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Adelebooks
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Bremen

Bewertungen

Insgesamt 124 Bewertungen
Bewertung vom 20.03.2025
Heimweh im Paradies
Mittelmeier, Martin

Heimweh im Paradies


sehr gut

Der Nobelpreisträger im Exil - Porträt aus einer Zwischenwelt

Was für eine andere Welt ist dies, in die der Autor uns in Heimweh im Paradies eintauchen lässt. Von heute aus betrachtet, jedoch auch zur damaligen Zeit im Vergleich zum europäischen Kontinent, auf dem Hitlers Expansions - und unmenschlicher Zerstörungswahn immer mehr Gestalt annimmt. Palmen, Sonne, Meer und Cocktails hier, Vernichtung, Hass und Krieg da. Und trotzdem leben die von Martin Mittelmeier porträtierten Intellektuellen im fernen Kalifornien in einer seltsamen Zwischenwelt, an die auch die Manns sich erst gewöhnen müssen.

Spiegelbildlich zur gleißenden Sonne Kaliforniens wirft Martin Mittelmeier das Licht auf eine besondere Gruppe von Menschen, die auf diesem Fleckchen Erde eine temporäre Heimat gefunden haben. Das Buch beschreibt die Jahre im Exil des 2. Weltkriegs in den USA, im Mittelpunkt Thomas Mann. Durch die eng vernetzte Exilcommunity, zeichnet Mittelmeier jedoch gleichzeitig auch ein Porträt des Milieus der deutschen Intellektuellen dieser Zeit aus Kunst, Film und Literatur in Kalifornien. Dabei wechseln sich feinsinnige Werksgenesen und Soirees immer wieder mit aktuellen politischen Nachrichten aus dem 2. Weltkrieg ab. Die Genese und der Wandel von Manns politischen Ansichten, seine Reflexionen über das Deutschsein, Zweifel an seinem Werk, das schwierige Verhältnis zu seinem Bruder und natürlich die restliche Familie mit all ihren Eigenheiten und Bedürfnissen werden von Mittelmeier gelungen nachempfunden.

Besonders nachdenklich haben mich die Passagen gemacht, in denen Mann über den Krieg, Hitler und die Möglichkeiten und Erwartungen an die USA sinniert. Hier zeigte sich eine seltsame Aktualität. Wüsste man den historischen Kontext nicht, könnten diese Gedanken ohne weiteres auch unsere Gegenwart beschreiben.

Martin Mittelmeier gelingt so mit Heimweh im Paradies ein hervorragendes Porträt der Exiljahre der Manns und der deutschen Intellektuellen in Kalifornien während des 2. Weltkriegs - ein bewegendes Porträt aus einer Zwischenwelt mit zuweilen fast unheimlichen Bezügen zur Gegenwart.

Bewertung vom 16.03.2025
Das Lieben danach
Bracht, Helene

Das Lieben danach


ausgezeichnet

Ein Buch über das Unbeschreibliche - schrecklich und zart zugleich

Unglaublich eindringlich erzählt Helene Bracht in das Lieben danach von der Existenz als Frau, die schon als Kind für sie bedeutete Übergriffe zu erleben, Zeugin davon zu sein, jedoch in anderer Form auch zu begehen. Der Übergriff als Alltag inhärent in die Existenz des weiblichen Geschlechts in einer patriarchalen Gesellschaft eingeschrieben, die jederzeit die Verfügungsgewalt über den weiblichen Körper beansprucht.

Ausgehend von der eigenen Missbrauchserfahrung versucht die Autorin zu ergründen, was diese für den weiteren Lebensweg, hier speziell die Beziehungen und Sexualität, bedeutet, bedeuten kann. Welche Prägungen erfahren Menschen, speziell Frauen, dadurch und wie wirkt sich dies auf ihr Leben aus? Die Forschungsliteratur hierzu ist dünn, die essayistische Analyse der Autorin damit umso wertvoller für unser Verständnis davon. Deutlich wird, dass sich im Fall der Autorin und dies wahrscheinlich durchaus exemplarisch für andere Frauen mit ähnlichen Erfahrungen, die Missbrauchsvergangenheit und ihre Implikationen für die weitere Prägung intimer und sozialer Beziehungen unheilvoll mit patriarchalen Erwartungen an die Frau als Gebende vermischen. Dies zu lesen, zu verdauen, zu verstehen, ist bereits alles andere als leicht und gerade deshalb notwendig.

