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Benutzername: 
Adelebooks
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 116 Bewertungen
Bewertung vom 14.01.2025
Empathie und Widerstand
Lunz, Kristina

Empathie und Widerstand


sehr gut

Ein inspirierender, feministischer Blick auf die Weltpolitik

In Empathie und Widerstand wird Kristina Lunz persönlich! Im Einleitungskapitel gibt die Autorin informative Einblicke in ihre Herkunft, Prägung und damit auch ihren Antrieb für eine feministische Außenpolitik und gerechtere Gesellschaft und damit letztlich auch für ihr Verständnis von Empathie und Widerstand als Weg dorthin. Versiert, informiert und leicht verständlich analysiert Lunz die Begriffe Empathie und Widerstand und macht diese für den Weg zu ihrer Utopie - einer gerechten Welt und Weltordnung - fruchtbar. Bereichert wird dieser Blick und die Analyse Lunz‘ durch die Porträts empathischer und widerständiger Frauen am Ende des Buchs, sowie immer wieder Einblicke in ihre berufliche Tätigkeit und Erfahrung weltweit.

Empathie und Widerstand ist gut recherchiert, doch kein klassisches Sachbuch. Es ist eher ein sehr persönliches Essay, in dem die Autorin ihre Haltung herleitet, erläutert und daraus ein inspirierendes Plädoyer ableitet.

Der Stil war für mich stets ausgewogen, zugänglich, abwägend ohne dabei zu relativieren und die innere Haltung zu verlieren. Man könnte sagen, auch im Verfassen des Buchs bleibt die Autorin dem Geschriebenen treu.

Etwas irritierend waren für mich die eigenen Lobpreisungen im Einleitungskapitel. Ich kann mir vorstellen, dass dies fast ein Reflex ist, wenn man sich als junge Frau in Lunzs Position tagtäglich in einer noch immer männlich-ego-dominierten Welt durchsetzen, seinen Platz in diesen Reihen trotz der unstreitbaren Kompetenz rechtfertigen muss. Einige Ausführungen waren für mich zudem etwas zu repetitiv. Dies schmälert den Wert dieser Publikation und insbesondere ihren inspirierenden Charakter jedoch kaum! Ein inspirierendes Buch von einer inspirierenden Frau!

Bewertung vom 07.01.2025
Das Erwachen / Dirty Diana Bd.1
Besser, Jen;Feste, Shana

Das Erwachen / Dirty Diana Bd.1


weniger gut

Einblicke in ein amerikanisches Vorstadt-Ehefrauen-Dasein - leider ohne echte Tiefe

Diana ist 41 und lebt ein fast schon klischeehaftes Vorstadtfrauen-Dasein in Texas: Künstlerin, verheiratet mit dem erfolgreichen, liebenswerten und gut aussehenden Oliver, glückliche Mutter der kleinen Amy, zwei Mal wöchentlich Tennisstunden, Frauen und Kinder auf Playgrounds am Wochenende… Und recht klischeehaft ist leider auch die Story des Romans. Diana ist unglücklich in ihrer Ehe, den Sex mit ihrem Mann lässt sie über sich ergehen und versucht ihn so gut wie möglich zu vermeiden. Selbst ihren Freundinnen vertraut sie sich nicht an. Ihre Sehnsucht nach mehr zeigt sich in ihrem heimlichen sexuellen Verlangen, das sie aus Erinnerungen an leidenschaftlichen Sex und Träumen davon speist. Genährt wird diese Sehnsucht durch ein altes Kunstprojekt Dianas: Tapes mit Interviews in denen Frauen von leidenschaftlichen sexuellen Erfahrungen berichten. Diese Interviews dienten Diana einst als Vorlage und Inspiration für ihre Bilder. In der Gegenwart entfachen diese Tapes erneut etwas in ihr und sind im Roman eine zentrale Quelle der zahlreichen, ausführlich geschilderten Erotikszenen.

