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Benutzername: 
Christian1977
Wohnort: 
Leipzig

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Insgesamt 176 Bewertungen
Bewertung vom 30.10.2024
Die Lungenschwimmprobe
Renberg, Tore

Die Lungenschwimmprobe


ausgezeichnet

Pegau in Sachsen, 1681: Der renommierte Arzt Dr. Johannes Schreyer ist eigentlich auf dem Weg zur Leipziger Messe, als er vom Amtmann Abraham Walther beauftragt wird, den Leichnam eines neugeborenen Säuglings zu begutachten. Die 15-jährige Anna Voigt wird verdächtigt, ihre kleine Tochter gleich nach der Geburt getötet zu haben. Die Stichwunden am Körper des Babys sprechen Bände, doch um auf Nummer sicher zu gehen, legt Schreyer ein Teilchen der Lunge in einen Behälter mit Wasser. Als die Lunge sinkt und nicht oben schwimmt, ist für Schreyer klar: Das Kind hat nie geatmet und war bei der Geburt folglich schon tot. Vorhang auf für die Lungenschwimmprobe - und damit für den neuen Roman des Norwegers Tore Renberg, der in der deutschen Übersetzung von Karoline Hippe und Ina Kronenberger bei Luchterhand erschienen ist.

"Die Lungenschwimmprobe" ist der erste Historische Roman Renbergs, der sich bisher der zeitgenössischen Literatur verschrieben hatte. Auf gut 700 Seiten entfaltet er ein buntes und sprachgewaltiges Panorama des Hochbarock, das sich nicht nur mit der Geburt der modernen Gerichtsmedizin befasst, sondern auch einen detaillierten Blick auf Leipzig nach dem Dreißigjährigen Krieg und die Entwicklung des Rechtssystems wirft. Dass dies keine einzige Seite langweilig wird, liegt an der Erzählkunst des Autors und an der ungewöhnlichen Form des Romans.

Wer nämlich einen schlichten Historischen Schmöker erwartet, dürfte vielleicht enttäuscht sein, denn Renberg spielt mehr als einmal mit den erzählerischen Konventionen. Hier streut er den Text des damaligen Strafgesetzbuches ein, dort eine Ballade, dann ein Märchen, ein paar Tagebucheinträge und Briefe. Die wohl größte Überraschung ist aber, dass sich der Autor als Ich-Erzähler immer wieder selbst an die Leserschaft wendet. Das kommt am Ende des ersten Kapitels völlig unvermittelt und zieht sich später durch ganze eigenständige Abschnitte. Am brillantesten gelingt ihm die Verbindung zwischen Autor und Materie im bemerkenswerten Kapitel "Der Korridor", als sich bei einem Besuch im Nürnberg der Gegenwart eine Art Zeitfenster öffnet und Renberg plötzlich seinen Romanfiguren gegenüberzustehen glaubt.

Wobei die meisten Figuren des Buches auf historischen Personen beruhen. Allen voran die vermeintliche Kindsmörderin Anna und ihr Anwalt Christian Thomasius, einer der späteren Gründungsväter der Universität von Halle an der Saale. Wenn es so etwas wie eine Hauptfigur in diesem an Personal reichen Roman gibt, dann ist es der umtriebige Jurist, der als einer der ersten Vertreter:innen der Aufklärung eine gewaltige Unruhe in die damals vor sich hin dösende und vom Krieg noch immer traumatisierte Stadt Leipzig brachte. Nicht von ungefähr bezieht sich der Untertitel des Romans auf Thomasius' Wirken: "Verteidigung einer jungen Frau, die des Kindsmords bezichtigt wurde".

Ein nicht minder bedeutender Verteidiger ist allerdings Tore Renberg selbst, der auf einer Lesung zugab, er fühle sich immer als Anwalt seiner Figuren. Mit großer Empathie nähert sich Renberg der jungen Beschuldigten, über deren Leben es gerade einmal zwei historische Quellen gab - von Thomasius und von Dr. Schreyer. Auch seine Bewunderung für Christian Thomasius ist stets spürbar, ohne dessen Eitelkeit und Narzissmus zu verschweigen.

Ohnehin ist es die Ambivalenz der Figuren, die ein weiteres Qualitätsmerkmal des Romans ausmacht. Anna Voigt ist genauso wenig nur Opfer, wie beispielsweise der Leipziger Scharfrichter Christoph Heintze nur grausam oder emotionslos ist. Da hätte es bei all dieser thematischen und formalen Vielfalt die blutige und explizit grausame Rachegeschichte von Annas Vater Hans Heinrich in meinen Augen gar nicht mehr gebraucht.

Zu erwähnen ist auch noch die umfangreiche Recherche, die Renberg für das Schreiben des Romans betreiben musste - nachzulesen in einem knapp 50-seitigen digitalen Anhang mit Quellenangaben und historischen Karten. Da ist es schon verwunderlich, dass der Autor "nur" etwa fünf Jahre daran schrieb.

Insgesamt ist "Die Lungenschwimmprobe" ein berührendes, kluges und auch in seiner Form hochspannendes Epos, das nicht nur die Bürger:innen Leipzigs ihre Stadt mit anderen Augen sehen lässt, sondern auch deutlich macht, dass nicht das Mittelalter die grausamste aller Zeiten war.

Bewertung vom 20.10.2024
Eine ganz gewöhnliche Fliege und andere heitere Erzählungen
Hamsun, Knut

Eine ganz gewöhnliche Fliege und andere heitere Erzählungen


ausgezeichnet

Eine Fliege, die sich weigert das Arbeitszimmer zu verlassen. Eine ziellose Zugfahrt durch Schweden, die immer teurer wird. Oder ein Straßenbahnschaffner in Chicago, der von einem Fahrgast ein merkwürdiges Angebot erhält. So unterschiedlich und vielfältig präsentiert sich der spätere Literaturnobelpreisträger Knut Hamsun in seinen frühen heiteren Erzählungen, die bei Reclam erschienen sind und von der renommierten Übersetzerin und Autorin Gabriele Haefs herausgegeben und mit einem Nachwort versehen wurden. Laut Klappentext zeige sich Hamsun in ihnen, "wie man ihn bisher noch nicht kannte: heiter, komisch, grotesk", was allerdings nur halbwegs stimmt. Denn diese Seite des Norwegers findet man auch in seinem Erfolgsroman "Hunger" an mehreren Stellen überdeutlich, was nicht nur Astrid Lindgren bemerkte. Überraschend ist vielmehr, wie unterschiedlich dieser Humor, diese heitere Seite in den Geschichten hervortritt, was aus dem Erzählband ein wunderbares Dokument der frühen Hamsun-Schaffensphase macht.

