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Benutzername: 
Christian1977
Wohnort: 
Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 189 Bewertungen
Bewertung vom 05.03.2025
Hinters Licht
Avdic, Åsa

Hinters Licht


gut

Detroit, 1921: Schon seit zwei Jahren forschen Professor Thomas Bradford und seine Assistentin Ruth Doran daran, Kontakt mit Verstorbenen aufzunehmen. Zwar gab es bei einigen Séancen schon erste Annäherungen, doch der Beweis der Existenz eines Lebens nach dem Tod steht noch aus. Als Bradfords Tochter Annabelle nach kurzer Krankheit plötzlich verstirbt, macht der Professor sich schwere Vorwürfe. Wegen seiner Forschungen hat er sich kaum um das Kind gekümmert. Umso drängender ist sein Bestreben, Kontakt zu dem Mädchen herzustellen. Während Thomas einen aberwitzigen Plan schmiedet, macht sich Ruth Sorgen um den Mann, den sie so verehrt. Wie kann sie ihm nur helfen, ohne seinem Wahn zu verfallen?

"Hinters Licht" ist der neue Roman von Åsa Avdic, der in der deutschen Übersetzung aus dem Schwedischen von Stefanie Werner im Arche Verlag erschienen ist. Bereits in ihrem frechen Vorwort macht sie darauf aufmerksam, dass es sich bei den Hauptfiguren um historische Persönlichkeiten handele und einige der erzählten Dinge wirklich so vorgefallen seien. Allerdings habe sie sich für den Roman auch eine "fast haarsträubende Freiheit" beim Erzählen genommen. Und dies merkt man dem Buch im positiven wie im negativen Sinne an. Denn "Hinters Licht" glänzt zwar mit erzählerischen Überraschungen, hat aber auch die ein oder andere "haarsträubende" Unglaubwürdigkeit in petto.

Hervorzuheben ist in jedem Fall die Sprache, die vor allem durch eine sehr originelle Erzählstimme auffällt. Die allwissende Erzählerin kommentiert lapidar die Ereignisse, blickt schon mal voraus, wehklagt ob der Handlungen der Figuren, seufzt hier mal ein "Ach, Thomas" oder ein "Oh, Ruth" in die Handlung. Das sorgt einerseits für Spannung, andererseits auch für eine gewisse Distanz, da man von Beginn an das Gefühl hat, die spiritistische Forschung werde ohnehin nicht sonderlich ernst genommen. Sprachlich toll sind auch die Tagebucheinträge Ruths, die besonders zu Beginn des Romans eine große Rolle spielen. Völlig entfesselt schreibt Ruth darin über ihre Begehrlichkeiten und über die Liebe zu Thomas, der - so viel sei verraten - zu Beginn des Buches verschwunden ist und auf dessen Rückkehr seine Assistentin nun sehnlichst wartet. Die Wörter, die dabei entstehen, sind so voller überbordender Emotionalität, dass man sich manchmal in Zeiten des Sturm und Drang wähnt.

Leider hat "Hinters Licht" jedoch auch einige Schwächen. Dies fängt bei der Figurenzeichnung an. Die oben geschilderten Gefühle von Ruth bleiben nämlich völlig unverständlich. Thomas Bradford wird als ein Mann gezeichnet, der zu jedem anderen Menschen nett ist, doch woher die Liebe und die Faszination für ihn stammen, bleibt ein Geheimnis. Auch die Nebenfiguren bleiben vage, beispielsweise Thomas' Ehefrau, eine Schauspielerin, die gnadenlos unsympathisch überzeichnet wird. Oder Ruths mittlerweile verstorbener Ehemann Frederic, dem sich die Erzählstimme ähnlich respektlos nähert. Ein größeres Problem ist zudem die Struktur des Textes. Avdic springt nämlich ziemlich wahl- und ziellos zwischen den Jahren hin und her. Lasen wir eben noch in Ruths Tagebuch von 1921, befinden wir uns plötzlich in ihrer Vorgeschichte von 1905. Das kann man natürlich so machen, würde es nicht auch innerhalb des Tagebuchs selbst Zeitsprünge geben, die den Lese- und Erzählfluss doch erheblich stören.

Enttäuschend ist auch der Umgang mit dem Thema Spiritimus. Schon Ulla Lenzes "Das Wohlbefinden" konnte das Interesse an diesem Thema nur in der ersten Hälfte wecken. Bei Åsa Avdic muss man fast die Hälfte des Buches gelesen haben, um zum ersten Mal überhaupt etwas über die Arbeit von Ruth und Thomas zu erfahren. Denn die ersten 140 der insgesamt 300 Seiten entpuppen sich letztlich als zwar emotional erzählter, aber im Grunde recht seichter Liebesroman mit Hang zum Kitsch. Und richtig ernsthaft wird auch in der zweiten Hälfte kein Spiritismus betrieben, die geschilderten Experimente gleichen eher einem bunten Hokuspokus. Das Finale wartet schließlich mit einer wahrlich überraschenden Wendung auf, die hier natürlich nicht verraten werden soll. Diese wirkt einerseits konsequent, andererseits fühlt man sich als Leser nicht bloß "hinters Licht" geführt, sondern aufgrund der Folgen dieses Ereignisses regelrecht veräppelt.

So ist "Hinters Licht" insgesamt ein zwiespältiges Vergnügen. Wer sich an originell und sprachlich fein erzählten Liebesromanen mit historischen Figuren erfreut, darf ohne zu zögern zugreifen. Wer sich einen unterhaltsamen, aber durchaus wissenschaftlich basierten Roman über Spiritismus lesen möchte, dürfte ein wenig enttäuscht sein.

Bewertung vom 04.03.2025
Der Gott des Waldes
Moore, Liz

Der Gott des Waldes


sehr gut

Camp Emerson in den Adirondack Mountains im August 1975: Im Sommercamp für Kinder und Jugendliche verschwindet die 13-jährige Barbara spurlos von einem Tag auf den anderen. Eine groß angelegte Suche bringt keinen Erfolg, das Mädchen bleibt verschwunden. Besonders die in der Nacht zuständigen Betreuerinnen Louise und Annabel machen sich Vorwürfe, schließlich haben beide ihre Aufsichtspflicht vernachlässigt. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich bei Barbara um kein gewöhnliches Kind aus dem Ferienlager handelt. Die Jugendliche ist die Tochter der reichen Familie Van Laar, der das Camp und die umliegenden Ländereien gehören. Zudem weckt das Verschwinden Erinnerungen an ein Ereignis vor 14 Jahren, als ausgerechnet Barbaras damals achtjähriger Bruder Bear ebenfalls plötzlich nicht mehr auffindbar war und bis heute nicht zurückgekehrt ist. Kann das Zufall sein?