Diesem schwierigen Thema widmet sich Bracht in einer seltsam nüchternen und zugleich zarten Sprache und schafft es so die ganze Ambivalenz, die dabei in ihren Gefühlen mitschwingt nachvollziehbar einzufangen. So ist das Lieben danach auch eine ungewöhnlich offene Selbstanalyse der Missbrauchserfahrung, aber auch der Liebesbeziehungen und des Alterns und gelebten Lebens dieser außergewöhnlichen Frau.

Für mich war das Lieben danach ein Buch, das noch lange nachhallen wird und ich mit Blick auf die klugen und bedacht formulierten Gedanken darin, sicher noch öfter zur Hand nehmen werde. Es liegt trotz der schrecklichen Thematik ein seltsamer Trost in den Zeilen der Autorin, die dem Grauenvollen, die Schönheit der Sprache entgegenstellt und diesem so erfolgreich trotzt als eine Form der Aneignung der eigenen Geschichte. Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 16.03.2025
Achtzehnter Stock
Gmuer, Sara

Achtzehnter Stock


sehr gut

Ein in den Himmel gereckter Mittelfinger…

Wanda ist eine glücklose Schauspielerin, seit 2 Jahren ohne Engagement und alleinerziehende Mutter der kleinen Karli. Zusammen mit ihrer Tochter lebt sie im 18. Stock eines Berliner Plattenbaus. Die prekären Wohnverhältnisse, mit trostloser Umgebung, versifftem Lift und schimmeliger Wohnung sind ein Spiegelbild für Wandas Leben. Sie steckt fest und hat das Gefühl die Armut, die sie bereits aus ihrer eigenen Kindheit kennt, nie hinter sich lassen zu können. Rotkäppchen und Jägermeister mit den anderen Müttern im Haus dienen als kleine Fluchten aus dem trostlosen Leben, in dem die Frauen sich gegenseitig Halt und praktische Unterstützung geben, weil es sonst niemand tut, weder die anwesenden oder abwesenden Männer in ihren Leben oder die Gesellschaft, an deren Rändern sie Leben. Und trotzdem gibt Wanda nicht auf, sie will frei sein, frei von vererbter Armut, ein Leben in Freiheit von den Zwängen des Prekariats.

So bewegt sich Wanda im Roman zwischen krankem Kind und den Herausforderungen als alleinerziehender Mutter und der Chance in der Schauspielerei endlich Fuß zu fassen und damit sich und Karli ein neues Leben zu ermöglichen.

Die Schauspielwelt ist dabei der ultimative Kontrast zu Wandas Leben, ein Universum mit anderen Koordinaten und Werten, Tesla, Rolex, teuere Hotels statt Platte. Ihr erfolgreicher Schauspielkollege Adam spiegelt die Leichtigkeit, die ein sorgloses Leben in materiellem Wohlstand, aber auch ohne den Verpflichtungen als Mutter und Alleinerziehende bedeuten könnte - die Anziehung, die Wanda zu ihm empfindet mag daher nicht nur auf Adam selbst bezogen sein, sondern auch all das, was er verkörpert. Der Kontrast könnte größer nicht sein, für Adam ist alles ein Spiel, für Wanda geht es hingegen immer um alles.

Sprachlich überzeugt der Roman mit authentischem Stil, der Wandas Welt gelungen transportiert. Achtzehnter Stock liest sich flüssig und kurzweilig.

Für mich war die Story jedoch nicht vollständig überzeugend. So gut wie der Kontrast aus glitzernder Schauspielwelt und Platte im Roman funktioniert, so wenig spiegelt er die Lebensrealität der meisten Menschen in prekären Wohn- und Lebensverhältnissen wider. Dies hat nicht nur Auswirkungen auf den Alltag, sondern auch die ganz konkreten Chancen für einen Aufstieg und Weg in ein anderes Leben. Ein gesellschaftskritischer Aspekt kommt mir daher etwas zu kurz in diesem sonst durchaus gelungenen, kurzweiligen Roman, der letztlich ein bisschen den Charakter eines modernen Märchens hat.

