das Wohlbefinden" umspannt dabei von 1907 bis 2020 mehr als 100 Jahre und setzt geschickt auf diverse Orte und Perspektiven. Hervorzuheben ist, dass es Lenze ganz hervorragend gelingt, die zeitlich unterschiedlichen Handlungsstränge auch erzählerisch komplett anders klingen zu lassen.

In den Heilstätten selbst erfährt man zudem wie im Vorbeigehen viele interessante Aspekte über den aufkommenden Okkultismus der Zeit, aber auch über die medizinischen Fortschritte, bei denen man sich manchmal in der überaus gelungenen ersten Staffel der ARD-Serie "Charité" wähnt. Historische und fiktive Figuren geben sich dabei ein Stelldichein. Klug und unterhaltsam erzählt Lenze von der Annäherung zwischen Johanna und Anna, der dritten Schlüsselfigur dieses von Frauen dominierten Romans. Anna ist ein Medium, dessen ohnehin schon hellseherische Fähigkeiten nach einer Art Nahtoderfahrung offenbar ins Unermessliche wechseln. Anna wird zu Johannas Muse und beeinflusst die Entstehung von Johannas Roman "Das Schmuckzimmer" auf nicht unerhebliche Weise. Doch was ist damals wirklich vorgefallen zwischen den beiden, dass Johanna Annas Namen aus der Danksagung der weiteren Auflagen einfach herausstrich? Hier setzt inhaltlich der dritte Handlungsstrang ein, der 1967 spielt und in dem die mittlerweile an Demenz leidende Johanna Annas wahre Geschichte aufschreiben will - in just dem Manuskript, das 2020 dem Makler Maurus vorliegt.

All dies funktioniert in der ersten Hälfte des Romans außerordentlich gut. Mit Spannung erwartet man vor allem, wie sich die Begegnung zwischen Johanna und Anna entwickeln wird, aber auch, wie nah der in den Heilstätten tätige Professor Blomberg seinem Ziel kommt, Heilung vor allem durch Wohlbefinden zu erreichen. So ist dieser Blomberg auch im Binnenverhältnis zwischen Anna und Johanna eine zentrale Figur der ersten gut 150 Seiten.

Allerdings begeht Lenze den Fehler, Blomberg irgendwann einfach sang- und klanglos aus dem Roman scheiden zu lassen, während sich das Buch mehr und mehr auf Anna und Johanna konzentriert. Anna wohnt mittlerweile in Johannas schönem Haus und entpuppt sich gerade mit Blick auf Johannas Ehe mit dem Mediziner Clemens als Störfaktor. Und auch der Leserschaft fällt Anna alsbald auf die Nerven. Seit ihrer Nahtoderfahrung bringt Anna nämlich kaum noch klare Sätze hervor, sondern betont immer und überall das Göttliche und dass Gott durch sie spreche. Plötzlich klingt auch die zuvor noch so elegante Sprache wie aus einem unterdurchschnittlichen Historien-Roman. "Wenn Sie Ihrer Seele lauschen und diese zum Klingen bringen, werden auch andere lauschen", heißt es an einer Stelle. "Sie müssen Ihrem Herzen vertrauen. Weil das, was in Ihnen ist, seine Antwort finden muss", kurz zuvor. So reiht sich Platitüde an Platitüde und auch die Beelitzer Heilstätten sind nahezu vergessen, weil sie in der zweiten Hälfte kaum noch auftauchen.

Eine weitere Schwäche ist, dass insbesondere die Figur der Vanessa überhaupt nicht an Kontur gewinnt und keine Entwicklung zeigt. Eigentlich bleibt sie die ganze Zeit auf Wohnungssuche und macht - gemeinsam mit Lenze - viel zu wenig aus dem unerwartet aufgetauchten Manuskript aus dem Jahr 1967. Letztlich scheint sie nur zu existieren, um die Heilstätten auch im Jahr 2020 einmal auf die Leserschaft wirken lassen zu können.

Bewertung vom 16.09.2024
In den Wald
Vaglio Tanet, Maddalena

In den Wald


ausgezeichnet

Als die Lehrerin Silvia aus der Tageszeitung vom Tod ihrer elfjährigen Schülerin Giovanna erfährt, gibt es für sie nur eine Entscheidung: Sie kann jetzt nicht in die Schule gehen, sondern sucht Unterschlupf im Wald. Dort, wo sie selbst schon als kleines Mädchen mit ihrem Cousin Anselmo gespielt hat, jeden Baumstumpf kannte, jedes Tier. Sie fühlt sich schuldig, hatte sie doch noch kurz zuvor einen Anruf bei der Mutter Giovannas getätigt. Wie lebt es sich mit diesen Schuldgefühlen? Und wie verschwindet man als Erwachsener eigentlich am besten, wenn man gar nicht gefunden werden möchte? Darüber und über so viel mehr schreibt Maddalena Vaglio Tanet in ihrem Debütroman "In den Wald", der in Italien für den Premio Strega nominiert war und in der Übersetzung aus dem Italienischen von Annette Kopetzki bei Suhrkamp erschienen ist.