"Der Gott des Waldes" ist der neue Roman von Liz Moore, der in der deutschen Übersetzung aus dem Englischen von Cornelius Hartz bei C. H. Beck erschienen ist. Auf knapp 600 Seiten zeichnet Moore darin nicht nur die akribische Polizeiarbeit beim Verschwinden eines Kindes nach, sondern widmet sich auch den gesellschaftlichen Unterschieden zwischen Arm und Reich und Frau und Mann der 1960er- und -70er-Jahre in den Vereinigten Staaten. Nicht abschrecken lassen sollten sich potenzielle Leserinnen vom etwas plakativen Blutstropfen auf dem ansonsten wunderschönen Cover, der allerdings nicht ohne Grund rosa und eben nicht rot ist. Denn sonderlich blutig geht es in "The God of the Woods", so der Originaltitel, glücklicherweise nicht zu.

Der Roman wird als "literarischer Thriller" beworben, was durchaus passend ist. Leser von gewöhnlichen Thrillern könnten enttäuscht sein, denn das Erzähltempo von "Der Gott des Waldes" ist angenehm langsam. Moore nimmt sich viel Zeit für die größtenteils gelungene Charakterisierung ihrer vorwiegend weiblichen Hauptfiguren. Besonders hervorzuheben ist hierbei die Figur Judyta, eine junge Polizistin, die erstmals in einem Fall solcher Dimensionen ermittelt. Nimmt man den etwas aufdringlichen Quid-pro-Quo-Hannibal Lecter-Gedächtnismoment heraus, macht ihre akribisch beschriebene Ermittlungsarbeit richtig Spaß. Ihre Entwicklung während der 600 Seiten macht aus "Der Gott des Waldes" zudem eine Art Emanzipationsroman. Es ist gerade mit Blick auf Judyta beeindruckend, mit welcher Tiefe Moore ihr Personal ausstattet. Früh wird auch klar, auf wessen Seite die Sympathien der Autorin liegen. Klar stellt sich Moore auf die Seite der Außenseiterinnen und Armen. Kritisch anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass die Figurenzeichnung der Reichen vor diesem Hintergrund etwas stereotyp gerät. Insbesondere der männliche Stammbaum der Familie Van Laar ist - mit Ausnahme des Sonnenscheins Bear - gnadenlos unsympathisch überzeichnet.

Stark ist hingegen die Multiperspektivität, mit der Liz Moore zentrale Ereignisse rund um das Verschwinden der Kinder darstellt. Dies sorgt für Abwechslung und Spannung, denn der Leser ist dabei gefordert, sich selbst ein Bild der dramatischen Ereignisse zusammenzusetzen. Manchmal werden regelrechte Cliffhanger erst nach zahlreichen Seiten aufgelöst, was auch daran liegt, dass Moore nicht nur zwischen den Figuren, sondern auch vornehmlich zwischen den Jahren 1961 und 1975 hin- und herwechselt. Früh wird nämlich klar, dass sich "Der Gott des Waldes" eben nicht nur um das Verschwinden Barbaras, sondern auch um den Fall des vermissten Bear dreht. Möchte man der Autorin diesbezüglich etwas vorwerfen, dann die Tatsache, dass sie einen ähnlichen Fehler begeht wie die Eltern Van Laar. Diese waren nämlich voller Liebe für den kleinen Bear, während Punkmädchen Barbara kaum Zuneigung erfuhr. Und auch Moore verliert Barbara zwischenzeitlich aus den Augen, weil sie sich zu sehr dem engelsgleich gezeichneten kleinen Jungen widmet.

Während die Naturbeschreibungen der Adirondack Mountains in meinen Augen etwas stärker hätten ausfallen können, gelingt es der Autorin hervorragend, die Lagerfeuer-Stimmung des Feriencamps zu vermitteln. Im Gegensatz zu Hendrik Otrembas "Benito", bei dem von Beginn an eine bedrohliche Pfadfinder-Atmosphäre herrschte, die später in puren Horror ausartete, gibt es bei Moore immer wieder auch warme Momente. So beispielsweise in der zärtlich gezeichneten Mädchenfreundschaft zwischen Barbara und Außenseiterin Tracy, aber auch in der sensiblen Annäherung zweier Jungen, die eher Nebenfiguren sind.

Insgesamt ist "Der Gott des Waldes" eine gelungene Mischung aus anspruchsvollem Thriller und Gesellschaftsroman, der durchgehend für Spannung sorgt und dem man letztlich auch verzeiht, dass im Finale nicht alle Erzählfäden zu einem befriedigenden Ende führen. Liz Moore gelingt es, ein bis in die kleinsten Nebenrollen interessantes Personal zu kreieren. In den USA längst ein Bestseller, sollte er auch in Deutschland ein breites Publikum ansprechen.

Bewertung vom 26.02.2025
Der Junge
Aramburu, Fernando

Der Junge


sehr gut

Ortuella im Baskenland, am 23. Oktober 1980: Als bei einer Gasexplosion in der Grundschule Marcelino Ugalde mehr als 50 Kinder und Erwachsene sterben, ist unter ihnen auch der sechsjährige Nuco. Der Kleine war der Sonnenschein seiner Eltern Mariaje und José Miguel und hatte vor allem zu seinem Großvater Nicasio eine ganz besondere Verbindung. Mindestens einmal die Woche findet sich Nicasio auf dem Friedhof wieder und erzählt ihm von seinem Leben und den Ereignissen in seiner Umgebung. Zuhause richtet er sogar das Kinderzimmer des Jungen originalgetreu nach und wähnt ihn auch auf Spaziergängen an seiner Seite. Mariaje und José Miguel können mit dieser Art der Trauer schwer umgehen, plagen sie zudem doch ihre eigenen Eheprobleme. Über Tod, Trauer und den Umgang damit und über Liebe in der Familie generell schreibt Fernando Aramburu in seinem neuesten Roman "Der Junge", der in der deutschen Übersetzung aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen bei Rowohlt erschienen ist.

Damit knüpft der Autor an sein Großprojekt "Gentes vascas" an, in dem Aramburu in nun fünf unabhängig voneinander lesbaren Romanen die Geschichte des Baskenlandes und seiner Menschen vor allem während der Zeit der ETA erzählt. "Der Junge" basiert dabei auf historischen Begebenheiten, denn das Gasunglück gab es in dieser Form wirklich.