Bewertung vom 02.03.2025
No Hard Feelings
Novak, Genevieve

No Hard Feelings


sehr gut

Über die Herausforderungen der 20er im Tinderzeitalter

Penny ist 26 Jahre alt, arbeitet eher freudlos unter einer wenig sympathischen Chefin in einer Marketing-Agentur und führt eine lockere On-Off Beziehung mit ihrem Ex-Freund Max, die sie alles andere als glücklich macht, das jedoch ebensowenig wie ihre gehaltlosen Tinder-Dates. Ihre Freundin Annie ist zwar im Dating ebenso unglücklich wie Penny, doch beruflich geht es bei ihr steil bergauf. Freundin Bec vereint wiederum beruflichen Erfolg und eine glückliche Beziehung, in der sie jedoch ihre Freundschaften komplett verliert. In diesem Setting fühlt Penny sich zunehmend unwohl, hat Versagensängste und Selbstzweifel. Beruf, Beziehung und Freunde - überall sieht Penny Baustellen und wäre so gern viel weiter in ihrem Leben, doch weiß nicht, wie sie ihre destruktiven Muster ablegen kann.

No hard feelings thematisiert ein besonderes Alter, mit Mitte 20, wenn sich unser Leben in bestimmte Bahnen bewegt, in manchen Fällen neu ausrichtet, Job, Freunde und Beziehungen sich mit dieser Ausrichtung verändern und wir alle doch nur eines möchten: anerkannt, gesehen und geliebt werden.

Jede der drei Frauen versucht auf ihre Art das Richtige zu tun, und im Erwachsenenleben anzukommen. Und jede der drei Freundinnen hadert auf ihre Art mit den Herausforderungen, die das Leben für sie auf diesem Weg bereit hält.

Das alles verpackt Genevieve Novak in einen lockeren, mitnehmenden und unterhaltsamen Schreibstil der mitten ins Geschehen zieht und unmittelbar an Pennys Entwicklung, Leiden und Lachen, teilhaben lässt. Sensibel, authentisch, zuweilen komisch thematisiert der Roman anhand von Penny auch den Themenkomplex psychische Gesundheit, Depressionen und Ängste.

So gelungen und kurzweilig, wie ich weite Teile des Romans fand, war das Ende mir persönlich jedoch zu kitschig und klischeebeladen. Die Freundinnenschaft und ihre Herausforderungen und Probleme wurden für mich außerdem zu oberflächlich behandelt, und nur vermeintlich gelöst. Hier hätte ich mir mehr Mut für unkonventionelle, emanzipatorischere Modelle und mehr Tiefe in der Analyse gewünscht.

No hard feelings ist ein Buch über eine schwierige Selbstfindung und den Weg aus Depression und Ängsten, über sich verändernde Freundschaften und Sinnsuche im Job im besonderen Jahrzehnt zwischen 20 und 30 Jahren. Der authentische, zuweilen komische Stil macht den Roman zu einem kurzweiligen Leseerlebnis mit leichten Schwächen in der Tiefe.

Bewertung vom 24.02.2025
Rückkehr nach Budapest
Kiss, Nikoletta

Rückkehr nach Budapest


ausgezeichnet

Eindringlich erzählter Vorwenderoman zwischen Balaton, Budapest und Ostberlin

Theresa ist tot. Ihrer Cousine Márta steht die Aufgabe bevor sich von ihr zu verabschieden. Wie schwer dies auch nach jahrzehntelangem Schweigen zwischen den ehemals besten Freundinnen ist, lassen bereits die ersten Seiten von Rückkehr nach Budapest erahnen. Etwas, viel mehr steckt hinter dieser Beziehung und erst recht ihrem Bruch, der auf Márta lastet. Eine zentrale Rolle dabei spielt Konstantin, ein junger Literat aus Ostberlin, den beide Frauen in einem Sommer vor über 20 Jahren in Berlin kennenlernen und der jede von ihnen auf eigene Art begeistert und für sich einnimmt. Und so nimmt diese komplexe Dreiecksbeziehung ihren Lauf, zwischen sich verschiebenden Loyalitäten, körperlicher und intellektueller Anziehung und all dies eingebettet in sensibel erzählte, zum Teil schwierige und schmerzhafte, Lebens- und Familiengeschichten in der DDR und Ungarn.