Der Komik in "Hunger" am nächsten kommt dabei gleich die erste Erzählung "Die Königin von Saba". "Freakig" nennt Gabriele Haefs "Hunger" in ihrem Nachwort und so kann man auch den Humor in dieser Geschichte beschreiben. In ihr reist der Ich-Erzähler offenbar ziel- und planlos nach Schweden und verfängt sich in den Augen eines jungen Mädchens, was letztlich zu einer teuren Zug-Odyssee führt. Die Dialoge des Protagonisten mit den Mitreisenden und mit der jungen Frau erinnern an den hinreißenden Anarcho-Humor der "Hunger"-Hauptfigur und auch im völlig willkürlichen Umgang mit dem wenigen Geld, in der ironischen Selbstüberschätzung des Ich-Erzählers im Hinblick auf seine Wirkung auf Frauen blitzt der Klassiker immer wieder durch.

Ohnehin sind es die Frauen, die in "Eine ganz gewöhnliche Fliege" eine zentrale Rolle spielen. Werden sie zunächst scheinbar oberflächlich auf ihr Aussehen und ihre Wirkung auf Männer reduziert, entpuppen sie sich nicht selten als clevere Gewinnerinnen der Erzählungen. So beispielsweise im "klitzekleinen Roman" "Hinein in den süßen Sommer", in dem sich Hamsun mit Augenzwinkern über die gehobene Gesellschaft lustig macht oder überdeutlich nicht nur aufgrund des Titels im schwarzhumorig-bösen "Frauensieg". Der Ich-Erzähler arbeitet als Straßenbahnschaffner in Chicago, wie es Hamsun einst selbst tat. Als er sich durch ein seltsames Angebot eines Fahrgastes ein paar Dollar hinzuverdienen möchte, ist es eine Frau, die dieses Vorhaben auf überraschende Weise durchkreuzt. Und selbst die Stubenfliege hat etwas Weibliches an sich und irgendwann "einen Liebhaber von der Straße im Schlepptau", ein Fliegenmännchen, was beim schreibenden Protagonisten zu Eifersuchtsanfällen führt. Fast immer ist es die Suche nach Liebe, die die Hauptfiguren umtreibt, was auch Haefs im Nachwort noch einmal hervorhebt.

Wahrscheinlich nicht ganz zufällig in der Mitte des Bandes steht dabei die Erzählung "Auf Tournee", in der Knut Hamsun selbst vielleicht am stärksten als literarische Figur zu erkennen ist. Ein erfolgloser Schriftsteller möchte darin auf eigene Faust einen "Vortrag über moderne norwegische Literatur halten". Natürlich kommt es anders, als er denkt und ein Antispiritist, der sein Publikum mit vermeintlich exotischen Tieren überrascht, stiehlt ihm alle potenziellen Zuschauer:innen. "Mein Weg ist der zu den Idealen", entgegnet der Protagonist dem betrügerischen Nebenbuhler - und endet letztlich doch als brillanter Rhetoriker bei der Tierpräsentation. Hamsuns tragikomische Selbstironie, die skurrilen Ereignisse rund um den geplanten Vortrag sind allein schon den Kauf des Buches wert.

Und auch Haefs' Nachwort ist erhellend, auch wenn die "späteren Schandtaten" des Schriftstellers im Bezug auf norwegische Nazi-Organisationen fast ausgeklammert werden. Gelungen ist beispielsweise die Entscheidung, die einzelnen Erzählungen von vielen unterschiedlichen Übersetzerinnen - tatsächlich sind es ausschließlich Frauen - bearbeiten zu lassen, was auch im Deutschen zu mehr Vielfalt führt. Die titelgebende Fliegen-Geschichte wurde sogar von einem kompletten Übersetzungsseminar ins Deutsche übertragen. Was leider fehlt, sind die norwegischen Originaltitel der Geschichten und die genauen Entstehungsjahre. Insgesamt ist "Eine ganz gewöhnliche Fliege" aber ein hervorragender Erzählband, der die Leser:innen von Schweden nach Chicago, von London nach Paris begleitet und dabei nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich mit seinen häufigen Wechseln der Erzählzeiten und dem abwechslungsreichen Humor immer wieder überrascht.

Bewertung vom 10.10.2024
La Louisiane
Malye, Julia

La Louisiane


ausgezeichnet

Paris, 1720. Marguérite muss sich entscheiden. 92 Frauennamen muss die Leiterin des Hospitals La Salpêtrière auf die Liste schreiben, die über das weitere Schicksal ihrer Schützlinge bestimmt. Hier, in diesem Sammelbecken von Waisenkindern, Gefangenen, psychisch Kranken und weiteren gesellschaftlichen Außenseiterinnen. 92 Frauen, "Freiwillige", die in Kürze eine mehrmonatige Reise über den Ozean antreten müssen. Ihr Ziel: die französische Kolonie La Louisiane, deren Fortbestand aufgrund fehlenden Nachwuchses ansonsten nicht gewährleistet wäre...

"La Louisiane" ist der neue Roman von Julia Malye, der in der Übersetzung aus dem Französischen von Sina de Malafosse beim neuen Gutkind Verlag erschienen ist. Malye, die ihren ersten Roman im Alter von 15 Jahren veröffentlichte, erscheint damit erstmals auf Deutsch. Für "La Louisiane", den sie auf Englisch und Französisch schrieb, recherchierte sie sage und schreibe zehn Jahre. Eine Arbeit, die dem Roman von vorn bis hinten anzumerken ist, denn "La Louisiane" ist ein mehr als 520 Seiten starkes Epos geworden, das nicht nur mit historischen Details glänzt, sondern auch mit einer plastisch-poetischen Sprache und herausragenden Frauenfiguren.

