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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Ninis_weltderbuecher
Wohnort: 
Viernheim

Bewertungen

Insgesamt 35 Bewertungen
Bewertung vom 21.10.2023
Lichtspiel
Kehlmann, Daniel

Lichtspiel


ausgezeichnet

"Es ist die Geschichte des Regisseurs G. W. Pabst: Kinogenie, Emigrant, Rückkehrer in Hitlers Reich; ein Roman über Kunst und Macht, über Angst, Verführung und über das Böse." (Klappentext)

Das ist schlicht und einfach Weltliteratur auf aller höchstem Niveau! #danielkehlmann hat mit #lichtspiel
ein Werk der Extraklasse geschrieben - wieder einmal ein Wurf der ganz besonderen Art!

Dass #danielkehlmann Schreiben kann wie ein Erzählgigant, ist für mich unumstritten - wie kommen all diese Bilder in seinen Kopf, wie schafft er es nur die Wirklichkeit so einzufangen, dass sie zu einem beeindruckenden, fiktionalen Zeitdokument wird. So gerne würde ich mich darüber mal mit ihm unterhalten! Er schafft aber noch etwas weiteres, was nicht jeden Schriftsteller*innen gelingt: es scheint, als stecke er alles, was in ihm ist, mit einer schier immensen Intensität, die nichts an einer sprudelnden Leichtigkeit einbüßt, in all seine Werke, so dass jeder dieser einfach Weltliteratur werden muss. Dabei übertrumpht er durch Innovation irgendwie ein wenig den davor geschriebenen Roman, ohne ihn aber in seiner Kanonberechtigung zu mindern, denn alles zu seiner Zeit - alle gehören zum Kehlmannrad und so viel mehr können in ihm noch Platz finden.

Mit #lichtspiel schenkt er den Augen in der Welt ein Werk eines Mitläufers - brandaktuell wichtig. #dervorleser von #bernhardschlink öffnete mir 2001 eine Welt, warum ein Mensch aus einer ausgegrenzten Schicht zum Mitläufer, gar zum Täter wurde. Hier öffnet sich mir eine Welt, warum ein Mensch aus einer Kunstoberschicht der Reichen und Schönen zum Mitläufer wird. Wichtige Geschichten von denen man lernen kann, und die erzählt gehören, nur nicht jeder kann das, aber ein Schlink und Kehlmann schon!

"'Oder wir sterben', sagte sie. 'So schlimm wäre das auch nicht. Es sind so viele gestorben. Es fällt kaum ins Gewicht.' 'Ja', sagte er. 'Oder wir sterben.'
So standen sie, hielten sich aneinander fest und warteten." (S.450)

Durch böse Mächte sterben oder nicht? - das scheint nicht nur die Frage der Stunde, es scheint ein sich inmer drehendes Rad. Wann stoppen wir Menschen dieses endlich?

Lesen - auch bitte an den Schulen!

Bewertung vom 27.08.2023
Tasmanien
Giordano, Paolo

Tasmanien


weniger gut

"Paolo ist auf der Suche. Seit er weiß, dass er niemals Vater sein wird, ist er, Journalist und Autor, unterwegs. Immer verzweifelter beschäftigt er sich mit den heutigen Katastrophen, mit Klimawandel und Terrorismus. Auch die privaten Dramen seiner Freunde treiben ihn um." (Klappentext)

Der Corriere della Sera schreibt, dass das Lesen des Romanes #tasmanien
von #paologiordano ein absolutes Muss sei, dieser Meinung schließe ich mich nicht an. Man kann, aber man muss nicht. Man wird einen Mehrwert finden, der aber ohne nachzuhallen kurzweilig bleibt.
Paolo ist eine konturlose Figur, die das Geschehen mit einer mir äußerst unsympathischen Haltung bezüglich des Kinderwunschthemas eröffnet - er läuft patzig beleidigt wie ein trotzendes Kleinkind weg, als seine Frau ihm verkündet, dass sie die seelischen und physischen Strapazen nicht noch einmal auf sich nehmen kann und wird. Mit vor Ignoranz glänzendem Hauptes trottet er von dannen, flüchtet vor dem Platzen seiner ganz persönlichen Atombombe, an deren Fäden er sich innerehelich gewaltig die Finger schmutzig macht und gemacht hat. Verantwortung ist für ihn ein Fremdwort und es wirkt, als sei Tasmanien der letzte Ort, der es ihm noch ermöglichen könnte, so weiter zu machen wie bisher, nämlich zu nichts und niemandem - nicht einmal zu sich selbst - Stellung zu beziehen!