Die Besonderheit daran ist vor allem, dass es Aramburu gelingt, drei völlig verschiedene Textarten in Einklang zu bringen. Die Sicht des allwissenden Erzählers mischt sich mit einem Interview mit der Figur Mariaje und dem wohl größten Coup des Buches: einem erzählenden und reflektierenden Roman, der in zehn Einschüben Hintergrundinformationen liefert und die Leser so mitnimmt, dass man das Gefühl hat, am Entstehungsprozess des Romans teilhaben zu können. Aramburu kokettiert zwar im Vorwort damit, dass man diese Texte auch geflissentlich überblättern kann, was de facto aber hoffentlich niemand macht, da man den Roman so seines Alleinstellungsmerkmals berauben würde.

Rein sprachlich passiert ansonsten in "Der Junge" recht wenig, was per se nicht schlecht sein muss. Aramburu gelingt es, das Unglück sensibel und nahezu ohne Voyeurismus und die Trauer vor allem in Nicasio und Mariaje plastisch darzustellen. Dabei rührt insbesondere der Großvater, über dessen Verbindung zum Nuco Mariaje einmal sagt, sie wisse gar nicht, "wer wen mehr geliebt hat". Ein Satz, der zu Herzen geht, was bei diesem unglaublich tragischen Unglück sonst überraschend selten passiert. Ein weiterer kleinerer Kritikpunkt ist, dass die Eheprobleme zwischen José Miguel und Mariaje auf den gerade einmal 250 Seiten erstaunlich viel Raum einnehmen. Mit zunehmender Dauer verschiebt sich der Fokus des Romans auf die trauernde Mutter, wodurch einige Leserinnen zwischenzeitlich das Interesse ein wenig verlieren könnten. Erst im klugen und beeindruckenden Finale findet Fernando Aramburu zur Stärke des Beginns zurück, lässt Mariaje endlich eine veritable Entwicklung durchlaufen und diese in einem äußerst emotionalen Gespräch mit ihrem toten Sohn münden.

Bei der Stärke der Geschichte ist es kaum verwunderlich, dass sich Netflix längst die Filmrechte an "El Niño" gesichert hat. Aramburu selbst fühle sich dadurch in seiner Gewissheit bestärkt, "dass diese Kinder, die 1980 bei dieser Tragödie starben, es wert sind, einen angemessenen Platz in unserer Erinnerung zu haben", wie Quotenmeter ihn zitiert. Und man nimmt ihm diesen Standpunkt natürlich ab. Dennoch ist es schade, dass Netflix sich damit den Wünschen der Menschen von Ortuella widersetzt, die am liebsten ihre Ruhe hätten und für das 45 Jahre zurückliegende Grauen keine neuen schmerzhaften Erinnerungen wecken wollen.

Insgesamt ist "Der Junge" ein größtenteils überzeugender Roman, der vor allem mit seiner außergewöhnlichen erzählerischen Form und der Sensibilität des Autors punktet, bei einer großen Katastrophe sich auf die Einzelschicksale zu konzentrieren und seine Figuren bis zum Ende hin mit großer Empathie zu begleiten.

Bewertung vom 24.02.2025
Wildhof
Straßer, Eva

Wildhof


ausgezeichnet

Als die gut 30-jährige Lina das Haus ihrer kürzlich bei einem Unfall verstorbenen Eltern in Wildhof betritt, glaubt sie ihren Augen nicht zu trauen. Das Haus am Rande des Schwarzwalds ist völlig heruntergekommen, in der Küche liegen tote Ratten. Mutter Henny war zuletzt schwer alkoholabhängig und auch Vater Richard konnte den Verfall von Haus und Familie nicht stoppen. Obwohl Lina möglichst schnell für Ordnung sorgen und das Haus verkaufen will, lässt sie der Ort ihrer Kindheit nicht los. Denn vor 20 Jahren verschwand genau dort kurz vor ihrem 13. Geburtstag ihre Zwillingsschwester Luise und wurde bis heute nicht wiedergefunden. Je länger sich Lina in Wildhof aufhält, desto präsenter werden die Geister der Vergangenheit...

"Wildhof" ist der Debütroman von Eva Strasser, der bei Wagenbach erschienen ist. Strasser erzählt darin erstaunlich souverän und vor allem sprachlich und atmosphärisch unglaublich stark und intensiv. Das hat zeitweise etwas von einem dunklen Märchen, und auch das düstere Cover passt hervorragend zur schaurig-schönen Atmosphäre. Fantastisch und lebhaft sind vor allem die Naturbeschreibungen des Waldes, des Gartens, der gesamten Umgebung von Linas Elternhaus.

Lina selbst ist eine interessante Protagonistin mit Ecken und Kanten. Von Beginn an wirkt sie einerseits verletzlich, andererseits verfügt sie nicht ohne Grund über eine Bewährungshelferin. Mit ihr und dem Haus in Wildhof scheinen auf den ersten Blick zwei Welten aufeinanderzuprallen. Dort das Haus am Rande der Zivilisation, wo Linas Handy nur mit viel Glück Empfang hat. Auf der anderen Seite Lina, die gerade für eine IT-Firma erfolgreich eine App entworfen hat. Mit ihrem zeitweilen Knurren und ihrem schwarzen Humor wächst sie den Leserinnen unmittelbar ans Herz.

Das erzählerische Präsens sorgt für eine große Unmittelbarkeit, die das Unheimliche, das Rätselhafte, was immer wieder Einzug in Wildhof hält, noch verstärkt. Da sieht der Ball des vor langer Zeit verstorbenen Hundes plötzlich wieder wie neu aus, die Kuckucksuhr ist aufgezogen. Und bildet sich Lina eigentlich nur ein, im Haus auch irgendwo immer Luises Kichern zu hören?

Nun sollte man nicht den Fehler begehen, "Wildhof" als Genreliteratur einzustufen, auch wenn Eva Strasser überaus gekonnt mit Elementen der Schauergeschichte spielt und immer mal wieder auch ganz märchenhaft Zauberwesen und Feen zumindest auf der Metaebene einfließen lässt. Dafür sind die behandelten Themen viel zu ernst. Denn "Wildhof" stellt die ganz großen Fragen nach Schuld, Tod, Trauer, Liebe und Familie.