Mich hat der Roman bereits nach wenigen Seiten vollkommen eingenommen und auf ganz verschiedenen Ebenen überzeugt. Da ist zum einen die eindrücklich eingefangene Stimmung der Vorwendezeit in der DDR und in Ungarn - das Spannungsfeld zwischen alten Regeln, Überwachung und Repression gegenüber immer mehr Freiheitsdrang und Kritik in Kunst und Kultur, hier natürlich insbesondere der im Buch geschilderten Literaturszene. Auch die feinen Unterschiede des DDR-Systems im Vergleich zum ungarischen Sozialismus arbeitet die Autorin fast schon spielerisch in die Erzählung ein. Auf der Ebene der Figuren begeistert sowohl die zarte Studie der Dreiecksbeziehung zwischen Márta, Theresa und Konstantin im Spiel zwischen Loyalitäten, Verrat, Liebe und Freundschaft als auch Mártas Charakterstudie als zurückgenommene, sympathische junge Frau, die jedoch oft für andere lebt und sich im Laufe des Romans immer mehr selbst entdeckt, zu sich findet und dafür lernen muss sich von ihrer Vergangenheit nach langem Ringen zu entfernen und für sich selbst einzustehen. Kiss gelingt es sich sensibel in die diversen, oft schwierigen Lebensgeschichten einzufühlen und so ein authentisches, psychologisch komplexes Bild der Protagonistinnen zu zeichnen.

Für mich war Rückkehr nach Budapest ein echtes Überraschungshighlight in dem noch kurzen Lesejahr. Ich empfehle den Roman von Nicoletta Kiss allen, die gern über komplexe soziale Beziehungen und psychologische Motive lesen und in ein authentisches Bild und Milieu der unmittelbaren Vorwendezeit in der DDR und Ungarn eintauchen möchten!

Bewertung vom 20.02.2025
Halbe Leben
Gregor, Susanne

Halbe Leben


ausgezeichnet

Wie menschlich kann die 24h Betreuung durch osteuropäische Pflegekräfte für die Pflegenden sein?

Als Klaras Mutter nach einem Schlaganfall plötzlich pflegebedürftig wird und nicht mehr allein leben kann, stellt dies das Leben von Mutter und Tochter, aber auch der ganzen Familie auf den Kopf. Neue Routinen müssen entwickelt werden, soziale Beziehungen, auch die Mutter-Tochter-Beziehung, verändern sich. Für Klaras Tochter wiederum scheint die neue Nähe zur Großmutter, die fortan bei ihnen im Haus lebt, wiederum ein Geschenk und Ersatz, für die zu oft abwesende Mutter Klara, die mit ihrer Mutterrolle oft hadert. Allein dieses Beziehungsgeflecht und die Disruption von Familienverhältnissen birgt Potenzial für Enttäuschungen, Verletzungen und Überforderung.

Die Hilfe ausländischer Pflegekräfte als 24h-Hilfe für Mutter Irene scheint so zunächst als praktische Lösung im Interesse aller. Doch ist es das wirklich? Übersehen wird dabei, dass diese Hilfe, eben nicht nur eine Kraft ist, die zum Lösen der besonderen familialen und pflegerischen Herausforderungen da ist, sondern, dass es sich dabei um ein Individuum handelt, mit eigenen Wünschen, Träumen und Bedürfnissen, die eben kein Mensch 24h für 14 Tage abstellen kann. So auch nicht die Slowakin Paulina, im selben Alter wie Klara, die aufgrund der besseren Verdienstmöglichkeiten alle 14 Tage für 2 Wochen ihre Heimat und eigenen Kinder, letztlich ihr ganzes Leben, verlässt, um mit Klaras Familie zu leben und deren Mutter zu pflegen. Aus dieser Perspektive stellt sich die Frage, ob all das, was Gregor in diesem Roman anschaulich und eindringlich vor Augen führt, eben kein Einzelfall ist, sondern viel mehr als typischer Fall einem Konstrukt geschuldet ist, das unter Bedingungen, die das Menschsein und die Augenhöhe unter verschiedenen Parteien ernst nimmt, schlicht nicht zu realisieren ist.