Tasmanien bleibt durchweg ein Konstrukt und Leser*innen suchen vergeblich ein Bild für diesen Ort hinter all den Wolken. Wolken, die über uns alle hinwegziehen, uns Angst machen - die Sicht vernebeln! Diese Wolken sind eine gut gewählte Metapher für all die Themen, die uns in der jetzigen Welt zu erdrücken drohen. Nur leider packt der Autor zu viele dieser Themen in diesen Roman, so dass er mit Schwerfälligkeit beladen sich zu einer schwammigen Wolke entwickelt. Keines der Themen werden auserzählt - die schwammige Wolke darf nicht einen einzigen klärenden Regentropfen verlieren. Sie werden zurückgehalten von einer gewissen Nüchternheit im Klang der Erzählstimme, die mit kurzen, hartbröckeligen Satzkonstellationen Gefühle in sich eingeschlossen hält.

Bewertung vom 27.07.2023
Schönwald
Oehmke, Philipp

Schönwald


ausgezeichnet

"Was niemand berichtet, ist vergessen." S. 104

Der Roman #Schönwald von Philipp Oehmke ist von der ersten bis zur letzten Seite ein Pageturner - komponiert wie eine mit Stimmungen bezirzend aufwühlende Sonett. Erzersetzt behutsam zuspitzend die Überlebensstrategie des 'Alles unter den Teppich Kehrens' der Wohlstandsfamilie 'Schönwald' in seine Einzelteile. Selbst einer Wohlstandsfamilie entsprungen kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass diese Überlebenstrategie in diesen Kreisen ein weit verbreitetes, allgemein anerkanntes Motto ist.

Doch was passiert, wenn das Brett auf dem die Familie thronend über seine eingemauerten Lebensgewässer treibt, zu wackeln droht? Die Mauern sind zu dicht zum Brechen, um auf einer neuen Wasserstraße von dannen ziehen zu können. Was passiert? Alle verlieren ihren vorgegaukelten Halt, werden nass und verlieren ihre Besen.

Doch worin liegen denn nun einschneidende Probleme mancher Wohlstandskinder und sind sie berechtigt als traumatisch angesehen zu werden?
Sie liegen oft in der emotionalen Verwahrlosung seitens Eltern, die egozentrisch um sich selbst kreisend auf ihren Bällen tanzen und täglich ergobenen Hauptes vorgaukeln, keine Zeit für elementare Stützpfeiler ihrer Heranwachsenden zu haben. Ihr Leben ist dann geprägt von einem nutzlosem Warten, Warten und wieder Warten - auf ein Nichts, auf etwas, was nicht eintritt. Und ein klares JA darauf, dass diese Probleme traumatisch sind, denn sie hinterlassen Wunden, die bis ins hohe Erwachsenenalter offen bleiben.

Von diesen einschneidenden Erlebnissen singt das Trio aus der Hölle ein bewegendes Lied: Chris, der ehemalige Literaturprofessor, Benni, der Hochbegabte, der eine Millionärin geheiratet hat und Karolin, die in Berlin einen queeren Buchladen eröffnet. Sie leiden jeder für sich allein an den Wunden, genießen aber geneinsam ein #mutualunderstanding - ein gegenseitiges Sehen und Verstehen, ohne dass es vieler Worte bedarf. Ein Gefühl, dass ich kenne, da es mich mit meinem verstorbenen Bruder verband und immer verbinden wird sowie es sich mit rasanten Schritten zwischen meiner Schwester und mir entwickelt, da wir nichts mehr unter den Teppich kehren.