Für mich war das Buch nur schwer auszuhalten, so interessant wie der Einblick in ein solches Leben sein mag, so sehr habe ich mich zunehmend gefragt, warum reden die Figuren nicht miteinander? Und warum geht es die ganze Zeit nur um Sex?

Genug Potential für einen ernsthaften Roman hätte es sicher gegeben. Probleme in langen Beziehungen, wenn Alltag und Routine echte Intimität und Nähe zersetzen, das Tabu oder wahlweise die Fetischisierung weiblicher Lust in unserer Gesellschaft, das Überschreiten persönlicher Grenzen von Frauen, um Männern (und auch Ehemännern) zu gefallen, etc. Doch Dirty Diana geht Themen nicht nach, wagt sich nicht in die Tiefe partnerschaftlicher Dynamiken und der persönlichen Entwicklung. Stattdessen werden die tieferliegenden Konflikte und Probleme der Figuren und Partnerschaft im Roman auf Sex reduziert. Sex als Problem der Beziehung und Sex als Lösung. Mir war das leider zu wenig.

Der Roman ist flüssig geschrieben und findet sicher seine Fans irgendwo zwischen Desperate Housewives und 50 Shades of Grey. Mich konnte er leider überhaupt nicht erreichen.

Bewertung vom 18.12.2024
Die Winterschwestern
Bertrand, Jolan C.

Die Winterschwestern


sehr gut

Auf den Spuren der großen Kinderbuch-Autor*innen - Atmosphärisch erzählt und wunderschön illustriert

Der kleine Alfred ist 10 Jahre alt und lebt im Wikingerdorf Nebeldorf hoch im Norden. Alfred fühlt sich wohl im Kreise seiner Gemeinschaft und Familie und ist für seine Streiche bekannt. Obwohl er ein aufgeweckter, glücklicher Junge ist, wird er manchmal von einer unerklärlichen Traurigkeit heimgesucht. Was für ein Glück, dass sein geliebter Onkel Ragnar und seine Großmutter Brunhilda ihm auch in solchen Phasen Mut und Trost spenden. Als sein Onkel Ragnar auf eine gefährliche Mission geschickt wird, ist es Alfred, der ihn nach einer Warnung der Seherin des Dorfes zunächst heimlich begleitet. Was als eine Suche nach den geheimen Trollen beginnt, verwandelt sich schnell in eine ereignisreiche, ungleich gefährlichere Reise und Konfrontation mit der großen Winterschwester, die seit Jahren, aus Wut und Traurigkeit über das Verschwinden ihrer geliebten kleinen Winterschwester, Kälte und Sturm über die Region bringt. Wie wird Alfred, der doch nur ein kleiner Junge ist, die ungeahnten, schwierigen Herausforderungen meistern?

Der Erzählstil ist sehr angenehm, zugänglich und erinnert mich an große Erzähler*innen von Astrid Lindgren bis Erich Kästner. Die Charaktere sind so wundervoll und liebevoll gezeichnet, die Geschichte mit Liebe und angemessener Spannung und Fantasie erzählt. Man taucht tatsächlich ab und ein in die magische Welt der Wikinger und der nordischen Mythologie. Gelungen finde ich auch wie natürlich und kindgerecht die Themen von Transidentität und Depressionen in die Erzählung integriert werden.

Ein bisschen Spielraum sehe ich noch angesichts kleinerer Logikfehler in der Erzählung, die dem Leseerlebnis jedoch keinen entscheidenden Abbruch tun.

Wirklich wunderschön und unbedingt erwähnenswert sind die Zeichnungen, die nicht nur den Umschlag zieren, sondern auch lose in die Erzählung zur Illustration eingefügt sind. Die Atmosphäre der Erzählung spiegelt sich darin eindrücklich wider, wird ergänzt und zusätzlich bereichert.

Ein wunderschönes Buch mit einer magischen und lehrreichen Erzählung für große und kleine Fans märchenhafter, magischer Erzählungen!

