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Andrea Potzler
Wohnort: 
Salching

Bewertungen

Insgesamt 28 Bewertungen
Bewertung vom 12.11.2020
Pirouetten
Walden, Tillie

Pirouetten


ausgezeichnet

Jeden Tag aufs Eis- hier eine Pirouette, da ein Sprung. Die Illustratorin Tillie Walden war als Jugendliche beim ambitionierten Eiskunstlauf. Aufgeben war für sie für lange Zeit keine Option. Mit diesem Sport, aber auch ihrem Erwachsenwerden und ihrem Coming-out setzt sie sich in “Pirouetten” auseinander.

Tillie Walden war schon mit fünf klar, dass sie auf Mädchen steht. Welche eher einschichtige Form der Weiblichkeit ihr beim Eiskunstlauf vorgelebt wurde, wurde ihr aber erst viele Jahre später klar. Vermutlich hat auch diese Erkenntnis wesentlich dazu beigetragen, dass sie beschloss, nun aber endgültig mit dem Eiskunstlauf aufzuhören. Trotz vieler Preise und Erfolge. Sie beschreibt, wie sie sich kaum zum Training aufraffen konnte. Um sich doch aufzuraffen, ging sie schon in der Eislaufkleidung ohne Zudecke schlafen und kühlte das Zimmer. So schlief sie schlecht, schaffte es aber zum Training.

Tillie Waldens Blick auf ihr eigenes Leben ist oft erstaunlich nüchtern. Da kommt viel von der Härte zum Tragen, die sie wohl auch im Training erlebt hat. Durchhalten, weitermachen, nicht zimperlich sein. Es hat auch etwas rein Faktisches, wenn sie erzählt, dass ihre Eltern die einzigen Eltern waren, die bei Wettkämpfen nicht jubelnd dabei waren.

Die Graphic Novel ist durchgehend in Blautönen mit etwas Gelb gehalten. Wunderbar stellt Tillie Walden in schlichten Bildern dar, wie sie wieder und wieder aufs Eis geht. Das wird mir als Leser nie langweilig, aber es wird klar, welche Mühe es für sie ist. Ungeschönt zeigt sie, wie sie sich weder in das vorherrschende Ideal der geschminkten, gestylten Eiskunstläuferinnen einfinden kann noch sonst leicht dazugehört.

Die eigentliche Geschichte des Buchs ist die der Selbstfindung und des Erwachsenwerdens. So ist die Graphic Novel auch für solche Leser eine wunderbare Lektüre , die dem Eiskunstlauf nichts abgewinnen können.
potzblog.de

Bewertung vom 12.11.2020
NILS
Garanin, Melanie

NILS


ausgezeichnet

Grauenvoll muss es sein, wenn eins der Kinder schwer krank ist und stirbt. Der Autorin und Illustratorin Melanie Garantin geschieht genau das. Nils, der jüngste ihrer vier, erkrankt an Leukämie. Nach dem Tod von Nils setzt sie sich in dieser Graphic Novel auseinander- mit ihm, ihren Gefühlen, den Ärzten, der Familie. So viel kommt da hoch und wird eindrücklich dargestellt: die Wut und die Trauer, aber auch die Erinnerung an die lustigen Momente mit Nils.

So ist für eine sehr vielschichtige Graphic Novel entstanden. Als ich das Buch im Laden sah, war sofort klar: muss ich haben! Und ich wurde nicht enttäuscht.

Mir hat Melanie Garanins Zeichenstil sehr gut gefallen- die Aquarelle, die Tuschezeichnungen, das Seitenlayout, das jede Doppelseite anders wirken lässt ohne dass es den Lesefluss stört. Da ist viel Kontinuität durch die sparsame Verwendung der Farben und die leichte Wiedererkennbarkeit der Personen und sogar der Tiere. Alle Figuren sind schlicht gehalten, aber trotzdem leicht wiederzukennen und haben einen großen Charme, ein wenig wie bei “Der kleine Nick”. Auch die Schreibschrift macht das Buch lebendig und persönlich.