Dem Trio aus der Hölle fehlt es wie vielen anderen, die das Erbe von mit Halbwahrheiten sich selbstinszenierend lebenden Eltern tragen müssen, an Urvertauen und halten sich an dem hilflosen Gedanken fest auf Gedeih und Verderb "einfach nicht glücksbegabt" (S. 518) zu sein.
Dieses Trio wickelt um sich ein undurchdringbares, Leser*innen zu tiefst berührendes Band - trotz großer Altersunterschiede, trotz voneinander enorm gespreizter Chrakterwelten sind die Geschwister immer füreinander da, wenn der eine den anderen braucht, unabhäbgig davon in welchen Lebensituationen sich die anderen zu diesem Zeitpunkt befinden. Dies geschieht aus ganz und gar intrinsischer Ehrlichkeit - an keiner Stelle ist hierbei eine Art Pflichtbewusstsein zu spüren. Beeindruckend!

Ich danke dem Autor, dass er mit diesem Geschwistertrio der Schönwalds den traumatischen Wunden von Wohlstandskindern eine Stimme gibt.

Bewertung vom 03.07.2023
Idol in Flammen
Usami, Rin

Idol in Flammen


sehr gut

Dieser mit seinen nur 123 Seiten sehr schmale Roman #idolinflammen von #rinusami, erschienen im @kiwi_verlag, entzündet das lezte Streichholz aus einer Schachtel - einen Nachschub wird es nicht geben, mit dem Erlischen der Flamme ist die Lektüre beendet sowie die Psyche eines jungen Menschens, die sich mit den Rauchschwaden eint und im Nirgendwo verendet.
Begeistert las ich, dass wieder einmal mein Idol #peterpan eine Rolle in einem modernen Roman einnimmt - wie die Protagonistin Akari träume ich mich zeitlebens ins Nimmerland und wollte als Heranwachsende ebenso unter keinsten Umständen Erwachsen werden. Nun ist Peter Pan aber eine fiktive Figur aus einer phantasiegeleiteten Welt ausserhalb der Realität, die in ihrer Funktion als Idol klare Grenzen steckt. Akaris Idol hingegen ist aus Fleisch und Blut und wird durch die sozialen Medien, der Pop-Industrie sowie den Fans heroisiert - Fehlverhalten ausgeschlossen! Diese Non-Fiktionalität ihres Idols lässt sie eins werden mit ihm, denn unbemerkt legen sich wuchernd Wirbel, Knochen und Fasern seiner DNA an ihre Wirbelsäule, so dass sie ihren Körper nicht mehr alleine trägt.

Die Autorin findet beeindruckende Bilder für Depression, Labilität, rinnender Angstschweiß, für die in die enge treibende Macht von Autoritätspersonen, für Ohnmachtszustände in der Adoleszenphase, für Defizithaltungen und vieles mehr - eine Autorin mit ganz viel Gefühl. Einzig oftmals auftauchende abgehakte Sätze unterbrachen mit zunehmend nervender Kraft Lesewellen des Abtauchens - an diesen Stellen hätte ich mir mehr Tiefe gewünscht.

Der Spannungsbogen läuft wie das Abbrennen eines Streichholzes zielgerichtet auf den Showdown zu, der realer nicht sein könnte.

"Bitte nicht. Nehmt mir nicht meinen Mittelpunkt, meine Wirbelsäule. Ohne Masaki kann ich nicht weiterleben, wirklich nicht. Dann erkenne ich mich selbst nicht mehr, akzeptiere mich nicht mehr. Tränen strömen wie Angstschweiß über meine Wangen. Gleichzeitig tröpfelt Urin lächerlich plätschernd in die Toilettenschüssel. Ich fühle mich allein. Meine Knie schlottern vor kaum auszuhaltender Einsamkeit.(...) Ich bin nicht ich, wenn ich nicht Masakis Fan bin. Ein Leben ohne ihn ist nur noch ein Warten auf den Tod." (S.111-112)

Bewertung vom 03.07.2023
So weit der Fluss uns trägt
Read, Shelley

So weit der Fluss uns trägt


schlecht

Ja dieser Roman und ich das ging nicht. Lavendelfarbener Himmelskitsch reizten mir die Augen und verschlossen mir die Sicht. Da ging nichts mehr, da regte sich nichts in mir, da blättere ich einfach nur gelangweilt weiter und musste irgendwann abbrechen. Schade, ich hatte etwas anderes erwartet.