Seine stärksten Momente hat das Buch immer dann, wenn Lina sich an ihre Kindheit mit Luise erinnert. Insbesondere erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang eine Gewitterszene, in der Strasser auf poetische Weise so intensiv darstellt, was Kindheit überhaupt ausmacht. Der Geruch des Regens, der wohlige Schauer, der einen als Kind bei einem Donner überfiel - das ist so bemerkenswert plastisch, dass ich nicht nur, aber vor allem in dieser Szene unglaublich berührt und von einer Gänsehaut überfallen wurde. Gelungen auch, wie Strasser mit den Gedankengängen ihrer Hauptfigur spielt. Denn wenn sich Linas Gedanken überschlagen, werden auch die Sätze gefühlt unendlich lang, wodurch die Leser diesen Rausch mit der Protagonistin teilen dürfen.

Nun könnte man den Roman nach 187 Seiten zuschlagen und wäre rundum begeistert: Was für eine Geschichte, was für eine Sprache, was für ein rundum gelungenes Debüt! Doch leider hat das Buch 203 Seiten und im finalen Twist verhält sich eine Figur aus Linas Umfeld so unglaubwürdig, unlogisch und konstruiert, dass es ein Ärgernis ist. Das Spektakel, was folgt, hätte "Wildhof" in seiner ansonsten so zauberhaft-atmosphärischen Art jedenfalls nicht nötig gehabt.

Insgesamt habe ich den Roman jedoch sehr gern gelesen und freue mich schon auf weitere Werke dieser aufregenden neuen Stimme der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

4,5/5

Bewertung vom 19.02.2025
Bis die Sonne scheint
Schünemann, Christian

Bis die Sonne scheint


sehr gut

Den 14-jährigen Daniel Hormann plagen 1983 in der niedersächsischen Provinz die zu dieser Zeit normalen Probleme eines Jugendlichen: Hoffentlich wird die Konfirmation ein voller Erfolg und hoffentlich ist das blaue Samtsakko nicht zu teuer für diesen besonderen Anlass. Wie viele Tage sind es eigentlich noch bis zur Schüleraustausch-Reise nach Frankreich, zu Jean-Philippe, dem innigst bewunderten Austauschpartner? Und wann kann seine beste Freundin Zoe endlich wieder mit der Rückkehr ihrer depressiven Mutter rechnen? Doch als er eines Nachts die Eltern dabei belauscht, als diese offen über ihre bevorstehende Pleite reden, ändert sich schlagartig alles. Denn auf dem Spiel steht nicht weniger als die Existenz der Familie...

"Bis die Sonne scheint" ist der neue Roman von Christian Schünemann, der bei Diogenes erschienen ist. Schünemann, der bisher vor allem als Autor diverser Krimireihen in Erscheinung getreten ist, wechselt also ins Literatur-Genre, was ihm gut zu Gesicht steht. Die Ausgangssituation der von der Insolvenz bedrohten Provinzfamilie in den 80er-Jahren erinnert zunächst einmal natürlich frappierend an Arno Franks Debüt "So, und jetzt kommst du" von 2017. Auch Frankreich und Ausreisepläne generell finden sich in "Bis die Sonne scheint" wieder. Doch Schünemann macht aus dieser ebenfalls autofiktionalen Geschichte trotzdem etwas ganz Eigenes, was vor allem an der Erzählstruktur, aber auch an den Figuren liegt.

Anders als bei Arno Frank werden Daniels Eltern Siegfried und Marlene nämlich niemals kriminell, sie drohen nicht einmal annähernd in diesen Bereich abzudriften oder gar die Kinder zu instrumentalisieren. Letztlich sind sie Überlebenskünstlerinnen, Unangepasste, die sich den Konventionen der normalen Berufswelt aus unterschiedlichen Gründen nie hingeben wollten oder konnten. Ob Strickwarengeschäft oder Massivhausbau - was anfangs zu florieren schien, passte irgendwann einfach nicht mehr. Oder auch: An den wichtigen Kreuzungen des Lebens sind sie einfach zu oft falsch abgebogen.

Überraschend an "Bis die Sonne scheint" ist, dass es sich dabei nicht um den von mir erwarteten typischen Coming-of-Age-Roman handelt. Zwar ist Ich-Erzähler Daniel, dessen Name erstmals übrigens nach mehr als 100 Seiten erwähnt wird, der Protagonist des Buches, doch dreht sich etwa ein Drittel des Romans gar nicht um die Handlungszeit der 80er-Jahre und damit auch nicht um ihn. Denn Schünemann greift zu einem ganz besonderen erzählerischen Kniff, den er zudem auch sprachlich hervorragend einleitet: Die Rückreise der Oma in die nahe gelegene Stadt Bremen lässt er gedanklich nämlich einfach weiterfließen - und prompt befindet sich die Leserschaft in Oberschlesien irgendwann zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In der Folge wechseln sich die erzählerische Gegenwart um Daniel und die Familiengeschichte der Vergangenheit mit großer Regelmäßigkeit ab. Das Besondere daran ist, dass sich einige Geschehnisse der Gegenwart erst viel später durch die Vergangenheitsepisoden erklären lassen. Dies hat zwar ein paar Nachteile, in der Gesamtheit tut es dem Buch schlussendlich aber richtig gut.

Der Nachteil ist, dass der Erzählfluss durch den ständigen Wechsel der Zeiten und die durchaus langen Episoden aus der Vergangenheit hin und wieder merklich gestört wird. So wirken die Kapitel bisweilen wie Anekdoten und zu Daniel, diesem Jungen, der Rondo Veneziano und Johannes Mario Simmel liebt, findet man gar keinen rechten Zugang. Außerdem wundert man sich zunächst über bestimmte Ereignisse und fragt sich, ob man etwas verpasst hat. Figuren der Gegenwart, wie die Geschwister Daniels, bleiben merkwürdig blass. Doch wie diese beiden großen Erzählstränge im Finale aufeinandertreffen, ist wahrlich große Kunst. Denn je stärker man sich dem Ende des Romans nähert, desto größer wird die Empathie für die Figuren. Man liest beispielsweise über neue glückliche Pläne und weiß schon, dass auch diese scheitern werden. Das fand ich herzzerreißend traurig. Nehme ich wie jetzt das Buch wieder zur Hand, überfällt mich eine große Sympathie für die Figuren - und damit auch letztlich für den Autoren Christian Schünemann, der in einem berührenden Nachwort seine Beweggründe für das Schreiben des Romans noch einmal näher erläutert.

Insgesamt ist "Bis die Sonne scheint" ein warmherziger Familienroman, der trotz oder vielleicht gerade wegen seiner gewissen erzählerischen Sperrigkeit vieles richtig macht und gerade im Finale wohl niemanden unberührt lassen wird. Da Schünemann auch Drehbuchautor ist, könnte ich mir auch eine filmische Umsetzung wunderbar vorstellen.