Ich habe mitgelitten und mitgeweint, weil hier doch viel sehr schief gelaufen ist und Nils noch am Leben sein könnte. Aber ich hab mich auch gut amüsiert und mich ein bisschen in die gemalte Familie der Illustratorin verliebt. Besonders amüsant fand ich die Onkologen, die allesamt keine gute Figur im Buch machen. Rote Nasen, leicht irrer Blick. All das gelingt ihr mit wenigen Strichen.

Wieder einmal eine Graphic Novel, die sich mit einer persönlichen Erfahrung auseinandersetzt und wo das Thema alles andere als leicht und fröhlich ist. Ich bin wie so oft erstaunt und sehr froh darüber, was diese Form auch an Ernstem transportieren kann. Vielmehr kann ich mir kein besseres Medium vorstellen für diese Geschichte. Und ich bewundere den Mut der Autorin, sie zu teilen.

potzblog.de

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Bewertung vom 30.07.2020
Q-R-T: Nächste Stunde: Außerirdisch
Lutz, Ferdinand

Q-R-T: Nächste Stunde: Außerirdisch


sehr gut

Q-R-T ist ein Außerirdischer, der schon geschmeidige 122 Jahre alt ist. Das hindert ihn aber nicht daran, auf die Erde zu kommen und sich ganz dick mit dem Mädchen Lara zu befreunden. Wo Q-R-T herkommt, hält man nämlich nicht ganz so viel vom Erwachsenwerden wie hier auf der Erde.

In diesem Band geht Lara auf eine neue Schule und Q-R-T ist mit von der Partie als vermeintlicher Austauschschüler. Natürlich mag auch sein verwandlungsfähiges Haustier Flummi mit in die Schule, so dass Streiche und Chaos vorprogrammiert sind. Und Q-R-T wartet natürlich mit überirdischen Heldenfähigkeiten auf, hat ein UFO und kann die Zeit verändern.

Ich habe erst mit diesem zweiten Band angefangen, Q-R-T zu lesen. Auch so habe ich gut den Einstieg gefunden, aber ich glaube, es empfiehlt sich trotzdem mit Band 1, “Q-R-T: Der neue Nachbar” anzufangen.

Freude hatte ich an der differenzierten Sicht auf das Schulleben. Da gibt es nette und schwierige Lehrer, ein klares Feindbild wird nicht gezeichnet. Ein solches entstand oft in den Schulgeschichten, die ich in meiner Jugend gesehen und gelesen habe.

Besonders lustig finde ich die Gesichter der einzelnen Figuren. Jeder hat so einen starken Charakter, den man auf den ersten Blick erkennt. Das Büchlein ist sehr bunt und wuselig, alles ist auf Tempo gebaut. Zu meiner Wahrnehmung von Kindergruppen passt das sehr gut.

Ich werde das Büchlein gleich mal zum Testen befreundeten Kindern überreichen und bin gespannt, ob sie auch soviel Spaß damit haben. Für Kinder, die auf dem Papier schon erwachsen sind, ist es sicher auch eine schöne, frische Unterhaltung.
potzblog.de

Bewertung vom 28.05.2020
Hattest du eigentlich schon die Operation?
Jongeling, Peer

Hattest du eigentlich schon die Operation?


ausgezeichnet

Wenn es ums Thema Transgender geht, kann man einiges falsch machen. Bestimmt habe auch ich schon zu neugierig und zu offensiv jemanden angesehen. Und mich gefragt, ob er Mann oder Frau ist. Kaum jemand kommt diesem Impuls vermutlich aus. Aber was geht es mich eigentlich an? Es sollte im Grunde selbstverständlich sein, dass niemand sein Geschlecht offen nach außen zu zeigen braucht. Was aber alles nicht selbstverständlich ist, zeigt das Büchlein von Peer Jongeling.