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Bewertung vom 08.06.2023
Die einzige Frau im Raum (eBook, ePUB)
Benedict, Marie

Die einzige Frau im Raum (eBook, ePUB)


gut

Der biographische Roman über #dieeinzigefrauimraum von Marie Benedict ist literarisch eher im Flachland beheimatet und läuft trotz der zu spürenden Fleißarbeitrecherche der Autorin ohne tiefgründige Umwege durchgehend auf gerader Strecke im schnurstraksen Tempo Richtung Ziel. Da mangelt es an Bildern, Stimmungen, Überraschungen, hitzigen Dialogen, wallend zum Tanz geschwungenen Hüften, erlebten und verschenkten Gefühlen sowie an die Sinne animierenden Schwankungen, die eine Entführung in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts hätten entfachen können.

So bleibt dieser biographische Roman eine interessante, sachlich klar durchstrukturierte Nacherzählung über das Leben einer beeindruckenden Frau. Leser*innen begleiten die Filmstardiva mit all ihren unterschiedlichen Masken auf die größten Filmbühnen der damaligen Welt sowie in die zahlreichen Umkleiden, in der sie sich ihrer Masken niedersetzend entledigte, um auf das Geschehen in der Welt mit forschender Klarheit blicken zu können- mit einem Blick geführt vom innersten Wesenkern, einem Blick mit suchenden Erfinderpupillen, einem Blick mit gespitzten Denkesfalten, einem Blick, der mit Pralinen wedelnd zum Eintreten in die Geniewelt der #hedykiesler einlädt.

Lieben Dank an den @kiwi_verlag für das #rezensionsexemplar

Bewertung vom 08.06.2023
Als wir Vögel waren
Banwo, Ayanna Lloyd

Als wir Vögel waren


sehr gut

Was kann Literatur bei einem Schreibenden berührenderes anrichten, als ihn selbst zum Schreiben, zum Kreieren von Wortverbindungen zu animieren? Nach mir - nichts! Das ist für mich das Höchste der Gefühle - abtauchen in einem Zustand, der so kribbelt, dass man einfach schreiben muss. So entstand dank #alswirvögelwaren von @ayalloydbanwo - erschienen im @diogenesverlag - der folgenden Text von mir:

Federn fallen einfach so und ändern die Richtung.
Federn kitzeln nervend und streicheln die Schmach.
Federn schmeicheln der Haut und strahlen, auch wenn sie manchmal ungeahnt verblassen.
Federn fliegen von da nach da und erzählen was von der Welt.
Federn verwandeln eine Tristesse in ein zu fühlendes Bunt aus gelebten, lebenden und noch kommenden Federn. (Nini Pachner)

Zwei unterschiedliche Erzählstimmen flattern gemächlich durch die Geschichte, suchen einen gemeinsamen Blick, um sich die Hände für einen lebenslangen Tanz reichen zu können. Darwin spricht Pointen setzend in nüchterner Klarheit, Yejide hingegen verzaubert und fordert den Lesenden in jedem Satz mit einer musterumschweifenden, bildhaft bunt fruchtverpudernden Sprache.
Der Roman ist kein Pageturner, aber pustet behutsam zwitschernd die Seiten so um, als wären sie unvergänglich. Er ist wie eine streichelnde Windbrise, die Dir Deiner aufgeglühten Haut eine zarte Gänsehaut schenkt. Genussvoll abgekühlt verlangt die Lektürebrise nach einer Pause, in der man das Buch zur Seite legt, um sich sudelnd den wärmenden Sonnenstrahlen widmen zu können. Ausgestreckt flanierend wird so lange über Gelesenes gegrübelt bis Federn deine Augen bepustend das Weiterlesen anstacheln.
Ein Lesevergnügen wie erholsam dahinplätschernde Strandtage, die ohne Hast und Sogkraft verlebt werden. Ich könnte so viele Sätze aus dem vogelzwitschernd bezirzenden Sprachuniversum der Autorin zitieren. Ich konnte mich auf zwei festnageln.

Die Toten - 'Neutote' und 'Alttote' - erhalten in dieser Geschichte ein Leben - ein Leben danach, mitten unter uns.