Bewertung vom 18.02.2025
In ihrem Haus
van der Wouden, Yael

In ihrem Haus


gut

Zwolle in den Niederlanden, 1961: Die knapp 30-jährige Isabel lebt vollkommen allein und zurückgezogen in dem riesigen Haus, in dem gegen Ende des Zweiten Weltkriegs die gesamte Familie wohnte. Doch die Mutter ist tot, die Brüder Louis und Hendrik sind schon lange ausgezogen. Lediglich ein junges Mädchen aus der Nachbarschaft schaut immer wieder vorbei, um sich um den Haushalt zu kümmern. Da wirkt es für Isabel wie ein Kulturschock, als Louis beschließt, seine neue laute Freundin Eva in dem Haus einzuquartieren. Schließlich gehört es laut Erbe eigentlich ihm, dem Erstgeborenen. Als nach und nach Gegenstände aus dem Haushalt verschwinden, gerät Eva unter Isabels Verdacht. Doch kann Isabel ihrem Verstand eigentlich trauen?

"In ihrem Haus" ist der Debütroman der niederländischen Autorin Yael van der Wouden, der in der deutschen Übersetzung aus dem Englischen von Stefanie Ochel bei Gutkind erschienen ist. Mit "The Safekeep", so der Originaltitel, stand van der Wouden auf der Shortlist des Booker Prize 2024. Durchaus überraschend, weist er doch ähnlich viele Stärken wie Schwächen auf.

Dabei ist der Beginn verheißungsvoll. Schon das etwas unheimliche und sehr gelungene Cover zieht die Leserinnen tief hinein in dieses Haus, das letztlich der eigentliche Protagonist dieses Romans ist. Irgendwo ganz weit hinten hockt eine junge Frau auf dem Boden, aber was macht sie dort eigentlich? Diese Frage lässt sich direkt auf die Charaktere übertragen, denn die Motive der Figuren sollen lange nicht enthüllt werden. Was jedoch, so viel sei vorweggenommen, nicht wirklich gelingt, denn vor allem die Figur Eva und die Geschichte des Hauses lassen sich bereits auf den ersten 100 Seiten durchaus entschlüsseln. Dies ist allerdings nicht weiter schlimm, denn seine Spannung zieht "In ihrem Haus" ohnehin aus der Psychologie der Figuren, aus den Interaktionen insbesondere zwischen Isabel und Eva. Auch die zunächst überwiegend unsympathischen Charaktere sind dabei durchaus von Vorteil, klammheimlich freut man sich auf die vorprogrammierten Konflikte zwischen den ungleichen Frauen, gerade als die ersten Gegenstände verschwinden. Bisweilen glaubt man, den Hass in Isabel zu spüren.

Doch dann gelingt van der Wouden die erste Überraschung, denn die zunächst so spröde und feindselig wirkende Isabel entwickelt fast schon pubertär sexuelle Gefühle für Eva - und stößt damit sogar auf Erwiderung. Ein erzählerischer Coup der Autorin, der sich nahtlos in die gelungene Konstruktion des ersten Drittels einfügt. Jedoch bleibt er auch nicht ohne negative Folgen. Denn was sich anschließend entfaltet, ist schlichtweg langweilig. Es wird gestöhnt, geseufzt, geschrien, berührt, eingedrungen. Hätte Rainer Moritz nicht schon sein Buch über die schlechtesten Sexszenen der Literatur verfasst, hier wäre er zweifelsohne fündig geworden.

Da ist man als Leser sogar regelrecht froh, dass der Roman irgendwann mit einer traditionell recht unoriginellen literarischen Form fortgesetzt wird - dem Fund eines Tagebuches, das nun auch die letzten Zweifel über die Geschichte des Hauses beseitigt. Positiv hervorzuheben ist jedoch, dass ausgerechnet dieses Tagebuch die vielleicht berührendste Stelle überhaupt in diesem Roman beinhaltet.

Sprachlich deutet Yael van der Wouden immer dann ihr Können an, wenn es um Beschreibungen der Natur, um Atmosphäre geht. Leider kommt dies viel zu selten vor. Nervig hingegen das überstrapazierte Stilmittel der Auslassungen am Ende von Dialogen. Gerade im Finale kommt den Figuren kaum noch ein vollständiger Satz über die Lippen. Hervorragend gelingt ihr in der Figurenkonzeption vor allem Isabel, die über die 320 Seiten eine gewaltige Entwicklung durchmacht. Die anderen Charaktere wirken dagegen weniger facettenreich.

Insgesamt ist "In ihrem Haus" ein im ersten Drittel überzeugender psychologisch-spannender Roman, der die Leserschaft zudem über vermutlich weniger bekannte Details der niederländischen Nachkriegsgeschichte informiert. Auch die gesellschaftliche Stellung homosexueller Liebe wird durchaus augenöffnend thematisiert. Mit Isabel verfügt er über eine wendungsreiche Protagonistin, die einem sowohl positiv als auch negativ im Gedächtnis bleiben wird. Durch die exzessiv-expliziten Sexszenen und die vorhersehbare Geschichte verspielt er jedoch sein großes Potenzial in Teilen.

Bewertung vom 17.02.2025
Die Kolonie
Magee, Audrey

Die Kolonie


ausgezeichnet

Als mit dem französischen Linguisten JP Masson und dem englischen Künstler Lloyd zwei Fremde im Sommer 1979 die abgelegene irische Insel im Atlantik betreten, wissen die Bewohnerinnen noch nicht, was sie davon halten sollen. Einerseits machen die beiden den Insulanern Versprechungen, andererseits bringen sie doch Unruhe auf die unberührte Insel. Gerade, weil sie sich so spinnefeind sind. Lloyd geht es vornehmlich darum, die Klippen der Insel auf die Leinwand zu bringen, Masson setzt sich für den Erhalt der irischen Sprache ein. Insbesondere der 15-jährige James findet Zugang zum Maler, der ihn schon bald unter seine Fittiche nimmt und ihn von einer Künstlerkarriere in England träumen lässt. Doch im Hintergrund brodelt der Nordirland-Konflikt so heiß wie selten zuvor...

"Die Kolonie" ist der zweite Roman von Audrey Magee, der in der deutschen Übersetzung aus dem Englischen von Nicole Seifert bei Nagel und Kimche erschienen ist. Mit ihm stand sie auf der Longlist für den Booker Prize 2022. Es ist ein hinreißender Roman geworden, der sowohl sprachlich überzeugt, aber auch in der Figurenzeichnung und inhaltlich keine Abstriche macht. In seiner Gesamtheit ist "Die Kolonie" wohl eines der stärksten Bücher der letzten Jahre.