Shopping als Albtraum

Der Autor und Zeichner beschreibt in Comic-Kurzgeschichten seine Erlebnisse als Transidentität. Und über solche, die Bekannten und Freunden widerfahren sind. Wie schwierig es sein kann, mit der Kreditkarte zu zahlen, wenn einem keiner den eigenen Namen glaubt. In welche Umkleide soll man gehen, wenn man sich als Frau fühlt, aber in einem Männerkörper steckt? Und warum muss Kleidung das Geschlecht wiedergeben, so dass Shopping zum Albtraum wird? Als eine vermeintlich harmlose Party zu einer Ausfragerei wird, hab ich mich fremdgeschämt.

Die Kommunikation mit Fremden, aber auch Bekannten hakt oft: “Leider trauen sich viele nicht zu fragen. Andere fragen zu direkt”, sagt eine Figur in den Geschichten. Die vielen Alltagssituationen, die als Transperson manchmal schwer zu bewältigen sind, machen die ständigen Herausforderungen deutlich. Wer sich nicht in die gesellschaftlichen Strukturen von männlich und weiblich einordnen kann, fühlt sich ausgeschlossen. Oder zumindest seltsam.

Interessante Charaktere

Ich mag den Zeichenstil des Buchs mit seinen türkisen Strichzeichnungen. Die Figuren wirken so bei aller Einfachheit lebendig – jeder ist ein echter Charakter. “Jeder Mensch ist anders”, sagt eine Figur. Dieser Satz könnte als eine der Kernbotschaften des Buchs dienen.

Sehr viel wird hier auf den Punkt gebracht, man schmunzelt ein bisschen, leidet aber auch mit. Die wenigen Seiten reichen, um eine ganze Menge nachvollziehbar zu machen. Der Spagat zwischen Aufklärung und Unterhaltung gelingt so sehr gut. Gerade eben die Dinge, über die ich mir zuvor noch wenig Gedanken gemacht habe, sind mir jetzt präsent. Gleich die Begriffseinführungen am Anfang des Buchs erklären knapp und gut und sind mit einem fröhlichen Blätterdschungel illustriert. Ich hoffe, dass das Büchlein zu mehr Verständnis und Sensibilität Transpersonen gegenüber führt! Unterhaltsam ist es auf jeden Fall.
potzblog.de

Bewertung vom 18.05.2020
Stig & Tilde: Die Insel der Verschollenen
Radiguès, Max de;Weppen, Annette von der

Stig & Tilde: Die Insel der Verschollenen


sehr gut

Einen Monat auf einer Insel überleben- dieses Initiationsritual muss jeder Jugendliche in Max de Radigués Graphic Novel bestehen. So war es von Alters her, so soll es auch für Stig und Tilde sein. Die Gepflogenheiten haben sich über die Jahre geändert, heutzutage braucht es für die Teilzeitinsulaner nicht mehr die großen Überlebensfähigkeiten. Angedacht ist ein „Überlebenscamp light“, ein nettes Ferienlager. Das ist zumindest der Plan, der natürlich gründlich schief geht…

Auf der Anfahrt verlieren die Zwillinge die Kontrolle über ihr kleines Motorboot und langen auf der falschen Insel an. Dort sind sie allein. Oder zumindest glauben sie das zu Beginn. Während Stig das Boot repariert, erkundet Tilde auf der Suche nach Essbarem die Insel und stößt dabei auf Übernatürliches.

Eine spannende Bettlektüre war mir die Graphic Novel, die an ein gegenwärtiges Robinson Crusoe Abenteuer mit einem surrealen Touch erinnert. Sehr plötzlich fallen die Teenager aus ihren modernen Leben und finden sich in einer archaisch anmutenden Welt wieder. Angedeutet ist das Rohe, Urtümliche auf fast jeder Seite durch die rote Axt, die die beiden stets dabei haben.