"Die Luft ist weich und klar, und alle Lebenden und alle Toten kommen zur Ruhe wie eine alte Frau, die in ihrem Schaukelstuhl auf der Veranda sitzt und sich die Röcke richtet." (S. 327)

Das ist ein so plastisch gefühlvolles Bild für einen lebendigen Einklang mit dem Leben und dem Tod. Mir war als säße ich neben der alten Frau im Schaukelstuhl auf der Veranda, die mir Kopf nickend die Hand hielt und zu mir sagte, dass alles, aber auch alles weiter geht, so wie es sein soll.

Ins Staunen versetzt hat mich ebenso das elegante, kraftvoll vor Lust strotzende Spracherzählspiel von Yejide über den ersten Sex der beiden.

"Sie fühlt sich geschwollen, mit mehr Wasser beladen, als ihr kleiner Körper fassen kann, und er geht zwischen ihre Schenkel und trinkt ihren Regen in sich hinein, und das Bettfloß reißt sich von seiner Vertäuung, und er immer schneller und tiefer und mehr und mehr, bis ihr Körper über die Ufer tritt und die Welt überschwemmt." (S.271)

Wie kann man nur so gute Worte finden für diesen Akt?, später schreibt Ayanna Lloyd Banwo von 'Welten Zwischen ihren Schenkeln' - ja genau, hier ist mit diesem Debütroman eine neue Sprachkünstlerin mit einer ganz eigenen, beeindruckenden Welt geboren. Sicherlich wird da noch so einiges kommen. Ich freue mich drauf!

Bewertung vom 06.05.2023
22 Bahnen
Wahl, Caroline

22 Bahnen


ausgezeichnet

Oh Mann, wie stark konnte ich mich wiederfinden im Erleben der drei immer wiederkehrenden Komponenten von Tildas 'Sich-nur-im-jetzt-Fühlens'. Ein Jetzt, in dem man alle Scheiße vergessen kann.

Beim Schwimmen - im gleichmäßigen Wechselspiel aus kraftvoll elegant greifenden und energetisch gleitend treibenden Bewegungen im Wasser eines Beckens, das in seiner zeitlich unaufgeregten Gleichförmigkeit Bahn für Bahn das alles vergessene Jetzt erzeugt. Bei mir sind es immer genau 33.
Beim Lesen - dem angstvollem Wissen darüber, daß alles im Leben schwinden kann, dass eventuell nichts Bestand hat, entgegne ich wie Tilda mit dem Lesen von Büchern. Was auch immer mit einem Buch geschieht, den verinnerlicht wahrgenommenen Inhalt kann dir niemand nehmen.
Beim Tanzen - nach anfänglicher Nervosität das melodische Tempo erspüren, die Musik durch jegliches Raster deines Körpers fallen lassen, die Außenwelt vergessen, dich vom Jetzt beherrschen lassen, dann gibt es kein bewusstes Aufhören mehr.
Ich war bei jeder Zeile Tilda so angezogen nah. Das Nur-im-jetzt-Leben gelingt mir zusätzlich noch beim Schreiben - Tilda in der Mathematik.

@carowahl erzählt in ihrem Debütroman #22bahnen in klarer Taffheit mit einem modern humorvoll, galant ungeschminktem Klang eine Geschichte, die unter die Haut geht, die durch das Auftauchen eines Gleichgesinnten neue Strömungen durchbrechen wird, ohne dabei aber die Bahn zu wechseln.Es ist eine Geschichte, die von einer uneingeschränkt bedingungslosen Geschwisterliebe lebt - nichts kann diese erschüttern. Die zwei Schwestern balancieren - gemeinsam sich behauptend - in einem Alltag voran, der geprägt ist durch ein familiär desaströs soziales Kapital, und strotzen dieser Tatsache erfolgreich mit Schlupflöchern, die sie suchen und finden.

"Und es sind Momente wie diese, in denen ich begreife, dass ich garnichts bereue und auch mit niemanden tauschen will. Ich lache laut, und Ida lächelt, weil sie sich freut, dass ich nicht mehr weine, dabei weine ich immer noch, aber ich lache auch laut, weil ich Ida habe und Ida mich hat." S. 73

Da ist der eine immer für den anderen da!!