Und so verwundert es auch nicht, dass der französische Artikel "La" im Titel so präsent ist, denn "La Louisiane" zeichnet sich vor allem durch unbändige weibliche Energie aus. Im Mittelpunkt stehen die drei Protagonistinnen Geneviève, eine homosexuelle "Engelmacherin", die zu Beginn zwölfjährige Waisin Charlotte und die naive und durch ein Muttermal entstellte Pétronille. Über 14 Jahre begleiten die Leser:innen diese Hauptfiguren durch wenig Freud und viel Leid, und es ist erstaunlich, wie viel Tiefe Julia Malye ihnen schenkt. Die Ängste und Sorgen der Mädchen und Frauen müssen dabei gar nicht explizit ausgesprochen werden, es reichen Gesten und Andeutungen.

Sprachlich stark sind die Beschreibungen der Schauplätze und der Naturphänomene, die diese begleiten. Seien es die peitschenden Stürme auf der Überfahrt nach La Louisiane, seien es die Geräusche und Gerüche in der überdimensionierten Salpêtrière oder später die Sümpfe in La Louisiane - Julia Malye schreibt so plastisch, dass man als Leser:in eine unmittelbare Vorstellung der Settings erhält und diese fast zu riechen oder hören scheint. Hoch anzurechnen ist der Autorin zudem, dass sie mit "La Louisiane" eine fast vergessene Episode der französischen Geschichte zum Leben erweckt. Unglaublich scheint es aus heutiger Sicht, dass Frauen und Mädchen - überwiegend gegen ihren Willen - auf einen meilenweit entfernten Kontinent verschifft werden konnten, ohne zu wissen, was sie dort erwartet. Und natürlich ohne ein wirkliches Mitspracherecht in Bezug auf ihre auserwählten Bräutigame zu haben.

Tatsächlich ist "La Louisiane" weit mehr als ein gewöhnlicher "Historien-Schmöker". Wer dies erwartet, dürfte vielleicht enttäuscht sein. Dafür ist Malyes Sprache zu literarisch, das Erzähltempo zu langsam, dafür sind die Beschreibungen zu kleinteilig. Vielmehr verbindet der Roman viele Themen, die nicht an Aktualität verloren haben. Ob Heimat oder Sprache, ob queere Liebe oder Feminismus, ob Kolonialismus oder Rassismus - mit Sensibilität und sprachlicher Eleganz verknüpft Julia Malye all dies zu diesen mächtigen Epos, das "La Louisiane" letztlich geworden ist.

Am Ende unbedingt hervorzuheben ist noch das zehnte Kapitel, das in dem Roman eine bemerkenswerte Sonderstellung einnimmt. Es ist nach dem Auftaktkapitel das einzige, das nicht aus der Perspektive einer der drei Hauptfiguren erzählt wird, sondern aus Sicht der indigenen Jugendlichen Utu'wv Ecoko'nesel. Das Mädchen soll Pétronille Kenntnisse über die heilenden Kräfte der Pflanzen vermitteln und gerät dabei in mehrere Konflikte, denen Julia Malye mit herausragender Empathie begegnet. Das Kapitel ist sowohl auf der Spannungsskala als auch in Sachen Emotionalität der unbestrittene Höhepunkt eines insgesamt begeisternden Historischen Romans.

Bewertung vom 02.10.2024
Trauriger Tiger
Sinno, Neige

Trauriger Tiger


sehr gut

Etwa mit sieben Jahren beginnt es. Neiges Stiefvater nähert sich ihr in der Nacht oder wenn die Mutter nicht im Hause ist. Er wird es immer wieder tun, über Jahre hinweg, bis in die Pubertät hinein. Ein Stiefvater und Vergewaltiger. Wie lebt ein Kind, das sich einer solchen Gewalt ausgesetzt sieht? Wie überlebt es? Und wie kann man den Menschen davon erzählen, dem eigenen Umfeld, aber auch der ganzen Welt? Mit einem Buch wie "Trauriger Tiger" von Neige Sinno, das in der Übersetzung aus dem Französischen von Michaela Meßner bei dtv erschienen ist.

Schon der Anfang strahlt diese Wucht aus, die die Leserschaft während der Lektüre des Buches häufig überfallen wird. Völlig unvermittelt beginnt Neige Sinno nämlich mit dem Versuch des Porträts ihres Peinigers, den sie einst mit ihrer späten Anzeige vor Gericht brachte. Sie wird in der Folge immer wieder damit beginnen. "Denn auch mich interessiert im Grunde vor allem das, was im Kopf des Täters vor sich geht", so lautet der überraschende erste Satz von "Trauriger Tiger", das in Frankreich fünf große Literaturpreise und dazu den Premio Strega Europeo erhielt. "Porträts" und "Gespenster" heißen die beiden Teile des Buches, die sich zunächst um das Umfeld von Neige und ihrer Familie drehen, ehe es in der zweiten Hälfte der gut 300 Seiten eher um die Auswirkungen des Missbrauchs auf die "Überlebenden", wie Neige Sinno die Missbrauchsopfer häufig nennt, und somit auf sie selbst geht.

Wobei die literarischen Auszeichnungen doch etwas überraschend sind. Rein sprachlich ist das Buch nämlich recht unauffällig. Zwar gibt es zwischendurch immer wieder so aufrüttelnde Sätze wie "Man vergewaltigt, um zu existieren", doch in seiner Gesamtheit liest sich "Trauriger Tiger" eher wie eine Mischung aus Sachbuch und Memoir. Das Besondere ist vielmehr Neige Sinnos Zugang zu ihrer so persönlichen Geschichte. Und hier kommt die Literatur dann doch wieder ins Spiel, denn Sinno analysiert und beschreibt ihren langjährigen Missbrauch und die Auswirkungen auf sie, aber auch auf den Täter, auch mithilfe von Büchern und Erzählungen. Ob Nabokovs "Lolita", Hans Christian Andersens "Die wilden Schwäne" oder Emmanuel Carrères "Widersacher" - sie alle spielen eine zentrale Rolle in "Trauriger Tiger".

Positiv hervorzuheben ist, dass das Buch keineswegs voyeuristisch ist. Im Gegenteil, die Darstellung des Grausamen ist erstaunlich sachlich, was einen emotionaleren Zugang zum Buch allerdings teilweise auch verhindert. In dieser Hinsicht konnte "Tiger, Tiger" der mittlerweile verstorbenen Margaux Fragoso mit einem sehr ähnlichen Thema aus dem Jahre 2011 deutlich mehr überzeugen. "Tiger, Tiger", das unverblümt Namenspate für Neige Sinnos Werk ist, hat letztere überraschenderweise aber gar nicht gelesen, obwohl sie sonst nahezu alles zum Thema Missbrauch verschlungen hat. Abgeschreckt hat sie eine negative Kritik, was eine etwas seltsame Entscheidung ist.