Gregor gelingt es die Interessen, Bedürfnisse, Absurditäten und Widersprüche dieser Situation sowohl aus den verschiedenen personalen Perspektiven als auch auf gesellschaftlicher Ebene in allen Facetten eindringlich einzufangen. Dabei ist der Blick immer differenziert, nie anklagend. Auch Paulina wird in ihrer Zerrissenheit zwischen Welten porträtiert. Sie genießt zu Beginn durchaus auch die neue Familie, dort wird sie gebraucht, macht allen das Leben leichter, während sie sich in der Heimat mit ihren Schulgefühlen und den von der abwesenden Mutter enttäuschten eigenen Kindern konfrontiert sieht. Mit Klaras Tod, der zu Beginn einen dramaturgischen Rahmen setzt, arbeitet sie die Handlung geschickt im Rückblick auf dieses Ereignis hin aus. Man spürt förmlich wie jede kleine Verletzung, giftige Bitte und unreflektierte Handlung das Unglück heraufbeschwört. Dabei wird auch immer wieder die Frage von Schuld und Verantwortung, Autonomie und Fremdbestimmung in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern, hier insbesondere auch Müttern und Töchtern, in verschiedenen Konstellationen thematisiert.

Die Sprache ist nüchtern und unprätentiös, und erfasst so auch in der Stimmung die Situation angemessen und präzise.

Halbe Leben von Susanne Gregor ist ein sehr gutes und schwieriges Buch zugleich. So präzise und differenziert wie die Autorin analysiert und formuliert, so bedrückend sind die Einschränkungen der Leben für alle Protagonistinnen und der gesellschaftliche Missstand, dass wir bisher keine wirklich gute Lösung für die letzte Lebensphase unserer Lieben gefunden haben. Um so wichtiger ist dieser auch dramaturgisch gelungen erzählte Roman, der zum Nachdenken über unbequeme Wahrheiten anregt! Unbedingt lesen!

Bewertung vom 03.02.2025
Shanghai Story
Min, Juli

Shanghai Story


sehr gut

Eine asiatisch-kosmopolitische Familiengeschichte in Episoden, rückwärts erzählt

Eko und Leo, ein japanisch-chinesisches Ehepaar lebt mit den Töchtern Yumi, Yoko und Kiko in Shanghai. Leo ist als Bauunternehmer ausgesprochen wohlhabend und kann seiner Familie ein kosmopolitisches Leben im Überfluss ermöglichen, Häuser auf der ganzen Welt, teuere Privatschulen und Universitäten in den USA, Geld spielt keine Rolle. Ausgehend vom Jahr 2040 blickt der Roman rückwärtsgewandt hinter die Fassade dieses Lebens und zeigt eine Familie in Selbstauflösung in der jedes Mitglied auf seine Art leidet, versucht dem zu entfliehen und zu oft dabei scheitert. Erzählt wird dies mit dem Fokus auf einzelne Familienmitglieder in den jeweiligen Kapiteln, bereichert durch die Perspektiven Außenstehender, die der Familie jedoch nahe stehen, wie etwa der Chauffeur.

Wirklich bereichernd und interessant war für mich die Darstellung der Vergangenheit und Familiengeschichte von Eko und Leo, die so auch Einblicke in die bewegte Geschichte der Bevölkerung Chinas und Japans liefert. Auch der gesellschaftskritische Blick der Autorin, insbesondere in Bezug auf die Rolle der Frau in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hat mir sehr gut gefallen. An verschiedenen Figuren zeigt Min wie Frauen in allen kulturellen Gesellschaften im Roman, und über alle Dekaden, diskriminiert werden, ihnen Gewalt angetan wird und noch immer Schönheitsidealen unterworfen werden.