Von der Zivilisation ins nackte, archaische Überleben

Hier geht es ums Überleben, darum Fähigkeiten jenseits der Zivilisation zu entwickeln. Für Liebhaber einsamer Wanderungen auch heute ein gar nicht so unrealistisches Szenario. Wenn etwas schief geht, kann man von einem Moment auf den nächsten schutzlos in einem Wald stehen und nicht mehr weiter wissen. Dieser Grusel allein reicht dem Autor allerdings nicht- ein bisschen Spuk muss schon sein.

Das Büchlein liest sich sehr flott- ständig bleibt die Handlung im Hintergrund bedrohlich und spannend ohne zu finster zu sein. Die Beziehung der Geschwister ist nicht unproblematisch, aber wenns drauf ankommt halten die beiden zusammen.

Ein Abenteuer im zeichnerischen Stil von Tim und Struppi

Soeben habe ich dazugelernt, dass es sich um eine Graphic Novel im Ligne Claire (zu deutsch: „Klare Linie“) Stil handelt. Das bedeutet, dass wir klare Umrisse und flächige Bilder haben. Allein ein kleiner Farbunterschied deutet Schatten auf den Bildern an. Hergé hat mit seinen Abenteuern von Tim und Struppi ebenfalls auf diese Weise gezeichnt. Das ist gut und klar anzusehen- nichts lenkt von der Handlung ab, die flott vorangetrieben wird. Auch die Druckschrift ist klar und wirkt handgeschrieben.

Das Abenteuer der Zwillinge ist auf drei Bände angelegt und wird für Jugendliche ab 10 Jahren empfohlen. Die nächsten beiden Bände sollen bald auf deutsch erscheinen.

Bewertung vom 11.05.2020
Mein summendes Paradies
Nagel, Cynthia

Mein summendes Paradies


sehr gut

Ich habe einen riesigen Garten. Da gibt es Obstbäume, ein Gewächshaus, ein Hochbeet und Gemüsebeete auf der einen Seite. Auf der anderen Seite des Hauses ist der „Ziergarten“. Die Anführungszeichen haben schon ihre Berechtigung- für mich ist der eine Gartenteil genauso zierend wie der andere und mein Bemühen, jedem unerwünschten Gräslein nachzujagen, ist eher überschaubar. Ich nenne das dann „naturnahes Gärtnern“. Andere nennen es Unkrautkultur.

Um meinem etwas verhalten vorgebrachten Argument, mich um den Naturschutz im eigenen Garten zu kümmern, unter die Arme zu greifen, lese ich Bücher wie „Mein summendes Paradies“ von Cynthia Nagel.

Cynthia Nagel ist Chemikerin, Fotografin und Gärtnerin. Vor allem die letzteren beiden Interessen vereint sie in diesem umfangreichen Buch.

Mein Pflanzprinzip ist denkbar einfach, aber auch höchst unprofessionell: Eingraben und gucken, was sich wohlfühlt. Ihres ist da freilich viel geplanter. Cynthia Nagel stellt in ihrem Buch vor, wie sie aus ihrem vormals sehr schlichten Garten ein Blühparadies mit verschiedenen Zonen gemacht hat. Nagel hat einen genauen Gartenplan: Da gibt es den Kiesgarten, den weißen Garten, den Gemüsegarten und sogar einen Gute-Laune-Garten.

Mein Strukturprinzip im Garten ist, dass sich Insekten, Vögel und Igel schon wohlfühlen werden, wenn es Platz zum Verstecken und jede Menge verschiedener Blüten zum Aussaugen gibt. Das ist natürlich ein hemdsärmeliges Vorgehen. Anders als Cynthia Nagel kann ich nicht von mir sagen die geborene Gärtnerin zu sein. Ein paar große Prinzipien des naturnahen Gärtnerns sind aber auch bei Nagel wie bei anderen Naturschützern: Unordnung zulassen, heimische Pflanzen bevorzugen, Vielfalt schaffen.