Der Zugang über die Literatur ist dennoch ein kluger, wenn auch nicht der einzige Ansatz von Neige Sinno in diesem Buch. Sie reflektiert über die Auswirkungen der jahrelangen Vergewaltigungen, über männliche Sexualität, über Schuld, über die Wirksamkeit von Therapien und Strafen, ja, sogar über das Leben und den Tod. Und es gelingt ihr, dass man auch als Leser:in darüber reflektiert, dass man gezwungen wird, eine Haltung einzunehmen. Schwächer ist das Buch, wenn Sinno sich in ihren Gedankengängen verheddert, unverständlich bleibt und wenn sie einzelne Passagen zu häufig wiederholt.

Zudem wird nicht ganz klar, warum Neige Sinno ihr Buch überhaupt geschrieben hat. Sie wünscht ihm "nicht viele Leser", ja, es widere sie sogar an, aus ihrer Geschichte Kunst zu machen, was man beides nicht besonders glaubwürdig findet. Eine therapeutische Wirkung hatte das Schreiben für sie auch nicht. Warum also auch immer, die Entscheidung war natürlich richtig. Denn "Trauriger Tiger" gelingt es trotz oder wegen des persönlichen Schicksals der Autorin, dass man als Leser:in schockiert und nachdenklich zurückbleibt. Und dass man Neige Sinno, die Überlebende, nicht so schnell wieder vergisst.

3,5/5

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Bewertung vom 30.09.2024
Das große Spiel
Powers, Richard

Das große Spiel


sehr gut

Irgendwann im Jahr 2027: Die Menschen auf Makatea, einer kleinen Pazifikinsel, müssen sich entscheiden: Aus den USA gibt es das Angebot, aus dem verschlafenen Eiland eine Gesellschaft der Zukunft zu machen, eine schwimmende Stadt mit hochmodernem Hafen. Hoffnungen und Zweifel halten sich die Waage. Unter den Unentschlossenen befinden sich auch die über 90-jährige Meeresforscherin Evie Beaulieu, Künstlerin Ina Aroita und ihr Mann, der Literaturfreund Rafi Young, den einst eine tiefe Freundschaft mit dem mittlerweile steinreichen IT-Nerd Todd Keane verband. Währenddessen erinnert sich der demenzkranke Keane in den USA an diese Freundschaft und ihre Anfänge. Was hat die beiden Sonderlinge einst nur auseinandergebracht?

Über eine zerbrechende Männerfreundschaft, den Einfluss der Technik auf den Menschen und die unbändige Liebe zum Ozean schreibt Richard Powers in seinem neuesten Roman „Das große Spiel“, der in der Übersetzung aus dem Amerikanischen von Eva Bonné bei Penguin erschienen ist. Im Vergleich zum Vorgänger „Erstaunen“ also ein neuer Verlag, eine neue Übersetzerin, aber immer noch die große Lust des Erzählers Powers, so aktuelle und gesellschaftsrelevante Themen wie Umweltschutz und technischen Fortschritt zu vereinen. Während Makatea und seine Bewohner:innen für den Ozean und die Natur stehen, verkörpert Todd Keane die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten der Computertechnologie inklusive Künstlicher Intelligenz.

Dabei wechselt sich Richard Powers in den einzelnen Erzählsträngen ab, wobei Todd Keane als Ich-Erzähler in einer Art Tagebuch auf sein bewegtes Leben zurückblickt, während Makatea von einem allwissenden Erzähler beobachtet wird. Verbindendes Element zwischen beiden Welten ist die Figur Rafi Young. Auf Makatea arbeitet er mittlerweile als Pädagoge in der Inselschule, einst schaffte er als schwarzer Junge den Aufstieg in die Eliteschulen der USA, wo er sich aufgrund der gemeinsamen Leidenschaft für Brettspiele mit Todd anfreundete.

Als Leser:in braucht man auf den gut 500 Seiten des Romans durchaus einen langen Atem, denn insbesondere die Freundschaft zwischen Rafi und Todd nimmt in den Rückblicken einen großen Raum ein. Zudem nervt sie mit der Zeit ein wenig, da das Verhältnis der beiden zueinander ständig von einer aufgesetzten Coolness der Figuren begleitet ist. Stärker ist „Das große Spiel“, wenn Richard Powers sich auf seine in jedem Moment spürbare Liebe zu der Natur, in diesem Fall insbesondere zum Ozean und seinen Bewohnern konzentriert. Wenn beispielsweise die Ozeanologin Evie mit riesigen Mantarochen um die Wette schwimmt oder sich Ina Aroita gemeinsam mit ihrer Tochter um den Plastikmüll im Magen eines verendeten Albatros kümmert, setzt der Roman auch sprachlich seine auffälligsten Akzente.

Wobei die eigentliche Sensation des Romans das Finale ist. Ohne zu viel verraten zu wollen, setzt Richard Powers auch in „Das große Spiel“ wie schon in „Erstaunen“ zu einem bemerkenswerten Schlussakkord an, ja, zu einem regelrechten Paukenschlag, der einen komplett aus der Bahn wirft. Hier erhält auch der Romantitel einen doppelten oder gar dreifachen Boden. Denn neben den Spielen von Todd und Rafi und dem Spiel von Evie Beaulieu mit den Tieren des Ozeans ist es eben auch Richard Powers, der ein großes Spiel mit der Leserschaft betreibt.

Auffällig ist zudem, dass auch Powers offenbar das ewige Leben oder die Umkehrung des Todes umtreibt. Denn wie schon in der „Morgenstern“-Reihe von Karl Ove Knausgard spielt auch in diesem Buch die Theorie des russischen Philosophen Nikolai Fjodorowitsch Fjodorow eine zentrale Rolle.

Insgesamt ist „Das große Spiel“ ein lesenswerter Roman zwischen Umweltschutz und Künstlicher Intelligenz, der zwar Längen aufweist, aber spätestens mit dem großartigen letzten Viertel die Leserschaft auf seine Seite ziehen sollte.