Ungemein originell ist beispielsweise die auch graphisch unterschiedliche Darstellung der beiden Perspektiven Massons und Lloyds. Während beim Linguisten JP die Sprache fließt und sich einzelne Sätze schon einmal über ganze Seiten hinziehen, denkt Lloyd stets in Bildern und seine Kapitel sehen selbst wie kleine Kunstwerke aus. Da hängen Satzfragmente in der Luft oder die Zeile bricht einfach mal weg. Auch die Landschaftsbeschreibungen sind fantastisch. Magee und Übersetzerin Seifert erwecken die Insel zum Leben, ganz plastisch schildern sie Flora und Fauna dieser karg-schönen Insel. Und obwohl ich normalerweise kein Freund von zahlreichen Dialogen bin, sind diese in "Die Kolonie" bemerkenswert pointiert, immer wieder auch mal komisch und oft berührend.

Thematisch gelingt es der irischen Autorin sehr gut, das vermeintlich beschauliche Inselleben mit den immer zahlreicher werdenden Toten und Verletzten der nordirischen Troubles zu verbinden. Zunächst durch erschaudernd sachliche, historische Schilderungen von IRA-Attentaten und Gegenschlägen der Loyalisten. Später rücken diese fast unmerklich an die Insel heran, weil die Insulaner ständig Radio hören und sich mehr und mehr darüber unterhalten. Hauptgrund dafür ist, dass der Künstler Lloyd seinem begabten Schüler James den Floh ins Ohr gesetzt hat, ihn doch zu einer gemeinsamen Ausstellung nach London zu begleiten, wo Iren im Jahre 1979 verständlicherweise nicht gerade gern gesehen waren.

Dieser James ist übrigens ein Musterbeispiel für die exzellente Figurenzeichnung Magees. Klug und empathisch nähert sich die Autorin den nie schwarz-weiß dargestellten Charakteren, verzeiht ihnen auch ihre Fehler. Und vor allem verurteilt sie niemanden. James ist ein Junge von anrührender Ehrlichkeit, dessen Träume eines anderen, moderneren Lebens man nahezu durchgehend spüren kann. Und auch die beiden Fremden, bei denen man relativ schnell eine Egozentrik erkennt, haben im Grunde durchaus hehre Ansinnen. Während Lloyd die Ursprünglichkeit der Insel und ihrer Bewohnerinnen malerisch festhalten will, geht es Masson um den Erhalt der irischen Sprache.

Der Umgang mit dieser Minderheitensprache ist neben den Troubles ein zentrales Thema des Romans. Dramaturgisch setzt Magee sie bemerkenswert in Szene, lässt das Irische immer dann ohne Übersetzung für sich stehen, wenn Lloyd im Raum ist. Dadurch bekommt man als Leser nicht nur ein Gefühl für diese wundervolle Sprache, sondern auch die Gelegenheit sich mit ihr auseinanderzusetzen, indem man sich die Abschnitte selbst übersetzt. Und auch der Kolonialismus findet natürlich seinen Einzug in "Die Kolonie" - vor allem, aber nicht nur in den Auseinandersetzungen zwischen dem Franzosen JP und dem Engländer Lloyd.

Möchte man überhaupt etwas an diesem Gesamtkunstwerk kritisieren, dann ist es die Tatsache, dass bei der Schilderung der Troubles vornehmlich Taten der IRA und viel seltener die Kriminalität der Loyalisten dargestellt wird. Vielleicht ist dies aber auch der damaligen Nachrichtenlage geschuldet.

Insgesamt ist "Die Kolonie" ein herausragender Roman, dem es mit wunderbarer Sprache gelingt, komplexe Themen berührend und emotional darzustellen und dabei die Leserinnen zum Mitdenken auffordert. Reif für die Insel ist man nach der Lektüre ohnehin.

Bewertung vom 16.01.2025
Ginsterburg
Frank, Arno

Ginsterburg


ausgezeichnet

Ginsterburg, 1935: Der 13-jährige Lothar findet einfach keine Verbindung zu den anderen Jungen seines Alters. Zu den gutbürgerlichen Chorknaben passt er wegen seiner Herkunft nicht so recht, und die Nachbarjungen der Hitler-Jugend sind ihm viel zu grob. Immerhin erfährt er zuhause eine liebevolle Erziehung durch seine Mutter Merle. Währenddessen träumt Redakteur Eugen davon, endlich einmal wieder einen Artikel im "Ginsterburger Anzeiger" zu veröffentlichen, der über die ständigen Vorgaben der Partei hinausgeht. Ganz anders Blumenhändler Otto. Der hat sich nämlich dank der Partei regelrecht hochgearbeitet. Bürgermeister und Kreisleiter ist er mittlerweile. Sie alle sind eigentlich ganz durchschnittliche Bewohner von Ginsterburg. Einige profitieren, andere verlieren. So ist das halt in Ginsterburg. Dann beginnt der Krieg. Einige zieht es an die Front, anderen geht die Frau verloren. Einige sterben für den Führer. So ist das halt in Ginsterburg. Nur gut, dass die Stadt so langweilig ist, so einschläfernd und zermürbend, dass der Feind sie ohnehin nicht auf dem Zettel hat. Was soll den Ginsterburgern schon passieren? Also geht das Leben weiter. So ist das halt in Ginsterburg.

"Ginsterburg" ist der neue Roman von Arno Frank, der bei Klett-Cotta erscheint. Nach den beiden bitter-melancholischen und dennoch komischen Vorgängern "So, und jetzt kommst du" und "Seemann vom Siebener" wagt der Autor damit etwas ganz Neues. Denn "Ginsterburg" ist eine im Grundton sehr ernste Mischung aus Gesellschaftsporträt und Historischem Roman. Auf 430 großformatigen Seiten entfaltet der Roman eine immense Wucht, eine von Beginn an spürbare leichte Bedrohung, die die Leserinnen im Hintergrund stets anzufunkeln scheint.

Aufgebaut ist der Roman in die drei großen Abschnitte 1935, 1940 und 1945, wobei das Ensemble größtenteils identisch ist. Eine klassische Hauptfigur gibt es nicht, das Zentrum allen Handelns ist Ginsterburg, diese fiktive Kleinstadt, die man am ehesten vielleicht irgendwo Richtung Ostwestfalen oder Sauerland verorten würde. Die Anzahl der Charaktere ist immens groß, den Rahmen geben die drei Familien um Lothar, Eugen und Otto vor. Arno Frank erzählt von ihnen so filmisch, dass es eigentlich nur eine Frage der Zeit sein kann, bis es eine dazugehörige Serie gibt. Natürlich mit Peter Kurth als Otto, Trystan Pütter als Eugen und Louis Hofmann als erwachsenem Lothar. Man darf ja träumen.