Viele Wildbienenarten im Porträt

Auch über die Tiere informiert die Autorin genau und porträtiert früh im Buch viele Insektengäste ihres Gartens, die auch Nahrungsgrundlage für die Vögel sind. Durch die schönen Nahaufnahmen bin ich neugierig auf die Gemeine Trauerbiene und die Garten-Wollbiene geworden. Welch Artenvielfalt vor der Haustür!

Mancher Leser dieses Buchs wird finden, dass es zu wenig Schritt-für-Schritt-Anleitungen liefert. Dass es zu viel will: Eigene Erfahrungen schildern und Anleitung bieten. Andere werden sich freuen, dass so viele farbige Einladungen und Pflanzenbeschreibungen zu finden sind. Den Kritikern sei gesagt: Ein Garten entwickelt sich sehr stark auch selbst. Standorte müssen beachtet werden, da kommt es auf den Boden, das Licht, das Wasser an. Hier kann man schlecht eine allgemeingültige Anleitung geben. Erzwingen lässt sich eben nur wenig. Daher finde ich diesen Erfahrungsbericht der Autorin mit ihrem eigenen Garten sehr gelungen. Mehr als Anregung kann man in diesem Bereich wohl kaum sein.

Viel gewollt, einiges eingelöst

Trotzdem: Cynthia Nagel hat hier natürlich einen gewissen Spagat gewagt. Einerseits ist es eben doch nicht nur ein Bildband, sondern auch ein How-To-Gartenbuch. Wie gestalte ich meinen Garten insektenfreundlich? Wie gestalte ich ihn ansehnlich fürs Menschenauge? Wem es nur um klare Anleitungen geht, der ist womöglich mit anderen Büchern besser bedient, die kurz und knapp ein paar Tipps bringen. Mit „Mein summendes Paradies“ habe ich zudem eine sinnliche Anregung für den eigenen Garten, ein Buch, das ich auch freudig in der Hängematte durchblättere.

Ich habe mich bestätigt gesehen in meinem grundlegenden Vorhaben und Vorgehen des naturnahen Gärtnerns. Ich freue mich vor allem über die Tierporträts- viel Garten habe ich, um Naturschutz zu betreiben. Da ist es schön, so genau gezeigt zu bekommen, für welche kleinen Wesen ich Arbeit und Naserümpfen der Nachbarn mit Golfrasen auf mich nehme.

Bewertung vom 29.04.2020
Ideal Standard
Picault, Aude

Ideal Standard


ausgezeichnet

Ideal- welches Leben ist das schon? Claire, mollig, mit 35 gefühlt kurz über dem Zenit der Fruchtbarkeit, lebt einer Illusion hinterher. Einen Mann will sie finden und mit ihm ins ewige Familienglück einsteigen. Doch im Lauf des Buchs ändert sie ihre Einstellung und ihre Wünsche- nicht zu ihrem Unglück.

Zu Beginn des Buchs sieht man Claire in einer Szene, wie sie alltäglicher kaum kein sein könnte: Frau im Bad. Da braucht es keine Worte, die Bilder erzählen schonungslos und lustig jedes Detail des Sich-Hübsch-Machens für einen weiteren Tag aus einem ganz gewöhnlichen Leben. Eine von vielen wird hier dargestellt- typisch, aber doch besonders, wie sich im Laufe des Buchs zeigt.

In Aude Picaults Graphic Novel „Ideal Standard“ ist an der Oberfläche alles locker und einfach. Darunter jedoch findet eine moderne, kritische Entwicklung einer Frau statt, die immer mehr alles in Frage in stellt. Ihren Beruf als Krankenschwester für Frühgeburten liebt Claire- wegen der Kollegen, wegen der Babys. Die jungen Eltern, die sie dort kennenlernt, betrachtet sie freundlich und verständnisvoll. Sie sieht die Menschen und ihre Besonderheiten, sie erkennt Möglichkeiten und Probleme.