Bewertung vom 23.09.2024
Das Wohlbefinden
Lenze, Ulla

Das Wohlbefinden


sehr gut

Beelitz, 2020: Als sich Vanessa die luxuriös sanierte Wohnung im ehemaligen Postgebäude der Beelitzer Heilstätten anschaut, weiß sie sofort, dass sie sich diese nicht leisten kann. Knapp 400.000 Euro für 66 Quadratmeter, wer soll das vom Makler angepriesene "Schnäppchen" bloß bezahlen? Doch sie braucht dringend eine Wohnung, weil ihr der Vermieter wegen Eigenbedarfs in zentraler Berliner Lage einfach gekündigt hat. Noch ahnt sie nicht, dass die Begegnung mit dem Makler und die Besichtigung der Heilstätten ihrem Leben eine ungeahnte Wende geben sollen. Denn an diesem Ort recherchierte einst Vanessas Urgroßmutter Johanna für ihren Anfang des 20. Jahrhunderts erschienenen Erfolgsroman "Das Schmuckzimmer". Und es ist ausgerechnet der Makler Maurus, dem ein bislang unveröffentlichtes Manuskript Johannas vorliegt...

Zugegebenermaßen ein wenig konstruiert beginnt Ulla Lenzes neuer Roman "Das Wohlbefinden", der bei Klett-Cotta erschienen ist und es bis auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 schaffte. Dennoch ist dieser Beginn so aufregend, dass die Leserschaft es ihm verzeihen wird. Denn Lenze öffnet sogleich den Vorhang für den eigentlichen Star des Buches: Welcome to Beelitz, dem "Zauberberg der Proletarier", wie ein Professor die Heilstätten 1907 einst nannte, und genießen Sie doch Ihren Aufenthalt an diesem etwas surrealen Ort, den die Natur längst für sich zurückerobert hat. Überhaupt trifft Ulla Lenze mit den Heilstätten als Ort des Geschehens ganz offenbar einen Nerv der zeitgenössischen Literatur.

"Das Wohlbefinden" umspannt dabei von 1907 bis 2020 mehr als 100 Jahre und setzt geschickt auf diverse Orte und Perspektiven. Hervorzuheben ist, dass es Lenze ganz hervorragend gelingt, die zeitlich unterschiedlichen Handlungsstränge auch erzählerisch komplett anders klingen zu lassen.

In den Heilstätten selbst erfährt man zudem wie im Vorbeigehen viele interessante Aspekte über den aufkommenden Okkultismus der Zeit, aber auch über die medizinischen Fortschritte, bei denen man sich manchmal in der überaus gelungenen ersten Staffel der ARD-Serie "Charité" wähnt. Historische und fiktive Figuren geben sich dabei ein Stelldichein. Klug und unterhaltsam erzählt Lenze von der Annäherung zwischen Johanna und Anna, der dritten Schlüsselfigur dieses von Frauen dominierten Romans. Anna ist ein Medium, dessen ohnehin schon hellseherische Fähigkeiten nach einer Art Nahtoderfahrung offenbar ins Unermessliche wechseln. Anna wird zu Johannas Muse und beeinflusst die Entstehung von Johannas Roman "Das Schmuckzimmer" auf nicht unerhebliche Weise. Doch was ist damals wirklich vorgefallen zwischen den beiden, dass Johanna Annas Namen aus der Danksagung der weiteren Auflagen einfach herausstrich? Hier setzt inhaltlich der dritte Handlungsstrang ein, der 1967 spielt und in dem die mittlerweile an Demenz leidende Johanna Annas wahre Geschichte aufschreiben will - in just dem Manuskript, das 2020 dem Makler Maurus vorliegt.

All dies funktioniert in der ersten Hälfte des Romans außerordentlich gut. Mit Spannung erwartet man vor allem, wie sich die Begegnung zwischen Johanna und Anna entwickeln wird, aber auch, wie nah der in den Heilstätten tätige Professor Blomberg seinem Ziel kommt, Heilung vor allem durch Wohlbefinden zu erreichen. So ist dieser Blomberg auch im Binnenverhältnis zwischen Anna und Johanna eine zentrale Figur der ersten gut 150 Seiten.

Allerdings begeht Lenze den Fehler, Blomberg irgendwann einfach sang- und klanglos aus dem Roman scheiden zu lassen, während sich das Buch mehr und mehr auf Anna und Johanna konzentriert. Anna wohnt mittlerweile in Johannas schönem Haus und entpuppt sich gerade mit Blick auf Johannas Ehe mit dem Mediziner Clemens als Störfaktor. Und auch der Leserschaft fällt Anna alsbald auf die Nerven. Seit ihrer Nahtoderfahrung bringt Anna nämlich kaum noch klare Sätze hervor, sondern betont immer und überall das Göttliche und dass Gott durch sie spreche. Plötzlich klingt auch die zuvor noch so elegante Sprache wie aus einem unterdurchschnittlichen Historien-Roman. "Wenn Sie Ihrer Seele lauschen und diese zum Klingen bringen, werden auch andere lauschen", heißt es an einer Stelle. "Sie müssen Ihrem Herzen vertrauen. Weil das, was in Ihnen ist, seine Antwort finden muss", kurz zuvor. So reiht sich Platitüde an Platitüde und auch die Beelitzer Heilstätten sind nahezu vergessen, weil sie in der zweiten Hälfte kaum noch auftauchen.

Eine weitere Schwäche ist, dass insbesondere die Figur der Vanessa überhaupt nicht an Kontur gewinnt und keine Entwicklung zeigt. Eigentlich bleibt sie die ganze Zeit auf Wohnungssuche und macht - gemeinsam mit Lenze - viel zu wenig aus dem unerwartet aufgetauchten Manuskript aus dem Jahr 1967. Letztlich scheint sie nur zu existieren, um die Heilstätten auch im Jahr 2020 einmal auf die Leserschaft wirken lassen zu können.