Auch formal überzeugt "Ginsterburg" in allen Belangen. Arno Frank mischt Briefe zwischen die Handlungsstränge, Verordnungen der Nationalsozialisten, einen Prolog mit einem abgeschossenen britischen Piloten, der ein wenig an Florian Knöpplers "Südfall" erinnern mag und den man auf keinen Fall aus den Augen verlieren sollte. Frank wechselt die Erzählzeiten, die Perspektiven und entwirft damit eine höchst lebendige Kleinstadt und ein vielfältiges Personal. Plötzlich gibt es sogar eine kindliche Ich-Erzählerin.

Auch sprachlich und von der Konstruktion her unterscheiden sich die drei Teile stark. Im ersten Teil von 1935 führt Frank sein Personal ein und treibt die Handlung voran. Im zweiten Teil nimmt er sich mehr Zeit, das Innenleben der Charaktere spielt nun eine größere Rolle, die Schönheit der Sprache kommt immer mehr zur Geltung. Beispielsweise wenn sich Eugen an der Front den Betrachtungen der Landschaft und eines Kranichschwarms hingibt, die eindrucksvoll abrupt unterbrochen werden und in veiner der vielleicht denkwürdigsten Szenen des gesamten Romans enden.

Die Kraniche spielen ohnehin eine nicht ganz unwesentliche Rolle im Buch. Dieser "Vogel des Glücks", der beispielsweise in Japan ein Symbol des Friedens und der Hoffnung ist, eröffnet nicht zufällig die Haupthandlung mit seinem zu späten Auftauchen in Ginsterburg. Spätestens seit der unvergessenen Kranich-Szene in Stefanie vor Schultes "Junge mit schwarzem Hahn" sollte man als Leser die literarische Kraft dieses Tieres nicht unterschätzen.

Eine entscheidende Verfehlung der Veröffentlichung ist das Fehlen eines Nachworts. Denn tatsächlich vermischt Arno Frank historische und fiktive Figuren, ohne dass es einen Hinweis darauf gibt. Sollte man die historischen Figuren Lothar Sieber und Erich Bachem nicht kennen, empfehle ich dringend, es dabei bis zum Ende des Romans auch zu belassen. Kritisieren kann man auch, dass nicht jede Figur gleich gut gelungen ist. Insbesondere Eugens Frau Ursel wirkt doch recht stereotyp. Ein wenig schade ist zudem, dass ein so durch und durch lebendiger Roman wie "Ginsterburg" ein KI-generiertes Buchcover erhalten hat. Wobei ich zugeben muss, dass es ein recht gelungenes ist.

Aus gutem Grund ausgelassen wurde bisher das Finale des Buches. Denn tatsächlich muss man es erleben, es ist kaum zu beschreiben. Wuchtig könnte man es nennen, bewegend, klug auch, weil es auf die mitdenkende Leserin setzt. Klar ist nur eines: Es wird Gewinner geben und Verliererinnen. Hoffnung und Angst, Leben und Tod. So ist das halt in Ginsterburg.

Bewertung vom 09.01.2025
Umlaufbahnen
Harvey, Samantha

Umlaufbahnen


ausgezeichnet

Ganze 16 Male umkreisen sie an einem Tag die Erde. Was sie sehen, ist ein wunderschöner, aber auch verletzbarer Planet, ein winziger blauer Punkt im riesigen Sonnensystem. Zwei Kosmonauten und vier Astronauten befinden sich auf der Raumstation. Ihre Erfahrungen sind unterschiedlich, ihre Gedanken und Gefühle auch. Was sie eint, ist die Schwerelosigkeit - und dieses nie enden wollende Staunen.

Samantha Harvey wagt in ihrem neuen Roman "Umlaufbahnen", der in der deutschen Übersetzung aus dem Englischen von Julia Wolf bei dtv erschienen ist, einen ganz eigenen Ausflug in das Weltall und nimmt die Leserinnen mit auf eine unvergessliche Reise. Das mit dem Booker Prize ausgezeichnete Werk ist höchst originell, philosophisch, beglückend poetisch, aktuell und aufrüttelnd. Denn neben der manchmal fast meditativen Lektüre ist "Umlaufbahnen" nicht nur eine Liebeserklärung an die Erde, sondern zugleich ein Weckruf, auf den blauen Planeten doch bitte ein bisschen besser Acht zu geben.

Schon mit ihrem brillanten mittelalterlichen Genresprenger "Westwind", 2020 erschienen bei Atrium, machte Harvey deutlich, dass es für sie keine literarischen Grenzen gibt. Und auch die "Umlaufbahnen" wirken in mehrfacher Hinsicht grenzenlos. Obwohl sich die Handlung des Romans ähnlich wie bei Virginia Woolfs "Mrs. Dalloway" auf einen einzigen Tag beschränkt, schweben die Leser mit den zwei Frauen und vier Männern der namentlich nie erwähnten ISS in einem endlos wirkenden Raum dahin. Wobei man vorher wissen muss, dass es so etwas wie eine klassische Handlung eigentlich gar nicht gibt. Vielmehr lässt Harvey einen teilhaben an den Betrachtungen der Astronautinnen, an diesem unglaublichen Staunen, das die Sechs mit Blick auf die Erde immer wieder ergreift. Ergriffen ist man dadurch auch selbst, denn mit ihrem feinen Gespür für die richtigen Worte trifft die Autorin nahezu durchgehend ins Herz der Leser. Und es ist mehr als der Blick auf die Erde, der nicht nur die Figuren melancholisch werden lässt. Es sind auch die zwischenmenschlichen Töne, die Erinnerungen der Crew an ihr Zuhause, die bemerkenswert emotional nachwirken.

Allerdings macht Harvey von Beginn an deutlich, dass nicht der Mensch im Zentrum des Buches und auch nicht im Zentrum ihrer Sorgen und Emotionen steht. Die Erde ist der eindeutige Star der "Umlaufbahnen", mal als Ur-Mutter, mal als vom Klimawandel und einem schrecklichen Taifun bedrohtes und schützenswertes Kind, mal aber auch als Randaspekt, als Brotkrümel in der Unendlichkeit des Weltalls. Dabei scheut sie auch die ganz großen Fragen nicht - nach der Bedeutung des Lebens, nach Liebe, nach irdischen Feindschaften, nach der Moral, natürlich auch nach Gott. Seit Jostein Gaarders "Sofies Welt" war wohl kein belletristisches Werk so philosophisch wie "Umlaufbahnen", ohne dabei verkopft zu wirken.