Hoffnungsfroh sieht Claire auf dem Cover aus. Sie steht hier auf einer Rolltreppe- es soll aufwärts gehen in ihrem Leben. Das Aufwärts wäre für sie zu Beginn der Einzug in eine glückliche Beziehung mit gemeinsamer Wohnung und mindestens einem Kind. Am Ende des Buchs hat Claire mehr Möglichkeiten im Blick, wie ihr Leben aussehen kann: Ihre Freunde, eine Weiterbildung- vieles scheint auf einmal offen und möglich.

Claires Treffen mit Männern werden zu Desastern, keiner passt so richtig. Schon nach wenigen Treffen zeigt sich deren Bindungsunfähigkeit oder doch zumindest -unwilligkeit. Der Erste, mit dem sie dann doch länger zusammen bleibt, stellt sich auch nicht als Idealbesetzung heraus- zu verschieden sind die Interessen, zu wenig liebevoll ist er ihr gegenüber. Und so bleibt das erträumte Familienglück Teil der rosa gezeichneten Gedankenblasen Claires. Weil Claire für sich feststellt, dass es besser sein kann allein zu bleiben als mit jemandem zusammen zu sein, der nicht passt.

Claires rosa Blasen vom vorgestellten Glück zerplatzen eine nach der anderen. Heraus kommt dabei aber nicht eine entmutigte, verbitterte Frau. Ganz im Gegenteil bricht Claire am Ende des Buchs nochmal ganz neu auf in eine neue Wohnung, ins Ungewisse. Am Ende scheint sie sich dabei näher zu sein als jemals zuvor.

Das Buch gibt keine einfache Welterklärung oder Lösung. Es propagiert nicht den Niedergang aller Beziehungen oder glorifiziert das Singledasein. Auch die Freunde Claires, die in festen Beziehungen mit Kindern leben, sind nicht nur verzweifelt oder nur glücklich. Knapp und treffend stellt Aude Picault ihre Sichtweisen und Probleme genauso dar wie die der Singles. Das Ideale, den einen wahren Standard, den gibt es eben nicht.

Und ebensowenig hat die Graphic Novel ein einfach gestricktes Hollywoodende. Kein ewiges Glück, keine klare Lösung, sondern wieder eine Momentaufnahme. Auf mich hat es so gewirkt als hätte Claire sich von vielen Illusionen befreit. „Was kann man dir wünschen?“, fragen die Freunde. Sie antwortet: „Dass ich nicht mehr auf Stand-by bin. Dass ich glücklich bin, im Hier und Jetzt. “ Picault zeichnet ein vielschichtiges Porträt einer heutigen Gesellschaft, die auf der Suche ist nach neuen Verhaltensweisen jenseits alter Rollenbilder. Hier schlingert jeder einmal und der Komplexität des einzelnen Lebens ist nur mit Nachsicht und Humor beizukommen.

Mit nie mehr als den drei Grundfarben (in Pastell) und einem Strich, der an Sempé erinnert, entsprechen die Zeichnungen der Lakonie der Geschichte. Eine runde Sache, die hinter einer schlichten Oberfläche viel zeigt!

potzblog.de

Bewertung vom 19.04.2020
Abteilung für irre Theorien
Gauld, Tom

Abteilung für irre Theorien


ausgezeichnet

Der wunderbare Autor Neil Gaiman trifft wie so häufig den Nagel auf den Kopf, wenn er sagt: „Tom Gauld ist immer hochkomisch, aber komisch auf eine Art, die dich schlauer macht.“ Auf jeder Seite sind so viele Hintersinnigkeiten, dass man immer länger verweilt. Die Einseiter spielen auf vieles an: Macken von Wissenschaftlern, Rahmenbedingungen der Forschung, teils absurde Gegenstände der Forschung. Hier werden Asteroiden und Flechten Persönlichkeiten, Zuneigung und Feindschaft zugeschrieben und jeder Nerd-Persönlichkeitszug der Wissenschaftler gefeiert. Aber auch das sehr verkürzte Verständnis der Außenwelt darüber, was Wissenschaftler tun, wird ordentlich aufs Korn genommen.