Bewertung vom 16.09.2024
In den Wald
Vaglio Tanet, Maddalena

In den Wald


ausgezeichnet

Als die Lehrerin Silvia aus der Tageszeitung vom Tod ihrer elfjährigen Schülerin Giovanna erfährt, gibt es für sie nur eine Entscheidung: Sie kann jetzt nicht in die Schule gehen, sondern sucht Unterschlupf im Wald. Dort, wo sie selbst schon als kleines Mädchen mit ihrem Cousin Anselmo gespielt hat, jeden Baumstumpf kannte, jedes Tier. Sie fühlt sich schuldig, hatte sie doch noch kurz zuvor einen Anruf bei der Mutter Giovannas getätigt. Wie lebt es sich mit diesen Schuldgefühlen? Und wie verschwindet man als Erwachsener eigentlich am besten, wenn man gar nicht gefunden werden möchte? Darüber und über so viel mehr schreibt Maddalena Vaglio Tanet in ihrem Debütroman "In den Wald", der in Italien für den Premio Strega nominiert war und in der Übersetzung aus dem Italienischen von Annette Kopetzki bei Suhrkamp erschienen ist.

Sofort ins Auge sticht die stilvolle Covergestaltung mit dem herbstlichen Wald und der überproportional großen Schrift, die an den italienischen Giallo erinnert und die Leserschaft damit unmittelbar in den Herbst 1970 katapultiert, den Zeitpunkt der Romanhandlung. Wer nun allerdings auf Thriller- oder gar Horrorelemente hofft, wird enttäuscht, denn Maddalena Vaglio Tanet setzt vielmehr auf eine sich still und langsam entwickelnde Handlung. Auch wenn Silvia durchaus ihre Gespenster sieht.

Dabei ist es nicht nur der Wald als Handlungsort, der dem Roman eine märchenhafte Komponente verleiht. Wenn Silvia und Anselmo als Kinder allein durch ihn streifen, um Pilze zu sammeln, meint man im Hintergrund die Hexe in ihrem großen Lebkuchenhaus zu wittern. Und natürlich gibt es auch einen Helden: Vorhang auf für den elfjährigen Martino, dessen magische Fähigkeiten sich allerdings darauf beschränken, auf seine innere Stimme zu hören und sich mit Herz und Verstand den zahlreichen Gefahren des Waldes - und des Lebens - zu stellen.

Denn so viel sei verraten: Letztlich ist es Martino, der die Lehrerin im Wald findet. Ein kleiner Asthmatiker aus Turin, der wegen seiner Krankheit und der besseren Luft seinen Weg in diese ländliche Umgebung des Piemont gefunden hat und sich nun dem Dilemma ausgesetzt sieht: Was macht man mit einem Menschen, der gar nicht gefunden werden möchte? Noch dazu eine Lehrerin...

Wie Maddalena Vaglio Tanet dieses Dilemma in Szene setzt, wie sie sich hineinfühlt in Martino, Silvia und die zahlreichen anderen Nebenfiguren, ist ganz große und herzerweichende Kunst. Ganz besonders erstaunlich ist dabei ihr Gefühl für die Kinderfiguren, deren Zweifel und Ängste sie in jedem Moment greifbar macht. So ganz nebenbei gelingt ihr mit Martino dabei eine der wohl liebenswertesten Jungenfiguren der jüngeren zeitgenössischen Literatur. Hier spürt man, dass Vaglio Tanet in Italien bereits Kinderbücher veröffentlicht hat. So vorsichtig wie zärtlich nähern sich die beiden Hauptfiguren einander an: sie, die alleinstehende Lehrerin, die für die Schule lebt und er, der Junge, der die große Stadt und seine Freunde vermisst. Zwei einsame Außenseiter:innen, deren Leben durch die Begegnung im Wald eine dramatische Wendung nimmt.

Auch sprachlich hervorragend ist zudem die Schilderung des Waldes, der wie eine eigene Figur Raum einnimmt. Dieser Wald, zugleich Schutz und Gefahr, wird nicht nur durch seine Bewohner, die Tiere und Pflanzen, charakterisiert, sondern repräsentiert in seiner Undurchdringlichkeit auch so etwas wie die inneren Kämpfe Silvias, ihre Zweifel, Schuldgefühle, aber auch ihre Verantwortung gegenüber Martino.

"In den Wald" glänzt zudem durch enorme doppelschichtige Erzählkunst. So sind es die Geschichten, die sich die Figuren gegenseitig erzählen, die im wahrsten Sinne des Wortes überlebenswichtig sind. Aus ihnen zieht Martino seine Kraft, sie sind es auch, die den Lebensmut Silvias nicht versiegen lassen. Insgesamt schafft Vaglio Tanet ein so buntes und liebenswertes Potpourri aus Figuren und Geschichten, dass es "In den Wald" mühelos auf die Liste meiner Lieblingsbücher des Jahres geschafft hat.

Möchte man etwas kritisieren, dann ist es vielleicht die Tatsache, dass der Roman das Todesopfer Giovanna, das charakterlich an die "Malnata" von Beatrice Salvioni erinnert, etwas zu früh aus den Augen verliert. Doch letztlich ist es natürlich Martino, der auch hier die passende Antwort parat hat. Schließlich sind es die Lebenden, die wichtig sind und um die man sich kümmern muss. Wie ein echter Held aus dem Märchen.

"In den Wald" von Maddalena Vaglio Tanet ist in seiner Gesamtheit ein hinreißender und warmherziger Roman, der unter den jetzt zahlreich erscheinenden Übersetzungen aus dem Italienischen hoffentlich auch auf der Frankfurter Buchmesse für Furore sorgen wird. Verdient hätte er es allemal.

Bewertung vom 16.09.2024
Verlassene Nester
Hempel, Patricia

Verlassene Nester


gut

Die 13-jährige Pilly wächst Anfang der 1990er-Jahre irgendwo in der Nähe von Magdeburg im ehemaligen Elbe-Grenzgebiet auf. Die DDR spukt den Menschen noch in den Köpfen herum, während Industriebauten brach liegen und Investoren aus dem Westen schon bereitstehen. Wie soll man da erwachsen werden, wenn die Mutter verschwunden ist und der Vater ein passionierter Trinker? Als Pilly Anschluss an die etwas älteren Freundinnen Katja und Bine findet, spürt sie endlich so etwas wie Nähe. Gerade bei Katja fühlt sie sich geborgen. Aber wird das Mädchen die Gefühle erwidern?

Über zarte queere Liebe, die Probleme des Erwachsenwerdens und einen untergegangenen Staat schreibt Patricia Hempel in ihrem zweiten Roman „Verlassene Nester“, der bei Tropen erschienen ist. Er beginnt wie ein typischer Coming-of-Age-Roman mit jugendlich-sexualisierten Machtspielchen, Tierquälereien und ähnlichen Dingen, die man wohl schon hundertfach gelesen hat. Das Besondere an „Verlassene Nester“ ist eher das Setting. Und tatsächlich ist dieses Setting mit seinen Beschreibungen auch die Stärke des Romans.