Insgesamt will der Roman für mich jedoch etwas zu viel. Jede der Schwestern und auch das Elternpaar hadert auf ihre Art mit dem Leben, die ganze Familie ist von dysfunktionalen Mustern durchzogen. Dies ist natürlich nicht völlig unrealistisch, trotzdem wirkt es stellenweise überladen. Die lange Rückwärtserzählung mit einzelnen Schlaglichtern der Geschichte aus verschiedenen Perspektiven ist grundsätzlich gelungen. Echte Tiefe, die die Dysfunktionalität näher ergründet zeigt sich für mich dadurch jedoch etwas zu selten. Wenn auch die Konstruktion des Romans Stück für Stück Erklärungen liefert und wie ein Puzzle das Bild und die Ursprünge der dysfunktionalen Familie zusammensetzt, bleiben einige weiße Flecken.

Sprachlich ist der Roman flüssig geschrieben, die Autorin findet stellenweise sehr starke, eingängige Bilder. Die Perspektivwechsel der Erzählstimme innerhalb eines Kapitels waren für mich jedoch nicht immer stimmig.

Für mich war Shanghai Story ein unterhaltsamer, kurzweiliger Roman, der mich nach Shanghai und das Leben dort entführt hat und Einblicke in Lebenswege in dieser Region vermittelt. Die Rückwärtserzählung in Episoden ist für mich nicht vollständig gelungen, da insgesamt zu viele Leerstellen verbleiben. Insgesamt sehe ich in der Autorin jedoch einiges an Potential und freue mich auf ihren nächsten Roman!

Bewertung vom 01.02.2025
In einem Zug
Glattauer, Daniel

In einem Zug


ausgezeichnet

Ein Kammerspiel über die Liebe im 4er Abteil von Wien nach München

Eduard Brünhofer ist ein bekannter Autor von Liebesromanen, sein letzter Erfolg liegt jedoch schon mehrere Jahre zurück, so wie für den alternden Autor auch die Zeit vergangen scheint, in der er die Aufmerksamkeit jüngerer Frauen erregt. Umso mehr wundert er sich auf der Zugfahrt von Wien nach München über die interessierten Blicke seiner Sitznachbarin schräg gegenüber. Catrin Meyr heißt die junge Frau, die Brünhofer schließlich anspricht und so ein (Frage)Spiel zwischen den beiden entspinnt, dem sich Brünhofer nach anfänglichen Vorbehalten nur schwer entziehen kann. Zu klug, nachforschend, zuweilen übergriffig und trotzdem interessant sind die Fragen der Frau, die mit dem Autor unbedingt über die Liebe sprechen möchte.

Pointiert, amüsant, mit scharfer Beobachtung und viel Wortwitz unterhält dieses Kammerspiel zwischen zwei Fremden mit einem temporeichen Wortwechsel. Darin finden sich neben dem eigentlichen Gespräch über die Liebe, Beziehungen und deren Herausforderungen, auch zahlreiche Gedanken über das Zugfahren, ältere Männer und nicht weniger als das Leben.

Das Ende hält noch eine echte Überraschung bereit, auch wenn die Zugfahrt nach meinem Geschmack noch etwas länger hätte dauern können! In einem Zug ist ein kurzweiliger, typischer Glattauer-Roman, der viel zu schnell vorbei ist!

Bewertung vom 14.01.2025
Empathie und Widerstand
Lunz, Kristina

Empathie und Widerstand


sehr gut

Ein inspirierender, feministischer Blick auf die Weltpolitik

In Empathie und Widerstand wird Kristina Lunz persönlich! Im Einleitungskapitel gibt die Autorin informative Einblicke in ihre Herkunft, Prägung und damit auch ihren Antrieb für eine feministische Außenpolitik und gerechtere Gesellschaft und damit letztlich auch für ihr Verständnis von Empathie und Widerstand als Weg dorthin. Versiert, informiert und leicht verständlich analysiert Lunz die Begriffe Empathie und Widerstand und macht diese für den Weg zu ihrer Utopie - einer gerechten Welt und Weltordnung - fruchtbar. Bereichert wird dieser Blick und die Analyse Lunz‘ durch die Porträts empathischer und widerständiger Frauen am Ende des Buchs, sowie immer wieder Einblicke in ihre berufliche Tätigkeit und Erfahrung weltweit.