Sofort ins Auge sticht die stilvolle Covergestaltung mit dem herbstlichen Wald und der überproportional großen Schrift, die an den italienischen Giallo erinnert und die Leserschaft damit unmittelbar in den Herbst 1970 katapultiert, den Zeitpunkt der Romanhandlung. Wer nun allerdings auf Thriller- oder gar Horrorelemente hofft, wird enttäuscht, denn Maddalena Vaglio Tanet setzt vielmehr auf eine sich still und langsam entwickelnde Handlung. Auch wenn Silvia durchaus ihre Gespenster sieht.

Dabei ist es nicht nur der Wald als Handlungsort, der dem Roman eine märchenhafte Komponente verleiht. Wenn Silvia und Anselmo als Kinder allein durch ihn streifen, um Pilze zu sammeln, meint man im Hintergrund die Hexe in ihrem großen Lebkuchenhaus zu wittern. Und natürlich gibt es auch einen Helden: Vorhang auf für den elfjährigen Martino, dessen magische Fähigkeiten sich allerdings darauf beschränken, auf seine innere Stimme zu hören und sich mit Herz und Verstand den zahlreichen Gefahren des Waldes - und des Lebens - zu stellen.

Denn so viel sei verraten: Letztlich ist es Martino, der die Lehrerin im Wald findet. Ein kleiner Asthmatiker aus Turin, der wegen seiner Krankheit und der besseren Luft seinen Weg in diese ländliche Umgebung des Piemont gefunden hat und sich nun dem Dilemma ausgesetzt sieht: Was macht man mit einem Menschen, der gar nicht gefunden werden möchte? Noch dazu eine Lehrerin...

Wie Maddalena Vaglio Tanet dieses Dilemma in Szene setzt, wie sie sich hineinfühlt in Martino, Silvia und die zahlreichen anderen Nebenfiguren, ist ganz große und herzerweichende Kunst. Ganz besonders erstaunlich ist dabei ihr Gefühl für die Kinderfiguren, deren Zweifel und Ängste sie in jedem Moment greifbar macht. So ganz nebenbei gelingt ihr mit Martino dabei eine der wohl liebenswertesten Jungenfiguren der jüngeren zeitgenössischen Literatur. Hier spürt man, dass Vaglio Tanet in Italien bereits Kinderbücher veröffentlicht hat. So vorsichtig wie zärtlich nähern sich die beiden Hauptfiguren einander an: sie, die alleinstehende Lehrerin, die für die Schule lebt und er, der Junge, der die große Stadt und seine Freunde vermisst. Zwei einsame Außenseiter:innen, deren Leben durch die Begegnung im Wald eine dramatische Wendung nimmt.

Auch sprachlich hervorragend ist zudem die Schilderung des Waldes, der wie eine eigene Figur Raum einnimmt. Dieser Wald, zugleich Schutz und Gefahr, wird nicht nur durch seine Bewohner, die Tiere und Pflanzen, charakterisiert, sondern repräsentiert in seiner Undurchdringlichkeit auch so etwas wie die inneren Kämpfe Silvias, ihre Zweifel, Schuldgefühle, aber auch ihre Verantwortung gegenüber Martino.

"In den Wald" glänzt zudem durch enorme doppelschichtige Erzählkunst. So sind es die Geschichten, die sich die Figuren gegenseitig erzählen, die im wahrsten Sinne des Wortes überlebenswichtig sind. Aus ihnen zieht Martino seine Kraft, sie sind es auch, die den Lebensmut Silvias nicht versiegen lassen. Insgesamt schafft Vaglio Tanet ein so buntes und liebenswertes Potpourri aus Figuren und Geschichten, dass es "In den Wald" mühelos auf die Liste meiner Lieblingsbücher des Jahres geschafft hat.

Möchte man etwas kritisieren, dann ist es vielleicht die Tatsache, dass der Roman das Todesopfer Giovanna, das charakterlich an die "Malnata" von Beatrice Salvioni erinnert, etwas zu früh aus den Augen verliert. Doch letztlich ist es natürlich Martino, der auch hier die passende Antwort parat hat. Schließlich sind es die Lebenden, die wichtig sind und um die man sich kümmern muss. Wie ein echter Held aus dem Märchen.

"In den Wald" von Maddalena Vaglio Tanet ist in seiner Gesamtheit ein hinreißender und warmherziger Roman, der unter den jetzt zahlreich erscheinenden Übersetzungen aus dem Italienischen hoffentlich auch auf der Frankfurter Buchmesse für Furore sorgen wird. Verdient hätte er es allemal.