Denn Patricia Hempel gelingt es immer wieder, die verlassenen Nester des Ortes atmosphärisch in Szene zu setzen. In einem besonders bemerkenswerten Moment blickt Pilly beispielsweise an einem verregneten Tag auf ihre Umgebung, die von einer gewissen Trostlosigkeit, aber auch Melancholie überzogen wird. Industrieromantik at its best. Dazu passt dann auch der sachliche, bisweilen etwas nüchterne Ton der Sprache.

Schnell klar wird auch die Mehrdeutigkeit des gelungenen Buchtitels. Nicht nur die Menschen verlassen ihren Ort, auch die Mädchen werden langsam erwachsen. Zudem gibt es zahlreiche Anspielungen auf Vögel, da eine zentrale Figur – die von fast allen als Stasispitzel geächtete Frau Klinge – eine große Naturliebhaberin und Kennerin der Verhaltensweisen der Vögel ist. Doch diese Frau Klinge ist vor allem für Pilly und ihren Vater Martin mehr, springt sie doch an den Nachmittagen als eine Art Ersatzmutter ein, da Pillys Mutter selbst das Nest schon vor langer Zeit verlassen hat.

Die Schwäche des Buches ist letztlich die Erzählstruktur. Hempel verheddert sich in ihren zahlreichen Perspektiv- und Erzählstimmenwechseln und der Unmenge an Einzelthemen, die sie in die knapp 300 Seiten packen möchte. Da sind Pillys queere Gefühle, da ist ihr lesbisches Tantenpaar, das kurz vor dem Verkauf ihres einst so beliebten Hexengartens steht, da ist ein Brandanschlag in einer Datscha, in der Vietnames:innen leben, da sind Verdächtigungen und Spitzeleien, da sind die Alkoholprobleme Martins und das Rätsel um das Verschwinden von Pillys Mutter, da ist generell das zentrale Thema der Mutterschaft und den überall fehlenden Mutterfiguren, das dem Roman letztlich seine Struktur geben könnte. Macht es aber nicht, weil Hempel keinen der Erzählstränge auserzählt, plötzlich Figuren einführt, die der Leserschaft unbekannt bis völlig egal sind und am Ende auf eine dem Roman unangemessen hohe Prise Dramatik setzt.

Und auch die Figuren bleiben eher blass, selbst Protagonistin Pilly, die sich im gesamten Roman eigentlich kaum entwickelt. Am interessantesten ist da noch die Figur ihres Vaters Martin, der trotz seiner Alkoholprobleme und seiner Zweifel an der Vaterschaft immer wieder sein Bestes versucht, um Pilly ein guter Vater zu sein – und doch gnadenlos scheitert.

So bleibt „Verlassene Nester“ insgesamt ein eher unbefriedigender Versuch, die gesellschaftliche Relevanz eines untergegangenen Staates mit der Coming-of-Age-Geschichte eines Mädchens zu vereinen, wie es beispielsweise Anne Rabe in „Die Möglichkeit von Glück“ deutlich besser gelang. Schade, denn gerade im Mittelteil blitzt das Potenzial des Romans immer wieder auf.

2,5/5

Bewertung vom 09.09.2024
Das Haus in dem Gudelia stirbt
Knüwer, Thomas

Das Haus in dem Gudelia stirbt


gut

Als die 81-jährige Gudelia aus dem Fenster ihres Hauses im fiktiven Unterlingen schaut, traut sie ihren Augen kaum. Tote Schweine schwimmen vorbei, zerstörte Autos – und waren das gerade nicht zwei menschliche Leichen? Die Flut hat Unterlingen mit voller Wucht getroffen. Längst haben Gudelias Nachbar:innen den Ort verlassen. Doch Gudelia bleibt. Denn in ihrem Haus schlummert ein dunkles Geheimnis…

„Das Haus in dem Gudelia stirbt“ ist das Verlagsdebüt von Thomas Knüwer, das bei Pendragon erschienen ist. Knüwer, der zuvor schon einige Titel im Selbstverlag veröffentlicht hat, liefert darin einen ungewöhnlichen Kriminalroman, der sich nicht um Genregrenzen schert. Äußerst originell ist dabei die Grundidee, den dramatischen Schauplatz der Flut mit zwei klassischen Kriminalgeschichten zu verbinden.

Nach einem recht gewalttätigen Prolog beginnt die eigentliche Handlung aus der Sicht von Ich-Erzählerin Gudelia. In kurzen Stakkato-Sätzen nimmt uns diese Frau mit in ihre Welt, die sich nicht nur wegen der Wassermassen im Untergang befindet. Gewöhnt man sich erst einmal an diesen Stil, diese Satzfragmente, findet man leicht hinein in den Roman. Das liegt auch daran, dass Gudelia immer wieder kluge und eindrucksvolle Sätze hineinstreut, denen man sich kaum entziehen kann. „Früher habe ich mir ein Haus am See gewünscht, jetzt habe ich eine Wohnung in den Fluten“, heißt es an einer Stelle. „Doch der Unterschied von Ärger zu Wut ist der von Wind zu Sturm“, an einer anderen. Überhaupt kann man sich der gesamten Präsenz dieser Protagonistin nicht entziehen – ob man es will oder nicht.

Denn Gudelia ist keine klassische Sympathieträgerin, das wird relativ schnell klar. Wir begleiten diese facettenreiche Figur durch drei verschiedene Zeitebenen: 1984, als sie den Tod ihres 15-jährigen Sohnes Nico betrauert, 1998, als sie das titelgebende Haus von ihrem Mann Heinz übernimmt und eben 2024, als eine Flut, die an die Vorkommnisse im Ahrtal erinnert, Gudelia und ihr Haus bedroht. Gerade die Konflikte mit Heinz sind schwer zu ertragen. Da schlägt Gudelia ihrem Mann schon mal mit dem Hammer auf die Hand. Und er versucht, sie zu vergewaltigen, weil sie zuvor böswillige Sachen auf seine Stirn schrieb.