Ein weiterer Vorteil des Romans ist, dass er auch das musikalische Ohr der Leserinnen anspricht. Ganz wie von selbst scheint dort nämlich ein ganzer Soundtrack zu entstehen. Denkt man kurz an den fliegenden Knochen in Stanley Kubricks "2001" und hört dabei Richard Strauss' "Zarathustra", fühlt man sich im nächsten Moment vielleicht "völlig losgelöst", um sich in den düsteren Augenblicken an die Einsamkeit des Astronauten im Dark Metal-Meisterwerk "Ominous" von Lake of Tears zu erinnern.

Während uns Samantha Harvey in "Westwind" noch in Gottes Nähe führte, wird es also auf ganz andere Art auch in "Umlaufbahnen" wieder überirdisch. Was bleibt, ist dieses Staunen - über die schier unendlich wirkenden Fähigkeiten der Autorin.

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Bewertung vom 31.12.2024
Vor der Nacht
Jamal, Salih

Vor der Nacht


gut

Als sein Vater wegen eines lange zurückliegenden Bankraubs ins Gefängniss muss, kommt der 14-jährige Halbwaise Jonas in ein Kinderheim, das von der unnahbaren Vora geleitet wird. "Die Wölfin" wird sie von den Kindern und Jugendlichen genannt. Wie gut, dass Jonas auf verwandte Seelen wie Pappel, Lilly, Frei und die Geschwister Sinan und Beria trifft. Denn nur gemeinsam lässt es sich an diesem Ort aushalten, der irgendwo in einem Autobahnwald versteckt liegt. Umso härter trifft Jonas, der mittlerweile Jimmy genannt wird, der Verlust zweier Freunde, die von einem Tag auf den anderen verschwinden. Von Freundschaft und Liebe, Sehnsucht und Sucht, aber auch von Mord und Hass erzählt Salih Jamal in seinem neuen Roman "Vor der Nacht", der bei Leykam erschienen ist.

Nach dem wunderbaren "Das perfekte Grau" und dem Nachfolger "Blinder Spiegel" ist es der dritte Verlagstitel Jamals, in dem es diesem überraschend leicht gelingt, die Warmherzigkeit des Debüts mit der Härte des zweiten Romans zu einer teilweise jedoch etwas unausgegorenen Mischung aus Jugendroman, Coming-of-Age, Liebesdrama und Krimi zu verknüpfen. Auffallend sind dabei erneut die Sprache und das Spiel mit den Namen der Figuren.

"Viele Geschichten beginnen am Meer oder sie enden dort", lautet der tolle erste Satz, der die Leser:innen sofort in das Geschehen hineinzieht. Ebenso schnell kann Salih Jamal die Leserschaft von Beginn an für den Protagonisten und Ich-Erzähler Jonas alias Jimmy einnehmen. Auch wenn die Geschichte seiner Eltern romantisierend und ein wenig kitschig wirken mag, ist Jimmy ein vom Schicksal gezeichneter Junge, dem nicht nur die Empathie des Autors über die kommenden 350 Seiten gewiss sein wird. Gerade im ersten Drittel des Romans gibt es zudem zahlreiche dieser bemerkenswerten Sätze, für die Jamal schon seit "Das perfekte Grau" bekannt ist. "Man war nie allein und doch immer einsam", heißt es an einer Stelle über das Leben im Waisenhaus, "Erinnerungen sind wie Parfüm" an einer anderen.

Und auch Salih Jamals Faible für Spitznamen und seltsame Namen aller Art kommt in "Vor der Nacht" wieder voll zum Tragen. Da gibt es neben der etwas unverständlichen Umtaufe von Jonas zu Jimmy die recht plakativ benannte Heimleitung "Vora", bei deren klischeehafter Figurenzeichnung als "böse Wölfin" man sie sich förmlich als Kinder-verschlingendes Monstrum vorstellen kann. Besser gelingt dem Autoren das Spiel mit dem Namen der gelungensten Figur des gesamten Buchs: Jimmys Zimmergenossen "Frei Niemants". Dieser Frei steht in seiner Ambivalenz symbolisch für die Ängste und Nöte der Kinder, aber auch für deren dunklen Seiten, das "Wölfische", das gerade bei der Hauptfigur gegen Ende des Romans eine ganz besondere Rolle spielen wird. "Niemand ist frei", so mag das Gefühl dieser geplagten Charaktere sein.

Während das erste Drittel des Buches trotz oder gerade wegen seines Jugendbuchcharakters zu gefallen weiß, nimmt die Episode im Heim ein viel zu abruptes Ende und leitet die erzählerisch deutlich schwächere Erwachsenenphase der Figuren ein. Prostitution, Drogenmissbrauch, Mord, eine SM-Beziehung, Raub - hier wird nichts ausgelassen. Und so überrascht es nicht, dass "Vor der Nacht" am Ende mit vielen Toten daherkommt. Natürlich will Salih Jamal auf die Versehrtheit der damaligen Heimkinder hinweisen, doch leider geschieht dies so plakativ und klischeehaft, dass man es nach einer Weile kaum noch ernst nehmen oder aushalten kann. Zudem verfängt sich der Autor sprachlich in Kalendersprüchen und verpasst es, einen neuen Handlungsspielort wie die Malediven auch nur ansatzweise interessant zu gestalten. Am schlimmsten ist aber der verharmlosende Umgang mit Drogen. Während Sinan auf den Malediven eine Art kalten Entzug von seiner Crack-Abhängigkeit machen soll, wird bereits in den Morgenstunden fröhlich gebechert und abends liegt man sich in den Armen, obwohl eine der Figuren gerade einen Mord gestanden hat.

Da tut es gut, dass das große Finale - wir wissen aus dem ersten Satz, dass es am Meer spielt - versöhnlich und konsequent ist. Der Epilog ist gar so anrührend, dass er mir eine Gänsehaut bescherte.

Insgesamt ist "Vor der Nacht" ein nur halbwegs überzeugender Roman, der sich trotz der Anspielungen und versteckten kleinen Zitate aus den beiden Vorgängern eher die schwächeren Elemente der bisherigen Werke herausgepickt hat. Dennoch hat er mit Jimmy und Frei zwei Figuren, die einen auch im Nachgang nicht loslassen und zahlreiche unvergessliche Sätze, die die Lektüre durchaus lohnen. Für das nächste Werk Salih Jamals würde ich mir vielleicht kein "perfektes Grau", aber Charaktere wünschen, die mehr Grautöne aufweisen als Vora oder die anderen Kinderfiguren.