Empathie und Widerstand ist gut recherchiert, doch kein klassisches Sachbuch. Es ist eher ein sehr persönliches Essay, in dem die Autorin ihre Haltung herleitet, erläutert und daraus ein inspirierendes Plädoyer ableitet.

Der Stil war für mich stets ausgewogen, zugänglich, abwägend ohne dabei zu relativieren und die innere Haltung zu verlieren. Man könnte sagen, auch im Verfassen des Buchs bleibt die Autorin dem Geschriebenen treu.

Etwas irritierend waren für mich die eigenen Lobpreisungen im Einleitungskapitel. Ich kann mir vorstellen, dass dies fast ein Reflex ist, wenn man sich als junge Frau in Lunzs Position tagtäglich in einer noch immer männlich-ego-dominierten Welt durchsetzen, seinen Platz in diesen Reihen trotz der unstreitbaren Kompetenz rechtfertigen muss. Einige Ausführungen waren für mich zudem etwas zu repetitiv. Dies schmälert den Wert dieser Publikation und insbesondere ihren inspirierenden Charakter jedoch kaum! Ein inspirierendes Buch von einer inspirierenden Frau!

Bewertung vom 07.01.2025
Das Erwachen / Dirty Diana Bd.1
Besser, Jen;Feste, Shana

Das Erwachen / Dirty Diana Bd.1


weniger gut

Einblicke in ein amerikanisches Vorstadt-Ehefrauen-Dasein - leider ohne echte Tiefe

Diana ist 41 und lebt ein fast schon klischeehaftes Vorstadtfrauen-Dasein in Texas: Künstlerin, verheiratet mit dem erfolgreichen, liebenswerten und gut aussehenden Oliver, glückliche Mutter der kleinen Amy, zwei Mal wöchentlich Tennisstunden, Frauen und Kinder auf Playgrounds am Wochenende… Und recht klischeehaft ist leider auch die Story des Romans. Diana ist unglücklich in ihrer Ehe, den Sex mit ihrem Mann lässt sie über sich ergehen und versucht ihn so gut wie möglich zu vermeiden. Selbst ihren Freundinnen vertraut sie sich nicht an. Ihre Sehnsucht nach mehr zeigt sich in ihrem heimlichen sexuellen Verlangen, das sie aus Erinnerungen an leidenschaftlichen Sex und Träumen davon speist. Genährt wird diese Sehnsucht durch ein altes Kunstprojekt Dianas: Tapes mit Interviews in denen Frauen von leidenschaftlichen sexuellen Erfahrungen berichten. Diese Interviews dienten Diana einst als Vorlage und Inspiration für ihre Bilder. In der Gegenwart entfachen diese Tapes erneut etwas in ihr und sind im Roman eine zentrale Quelle der zahlreichen, ausführlich geschilderten Erotikszenen.

Für mich war das Buch nur schwer auszuhalten, so interessant wie der Einblick in ein solches Leben sein mag, so sehr habe ich mich zunehmend gefragt, warum reden die Figuren nicht miteinander? Und warum geht es die ganze Zeit nur um Sex?

Genug Potential für einen ernsthaften Roman hätte es sicher gegeben. Probleme in langen Beziehungen, wenn Alltag und Routine echte Intimität und Nähe zersetzen, das Tabu oder wahlweise die Fetischisierung weiblicher Lust in unserer Gesellschaft, das Überschreiten persönlicher Grenzen von Frauen, um Männern (und auch Ehemännern) zu gefallen, etc. Doch Dirty Diana geht Themen nicht nach, wagt sich nicht in die Tiefe partnerschaftlicher Dynamiken und der persönlichen Entwicklung. Stattdessen werden die tieferliegenden Konflikte und Probleme der Figuren und Partnerschaft im Roman auf Sex reduziert. Sex als Problem der Beziehung und Sex als Lösung. Mir war das leider zu wenig.

Der Roman ist flüssig geschrieben und findet sicher seine Fans irgendwo zwischen Desperate Housewives und 50 Shades of Grey. Mich konnte er leider überhaupt nicht erreichen.