Bewertung vom 17.12.2024
Lina und der Schnee-Engel
O'Farrell, Maggie

Lina und der Schnee-Engel


ausgezeichnet

Über das Wunder der Schneeengel, die über uns wachen…

Als die kleine Lina eines Nachts erwacht, traut sie ihren Augen kaum: da ist jemand oder etwas in ihrem Zimmer. Sollte sie Angst haben? Doch schnell erkennt sie in dem Geschöpf mit großen Engelsflügeln, das sich da vor ihr ausbreitet etwas ganz und gar Liebenswürdiges, Vertrauenerweckendes. Er sei ihr Schneeengel klärt das magische Wesen sie auf, und hier um sie zu beschützen. Denn Schneeengel gibt es tatsächlich, sie entstehen, wenn ein Mensch, so wie Lina im Schnee einen Schneeengel macht. Wenn dieser taut verschwindet der Engel nicht etwa sondern zerstäubt in Moleküle, und wacht von da an im Himmel über die Person, die ihn erstellt hat. Dass jeder Mensch ab und zu seinen Schneeengel braucht, wir auch Lina schnell im Laufe des Buches feststellen.

Mir gefällt besonders, wie das Buch in einer liebevollen Erzählung Trost und Wärme spendet und gleichzeitig auch schwierige Themen, wie schwere Krankheit thematisiert. Freundschaft, Liebe und Hoffnung werden dem gegenüber gestellt und so in eine wundervolle winterliche Erzählung eingebunden.

Wirklich bezaubernd sind insbesondere auch die Zeichnungen in diesem Buch. Lina ist einfach zuckersüß und liebenswert und ihre Herausforderungen wie Abenteuer wunderschön illustriert. Dabei werden durch das Spiel mit den Farben eindrückliche Stimmungen erzeugt, die die zauberhafte Erzählung perfekt ergänzen.

Die Altersangabe ab 5 Jahren finden wir angemessen.

Ein perfektes, herzerwärmendes Buch zum Vorlesen für die kalte Jahreszeit, das direkt eine wohlige, kuschelige Stimmung verbreitet und auch noch schön anzusehen ist.

Bewertung vom 08.12.2024
Das kleine Café der zweiten Chancen
Ota, Shiori

Das kleine Café der zweiten Chancen


ausgezeichnet

Über die Magie des Kaffees und das Wunder der Freundschaft

Himari galt einst als Wunderkind am Klavier und wurde sehr jung von ihrer Mutter ins Internat nach England geschickt. Dort hatte Sie jedoch einen Unfall mit ihrer Hand, der sie zunächst sehr zu ihrer Freude nun zurück nach Japan brachte. Ob sie jemals wieder Klavierspielen kann bleibt ungewiss. Im neuen Wohnort ihrer Mutter und Schwester, der nun auch ihr eigenes neues zu Hause ist, ist jedoch alles fremd für Himari. Vor ihrem ersten Schultag in der 6. Klasse, den sie aufgrund der Rehabilitation auch noch 4 Wochen nach offiziellem Schulbeginn und allen anderen antreten kann, graut es ihr. Mit dieser Angst macht sie sich auf ihren neuen Schulweg. Eine alte Frau, die auffällig in ihrem Äußeren und liebevoll zugleich die Kinder auf dem Schulweg unterstützt, macht sie zunächst skeptisch, doch das Gespräch mit ihr entwickelt sich schnell zu einer echten moralischen Stütze für Himari, die sie positiver auf den Schulbeginn blicken lässt. Und die Alte sollte recht behalten: mit ihren Ratschlägen, konnte Himari ihre Angst ablegen und wurde in der neuen Klasse angenommen. Auf dem Rückweg bedankt sich Himari, und wird von der alten Frau zu einem Kaffee eingeladen, dabei erfährt Himari zum ersten Mal von einem besonderen Café in ihrer neuen Heimatstadt, dass sie bald mit ihrer neuen, alten Freundin besuchen möchte. Doch als sie am nächsten Tag auf dem Schulweg das Haus passiert, kann sie es nicht mehr finden. Was ist passiert? Verzweifelt erinnert sich Himari an das Café von dem ihre alte Freundin sprach. Wird sie dort Antworten finden?