Bewertung vom 22.04.2023
Melody
Suter, Martin

Melody


ausgezeichnet

"In einer Villa am Zürichberg wohnt Alt-Nationalrat Dr.Stotz, umgeben von Porträts einer jungen Frau. Melody war einst seine Verlobte, doch kurz vor der Hochzeit - vor über 40 Jahre - ist die bezaubernde Buchhändlerin verschwunden. Von der lebenslangen Suche nach ihr, erzählt er dem jungen Tom Elmer, der seinen Nachlass ordnen soll." Klappentext

Nehmen Sie neben Martin Suter in einem Café mit unscheinbar winkendem Ambiente Platz und reservieren den kleinen Tisch fortlaufend für die gewünschte Lesezeit, denn er kann es einfach wie kaum ein anderer - das zeitlos elegant mitreißende Erzählen. Eine Ménage-à-trois aus Suter, Melody und Ihnen wird beginnen, die Sie selbst in den vom Alltag erzwungenen Lesepausen nicht loslassen wird. Stets das Bild von Melody vor Augen werden Sie jede Gelegenheit nutzen, um zielstrebig im hurtig galantem Gang den reservierten Platz zu erreichen. Sogerzeugend spielt die Geschichte bis zur lezten Seite gradwandelnd mit dem fadenbreitem Spalt zwischen Dichtung und Wahrheit rund um das eigene Leben.

"Es geht ja letztlich immer um die Frage: Will man sich das Leben nach dem einrichten, was man glaubt, oder will man das, was man glaubt, nach dem einrichten, wie man lebt?" S.257

Was soll ich noch schreiben über diesen wundervollen Roman? Ich kann erzählen von meinem leidvollen Tag, den mir Melody bereitet hatte. In zitternder Haltung nahm ich nach einer einstündig versunkenen Lesefahrt verzweifelt das Halten der Straßenbahn an meinem Arbeitsplatz wahr - oh, nein, Spannung pur und achtzehn Seiten fehlten, wie sollte ich bloß die kommenden acht Stunden überleben? Stromgesteuert wandelte ich durch den Tag, bis ich mich Tüten und Taschen bepackt endlich auf einen ergatterten Platz in der überfüllten Straßenbahn fallen und mir Melody mit schnippisch lächelndem Gesicht ihre Geschichte zu Ende erzählen konnte. Was eine Wonne -was ein Glück, dass es Literatur gibt, die Dich einfach wegträgt.

Merci Monsieur Suter, mit strahlendem Lächeln schiebe ich dieses Buch voller Begeisterung täglich über den Ladentresen.

Bewertung vom 10.04.2023
Unsichtbar
Moreno, Eloy

Unsichtbar


ausgezeichnet

#Unsichtbar ist der erste von Eloy Morenos fünf Romanen, die allesamt Bestseller waren, der auf Deutsch erscheint, und begeistert mit phantasievollen Bildern für schier unaushaltbare Schmerzen, die - einmal hervorgerufen - unentwegt zäh die Selbstachtung der Leidenden zu erlischen drohen.
Da ist ein Igel, ein Elefant und ein Drache, die mit allegorischen Inhalten befüllt werden. Ganz dezent mit Leichtigkeit spielt der Autor mit Sprache und spricht mit seiner brandaktuellen Geschichte jegliches Alter an. Einfühlsam gelingt es ihm, nicht nur den Blick auf das Mobbingopfer zu lenken, sondern auch dem Täter das Wort zu schenken. Ist er nur Täter oder auch ein Opfer? Nimmt ihn jemand in den Arm? Fehlt ihm etwas essentielles im Leben, um es mit Selbstachtung führen zu können? Was lähmt ihn, was treibt ihn in die Wut? Beides sind Kinder mit traurigen Geschichten, Geschichten die überall auf der Welt in haaressträubender Häufigkeit mitten unter uns sind, die kaum einer sehen will, die kaum einer an sich heran lassen will, denn dies kostet Anstrengung. Wann ist die Gesellschaft so ignorant geworden? Was ein Glück, dass es manchmal Lichtblicke gibt - wie hier die unfassbar kluge Lehrerin mit ihrem Drachen im Rücken. Bitte mehr davon. Unsichtbar ist man nur, wenn einen keiner sehen will - jeder der wegschaut landet auf der Liste der Schande!!

"Er weiß noch nicht, was er im Sommer tun wird, wenn alle diese Male zu sehen sind und jemand ihn fragt, warum in einem so jungen Sternbild so viele schwarze Löcher gähnen..." (179)