Die letztgenannten Beispiele zeigen die Schwächen des Buches recht eindrücklich. Knüwer überdreht nämlich mit fortschreitender Dauer des Romans immer mehr. Nahezu jede Szene endet entweder in Gewalt oder pathetischer Melodramatik. Das ist schade, denn während der ersten Hälfte der knapp 300 Seiten ist „Das Haus in dem Gudelia stirbt“ nämlich ein fast unanständig spannender Pageturner. Was Knüwer aber aus dieser Spannung macht, wie er die Handlungsfäden zusammenspinnt, ist konstruiert und unglücklich. Lieblos zudem der Umgang mit Schlüsselfiguren. Da gibt es beispielsweise Stephanus, ein Ferkelchen, das bald Gudelias einziger Begleiter ist. Eine liebenswerte Tierfigur, die nicht nur Gudelias weiche Seite rührt, sondern auch die der Leser:innen. Doch am Ende des Romans ist das Tier einfach verschwunden, sprich rausgeschrieben. Eine weitere Schlüsselfigur ist ein Freund von Nico, der tatsächlich am meisten dazu beiträgt, den Tod von Gudelias Sohn zu entschlüsseln. Doch Knüwer ist diese Figur so egal, dass sie nicht einmal einen Vornamen bekommt.

Hinzu kommt, dass der eigentliche Plot spätestens im letzten Drittel absolut vorhersehbar wird. Ohne zu viel verraten zu wollen, erinnert er doch sehr an einen Hitchcock-Filmklassiker. Das ist in Ordnung, würden sich nicht auch hier so viele geschmacklose und konstruierte Szenen einschleichen, dass man das Buch am Ende dann doch etwas entnervt zuschlägt.

„Das Haus in dem Gudelia stirbt“ ist ein unkonventioneller Krimi, bei dem Leser:innen mit offenem Genrevisier gern einen Blick riskieren dürfen. Problematisch ist allerdings, dass Genreleser:innen das Meiste schnell durchschauen, während es anderen zu gewalttätig und brutal erscheinen dürfte. Klar ist, dass Thomas Knüwer und Pendragon mit dem Buch einen durchaus mutigen und unbequemen Weg gehen.

Bewertung vom 09.09.2024
Fast wie ein Bruder
Sulzer, Alain Claude

Fast wie ein Bruder


sehr gut

Im Bochum der 1960er- und 1970er-Jahre wachsen Frank und der namenlose Ich-Erzähler fast wie Brüder zusammen auf. Beide sind sogar am selben Tag mit ihren Familien in die direkt nebeneinander liegenden Wohnungen eingezogen. Doch als Franks Interesse an der Kunst wächst und er homosexuelle Gefühle für den Nachbarsjungen Matteo verspürt, scheinen sich die Freunde unterschiedlich zu entwickeln. Erst als Frank mit AIDS im Sterbebett liegt, finden sie wieder zueinander. Und auch Franks Gemälde wecken lange Zeit nach dessen Tod plötzlich das Interesse des Ich-Erzählers. Denn stellt der nackte Jüngling auf einem Bild von Frank nicht ihn selbst da?

„Fast wie ein Bruder“ ist der neue Roman von Alain Claude Sulzer, der bei Galiani erschienen ist. In der Schweiz sorgte das Buch schon lange vor seinem Erscheinen für einen literarischen Skandal, weil Sulzer darin mehrfach das Wort „Zigeuner“ verwendet, was beim Basler Fachausschuss Literatur nicht gern gesehen war und geändert werden sollte. Sulzer nahm daraufhin unter Zensurvorwürfen den Förderungsantrag zurück. Viel Lärm um wenig, denn Sulzers Verwendung des „Z-Wortes“ entspricht dem Sprachduktus des Ich-Erzählers und muss im Kontext der Handlungszeit gelesen werden.

Gelesen werden sollte in jedem Fall auch „Fast wie ein Bruder“, denn Sulzer gelingt es, auf gerade einmal 180 Seiten so viele Themen unterzubringen, wie es andere Autor:innen in drei bis vier Büchern schaffen. Da ist der Coming-of-Age-Roman inklusive des erzwungenen homosexuellen Coming-Outs Franks. Da ist der Gesellschaftsroman, der sich intensiv mit dem Entstehen von AIDS und den gesellschaftlichen (und körperlichen) Auswirkungen der Krankheit beschäftigt. Da ist die Geschichte von Frank als erfolglosem Maler, ein charmanter Künstlerroman, der im letzten Teil gar zu einer Art Kriminalroman wird, als der Nachlass von Frank aus der Scheune des Ich-Erzählers verschwindet. Und zu guter Letzt mag sogar ein Hauch von Mystery durch ein Berliner Museum wehen, ohne zu viel darüber verraten zu wollen. Ungemein vielschichtig also und dazu sprachlich elegant.

Am besten gelingt Sulzer dabei die Künstlerthematik. Die Begeisterung Franks für die Kunst ist von Beginn an zu spüren, während sich der in vielen Dingen recht ignorante Ich-Erzähler zwar bemüht, aber nie einen Zugang zu ihr findet. Dieses Trennende bestimmt mit zunehmender Dauer den Roman, selbst den Nachlass – die zahlreichen Bilder, die der Protagonist nach Franks Tod erhält – schaut dieser nicht ein einziges Mal an. Etwas schwülstig hingegen wirkt es, wenn Sulzer die Annäherung von Frank und dem Roma-Jungen Matteo beschreibt. Dies ist allerdings leicht zu verzeihen, denn in der Folge merkt man das wohlgemeinte und eindrücklich geschilderte Verständnis des Autors für die aufkommende Bewegung der Homosexuellen und die empathische Auseinandersetzung mit AIDS als gesellschaftlichem Stigma.

Bedauerlich ist eher, dass über weite Strecken der Kindheit und Jugend die Nähe zwischen der Hauptfigur und Frank nur behauptet wird, die „fast brüderliche“ Freundschaft also gar nicht so auserzählt wird, wie man es sich bei diesem Titel erhofft hatte. Ein kleiner Wermutstropfen eines ansonsten eindrücklich vielfältigen Romans, der trotz weniger Seiten so viel zu erzählen hat. Für Sulzer-Fans hat der Autor als kleines Gimmick übrigens noch den ganz besonderen Auftritt eines vorherigen Roman-Protagonisten eingebaut, den es zu entdecken gilt.