Gekonnt verbindet die Autorin in das Café der zweiten Chancen die Liebe zu und Kraft der Musik mit der Magie und dem Genuss des Kaffees und seiner Zubereitung sowie dem Wunder der Freundschaft. Was dabei herauskommt, ist eine Art modernes Märchen, das ebenso schön wie lehrreich ist. Ganz klare Empfehlung!

Bewertung vom 04.12.2024
Aus dem Haus
Böttger, Miriam

Aus dem Haus


gut

Über Familiensekten und andere Katastrophen oder: niemand ist freiwillig in Kassel

In Aus dem Haus blickt die Ich-Erzählerin ausgehend von einem Besuch am Grab ihres Vaters auf ihre Familiengeschichte zurück - das Aufwachsen in Weinheim an der Bergstraße, der Umzug nach Kassel und der Gipfel des Unglücks: der Bau des Hauses.

Unterhaltsam ist dabei nicht nur die Charakterisierung der Eltern, die modebewusste, attraktive Mutter stets mit Zeitproblemen, die aber deshalb nicht weniger stets an ihr eigenes Unglück glaubt und in Klage und Melancholie versinkt, der Vater, erfolgreich im Beruf, jedoch gleichsam an das eigene Unglück glaubend und im oft verzweifelten Versuch die eigene Frau zu verstehen, beide sich stets ausnutzend lassend, jedoch mit deutlichen Defiziten im Sozialverhalten.

Wirklich eingängig und überraschend ist auch der Stil in dem Miriam Böttger diese Geschichte erzählt. Klug, pointiert und oft bissig charakterisiert die Autorin nicht nur die Eltern, sondern auch Familienkonstellationen und - Dynamiken, die kulturellen und sprachlichen Eigenheiten und Unterschiede zwischen Weinheim an der Bergstraße und Kassel, die Idealisierung des Autofahrens und nicht weniger als die Gesellschaft und ihre sozialen Dynamiken als solches.

Dieser bissig-ironische Ton überdeckte dabei für mich jedoch oft die eigentliche Tragik der Geschichte. Die ständige Unzufriedenheit, Negativität und Depressionen, die das Leben der Eltern begleiteten und geprägt haben. Nie ist etwas gut genug, die anderen haben es immer besser und wenn das Unglück nicht da ist, redet man es herbei. Völlig in den Hintergrund gerät dabei auch, was dies für ein Kind bedeuten kann in solchen Dynamiken aufzuwachsen. Natürlich kann man damit reflektiert und mit ironischer Distanziertheit umgehen, wie die Ich-Erzählerin. Das Aufwachsen geprägt durch Negativität und Destruktivität kann jedoch auch andere Folgen haben und prägend für das weitere Leben sein.

Ich bin daher insgesamt etwas zwiegespalten in meinem Urteil. Der gesellschaftskritische, ironische Ton und die Analyse sozialer Dynamiken gefallen mir grundsätzlich sehr gut und ich habe nun auch einiges über die Unterschiede zwischen Kasseler, Kasselaner und Kasselener gelernt. Gleichzeitig hätte ich mir mit Blick auf die Figurenentwicklung etwas mehr Tiefgang und Einordnung, der doch nicht unerheblichen destruktiven Dynamiken gewünscht.

Bewertung vom 01.12.2024
Unversehrt. Frauen und Schmerz
Biringer, Eva

Unversehrt. Frauen und Schmerz


ausgezeichnet

Schmerzhaft zu lesen, ein unglaublich wichtiges Buch!

Unversehrt ist wirklich keine leichte Kost und macht unfassbar traurig und wütend. Ich musste mehrfach unterbrechen, weil die Geschichte von weiblichem Schmerz, die Eva Biringer hier erzählt so unfassbar und dramatisch ist und nicht zuletzt dramatisch alltäglich. Die Autorin betrachtet wie Frauen Schmerz zugefügt wird, ihr Schmerz bagatellisiert und nicht ernst genommen, an anderer Stelle fetischisiert wird - dies alles auch in und von einer in Vergangenheit und Gegenwart zutiefst androzentrischen Medizin, mit weitreichenden Folgen für die Betroffenen jenseits des männlichen Ideals.

Vieles war für mich nicht komplett neu, doch Biringer beschreibt die Ursprünge, Ausbreitung und Persistenz von Misogynie und deren Verbindung zu weiblichem Schmerz in unserer Gesellschaft in Deutschland, Europa und weltweit so pointiert und eindringlich, dass es einem eiskalt den Rücken herunterlaufen kann. Diese Eindringlichkeit erzeugt die Autorin nicht mit Effekten oder sprachlichen Raffinessen, nein, es sind die gut recherchierten harten, traurigen und in Ausmaß und Wirkung beinahe unglaublichen Fakten, die erschaudern lassen und einfach nur wütend machen, auf eine Welt, die noch immer maßgeblich durch patriarchale Strukturen geprägt ist und in der autoritär-patriarchale Muster zum Teil sogar eine Revision erfahren (siehe Trump, die Incel-Bewegung, etc.).

Als Betroffene einer der von der Autorin beschriebenen Autoimmunerkrankungen, die überproportional Frauen betreffen, war ich positiv angetan von den Ausführungen Biringers, die von einem tiefen Verständnis der Autorin für die Erkrankungen und Lebenswelt der Betroffenen zeugen. Dies ist nach meiner Erfahrung auch unter Journalist*innen alles andere als selbstverständlich.

Für mich waren Einleitung und Titelbild etwas irreführend. Letzteres finde ich recht plakativ. Zugang zum Thema verschafft sich die Autorin in der Einleitung über die Geschichte ihrer eigenen Großmutter, die ihr Leben lang an Schmerzen litt. Ich hatte daher ein wesentlich persönlicheres, eher feuilletonistisches Buch erwartet. Was auch ok gewesen wäre. Positiv überrascht bin ich dann jedoch von dem ausgezeichnet recherchierten, und einnehmend geschriebenen ebenso wie pointiert aufgebauten Sachbuch, dass mich erwartete. Für mich ist das Buch in Inhalt und seiner zeitgemäßen sprachlichen Darstellung ein echtes Must-Read und würde für mich fast zu einer zeitgemäßen Schullektüre taugen. Denn dass die darin von der Autorin präsentierten Inhalte so wenig Raum in der Öffentlichkeit einnehmen, ist unfassbar, besonders wenn man bedenkt, dass rund 50% der Menschheit von den negativen Auswirkungen von Misogynie und Sexismus in unserer Gesellschaft und insbesondere auch dem Gesundheitssystem betroffen sind! Unbedingt lesen!

Bewertung vom 29.11.2024
Strong Female Character
Brady, Fern

Strong Female Character


ausgezeichnet

Ein weiblicher Lebensweg zwischen Sexismus, Autismus und Klassismus

In ihrem Buch Strong Female Character gibt die erfolgreiche Comedian Fern Brady Einblicke in ihren Lebensweg als Frau mit Autismus und den langen und schmerzhaften Weg zu einer Diagnose, als Frau im Comedybusiness, als Frau mit Autismus aus der Arbeiterschicht an der Universität und als Frau in einem katholisch geprägten Milieu und entsprechender Erziehung. Das Gefühl „falsch“ zu sein, mag dabei nicht nur an ihrer Diagnose liegen, sondern, dass sie als selbstbewusste, junge Frau mit Autismus aus vielen der sie umgebenden Normen herausfällt, sei es in der Familie, dem Gesundheitssystem oder auch an der Universität. So bewegt sich die Autorin nicht nur zwischen Sexismus und Autismus, wie es der Titel suggeriert, sondern auch Sexismus im Autismus und dem Gesundheitssystem sowie Klassismus. Hier überlagern und verstärken sich Sexismus, Ableismus und Klassismus gegenseitig. Als weitere Ebene wirken, durchaus auch in Verflechtung, die starren Normen des Katholizismus.

Gerade durch ihre Erfahrungen im Gesundheitssystem wird für mich sehr deutlich, dass in unserer Gesellschaft und all ihren Teilbereichen ganz offensichtlich jede Abweichung von einer gesunden, männlichen Norm, mit Barrieren und massiven individuellen Nachteilen verbunden ist. Alles was davon abweicht, wird in einer patriarchal-kapitalistischen Gesellschaft als störend empfunden.

Aus meiner Sicht wird auch sehr deutlich wie bereichernd eine Perspektive wäre in der wir jenseits von oft hierarchisierenden Normvorstellungen, die in der Regel an patriarchale-kapitalistische Diskurse anknüpfen, echte Vielfalt in unserer Gesellschaft leben und anerkennen würden.

Der Stil der Autorin ist authentisch und für mich gut zu lesen. Ich persönlich mag die Unmittelbarkeit mit der die Autorin ihre Gedanken teilt, als ob man an ihrem Denken und ihrer Lebenswelt beim Lesen teilhat. Die Ereignisse sind dabei nicht durchgängig chronologisch, manchmal sprunghaft, wie es auch für sie selbst sein mag.

Ich habe den Eindruck und finde es bewundernswert, dass die Autorin eine gewisse Stärke aus ihren Erfahrungen gezogen hat und gleichzeitig empfinde ich es als unglaublich traurig und beschämend für unsere Gesellschaft, dass sie diese Erfahrungen machen musste. Das Gefühl „falsch“ zu sein, egal ob in einem weiteren gesellschaftlichen Kontext oder sogar innerhalb der Kernfamilie wird sehr gut beschrieben und ich kann mir nur im Ansatz vorstellen, was das für ein Kind und eine junge Frau bedeuten muss. Ich habe bei meinen Gefühlen während der Lektüre daher sehr zwischen Bewunderung für die Autorin, Mitgefühl, Traurigkeit und auch ganz viel Wut auf unsere Gesellschaft geschwankt, die Fern Brady diesen Weg hat gehen lassen. Für mich ein wichtiges Buch mit einer absoluten Empfehlung!

Bewertung vom 13.11.2024
Trinken wie ein Dichter

Trinken wie ein Dichter


ausgezeichnet

Für Literaturliebhaber*innen und Genussmenschen

Trinken wie ein Dichter ist ein kurzweiliger Band, der Autor*innen und ihre Lieblingsgetränke in einen kulturhistorischen Kontext stellt. Ich hatte mir das Buch ehrlicherweise etwas banaler vorgestellt und bin ganz überrascht und hingerissen vom Inhalt. Mich begeistert besonders, dass das jeweilige Getränk in den historischen und literarischen Kontext gestellt und so darüber ganz nebenbei auch Kulturgeschichtliches aus der jeweiligen Epoche vermittelt wird. Super finde ich auch, dass es sich nicht ausschließlich um alkoholische Getränke handelt, sondern beispielsweise auch ein Grünteemix dabei ist!

Die Leserin taucht ein in die Zeit der Entstehung und des Genusses der Getränke und beleuchtet kurzweilig den jeweiligen kulturhistorischen Kontext. Dabei werden zuweilen auch typische Gerichte, wie die Kalbsfleischbrühe der Regency Ära näher betrachtet. Das jeweilige Rezept darf natürlich in jedem Abschnitt nicht fehlen.

Als Modell dient jeweils ein*e Literat*in, wobei sich das Buch vom Jahr 1564 bis in die Gegenwart, orientiert am Lebens- und Wirkungszeitraum der vorgestellten Person, vorarbeitet.

Sehr gut haben mir auch die kleinen Details zu Leben und Werk der vorgestellten Autor*innen gefallen, verknüpft mit dem jeweiligen Getränk.

Ein kleines Highlight waren für mich die lose eingestreuten Exkurse über wenige Seiten, in denen bestimmte Bars, Getränke oder auch Tipps für einen Literatursalon und gegen Kater kurzweilig vorgestellt wurden. So erfährt die interessierte Leserin beispielsweise, was es mit der grünen Stunde im Paris der Jahrhundertwende auf sich hatte.

Für mich ist das Buch eine echte kleine Überraschung. Ich wollte es als Coffeetable Book verschenken und habe mir nun noch ein eigenes Exemplar geholt. Für literaturinteressierte Genussmenschen ist Trinken wie ein Dichter ein tolles kleines Werk!

Bewertung vom 09.11.2024
Die große Sehnsucht
Sydow, René

Die große Sehnsucht


sehr gut

ERWACHSENWERDEN UND TRÄUMEN IN DEN 90ERN AM BODENSEE

Rabe, Fete und Michi - drei junge Männer im letzten Jahr vor dem Abitur in der Mitte der 90er Jahre, aufgewachsen in einer Stadt am Bodensee. Hier siedelt René Sydow seinen Roman - Die große Sehnsucht - an. Die drei Protagonisten sind durchweg sympathisch, jeder mit seinen eigenen Charaktereigenschaften, individuellen Herausforderungen und Träumen: Rabe, der von einer großen Karriere als Filmregisseur träumt, Fete, der viel unsicherer ist, als viele ihn sehen, Michi, der bei einer alleinerziehenden Mutter aufwächst und plant ans andere Ende von Deutschland zu ziehen. So unterschiedlich die Drei sind, so sehr sind sie freundschaftlich verbunden und stehen sich gegenseitig bei. In der Freundschaft von Rabe, Michi und Fete fängt Sydow ein typisches Aufwachsen in den 90er Jahren ein und legt dabei den Fokus auf eine ganz besondere Lebensphase, kurz vor dem Schulabschluss, wenn alles möglich scheint und die Welt jungen Menschen offen steht, sie doch gleichzeitig noch stark geprägt von ihrer Herkunft und dem Elternhaus sind. Eine Mischung aus Bewahren des Vertrauten und Erwartung des Ungewissen, was das Leben bringen mag, angereichert mit allen Träumen, die in diese Zukunft gelegt werden. Die zeitliche Verortung in den 90er Jahren sorgt hier für einiges an Nostalgie. Dinge die heute einen Großteil unseres Alltags bestimmen, wie Handys, Smartphones oder PCs spielten noch keine, oder in der Masse eine völlig untergeordnete Rolle. Andere Aspekte des Alltags, wie Videos und Videotheken hingegen, die heute in Vergessenheit geraten sind, nahmen auch für Jugendliche viel Raum ein, als Freizeitbeschäftigung und Treffpunkt.

Neben der Perspektive der jungen Männer, beleuchtet Sydow stellenweise auch die der Eltern. Gerade davon hätte ich mir noch etwas mehr gewünscht und denke ein intergenerationaler Vergleich hätte den Roman bereichern können.

Stilistisch bin ich bis zum Schluss leider nicht ganz warm geworden mit der Erzählweise. Die Gedanken und Handlungen werden von einer Art alles wissendem Erzähler präsentiert, was mich ein bisschen an Kinderbücher erinnert hat, auch wenn der Inhalt natürlich ein ganz anderer ist. Für mich ging durch dieses Erzählen leider etwas Authentizität verloren und ein echtes Einfühlen in und Nähe zu den Protagonisten blieb für mich trotz einiger Parallelen zu meiner eigenen Biografie aus. Insgesamt war der Roman für mich eine nette Lektüre, die an die Besonderheiten einer Jugend in den 90ern erinnert, jedoch leider kein Werk, das sehr nachhallt.