Der Zeichenstil ist klar und schlicht, es geht nicht so sehr um die Schönheit der Illustration, sondern um die Darstellung der Botschaft. Viel graphisches Brimborium würde eher stören, die Bilder illustrieren die Idee. Auch wenn man überall kleine Monster mit schrägem Blick finden kann und sich so sicher an den Bildern freut.

Gaulds einseitige Comics aus „Abteilung für irre Theorien“ sind zuerst in der Wissenschaftszeitschrift „New Scientist“ erschienen. Seine Strips, die sich mit anderen Themen wie z.B. der Literatur befassen, sind in The Guardian, The New York Times und dem New Yorker erschienen- Gauld hat also auch für Nicht-Wissenschaftsfans noch einiges zu bieten und ich bin sicher, dass es sich lohnt, auch da einen Blick reinzuwerfen. Das kann gar nicht schlecht sein nach dem, was er hier vorgelegt hat!

potzblog.de

Bewertung vom 11.04.2020
Ein wenig Glaube
Butler, Nickolas

Ein wenig Glaube


sehr gut

Lyle könnte es so schön haben. Der Mann im Rentenalter freut sich an seinem Enkelsohn Isaac, seine Liebe zu Peg ist nie ganz im Alltag verraucht und auch ihrer beider Adoptivtochter Shiloh war für sie ein echter Glücksfall. Dazu kommen ein paar wirklich gute Freunde. Was Lyle jedoch vor allem beschäftigt ist, dass Shiloh samt Sohn Isaac immer mehr in die Fänge einer Sekte gerät. Als das dramatische Konsquenzen nicht nur für die Familie, sondern vor allem für Isaac zu haben droht, steht Lyle vor einer sehr schweren Entscheidung.

Nickolas Butler orientiert sich hier an einer wahren Geschichte, die bestimmt nur eins von vielen Beispielen für diese schwierige Thematik ist. Wie geht man damit um, dass das eigene erwachsene Kind auf einen Weg gerät, den man für falsch und gefährlich hält? Wie weit darf man in das Familienleben anderer eingreifen, wenn es um das Leben eines Kindes geht?

Das Buch lässt vor meinem geistigen Auge ein gegenwärtiges Amerika entstehen, mit liebenswerten, aber auch schrulligen Charakteren vor allem in den Freunden Lyles. Da ist jeder ein besonderer Typ, jeder hat etwas zu sagen und zum Buch beizutragen und beleuchtet Fragen nach Familie, Liebe und Glaube ein wenig anders. Einzig Shiloh bleibt etwas blass, was aber gewollt sein kann als Spielball eines Sektenpredigers.

„Ein wenig Glaube“ liest sich spannend, aber alles andere als oberflächlich. Ich freue mich immer sehr an kurzen, sinnvoll strukturierten Kapiteln, die mich zum Weiterlesen motivieren. Das Buch hinterlässt bei mir viele Blickwinkel auf eine wirklich knifflige Thematik.

potzblog.de

Bewertung vom 03.04.2020
Das Geheimnis von Shadowbrook
Fletcher, Susan

Das Geheimnis von Shadowbrook


gut

potzblog.de

Ein einsamer Landsitz, umgeben von einem herrlichen Garten und mittendrin ein altes Haus, eher Schloss, in dem es spuken soll. Clara, die an der Wissenschaft orientierte junge Ich-Erzählerin mit Glasknochenkrankheit, lässt sich von so etwas nicht beeindrucken und wird engagiert, um das Gewächshaus zum schönsten weit und breit zu machen. Doch sie wird sich immer weniger mit den Pflanzen und immer mehr mit den Menschen, dem Klatsch und der Vergangenheit des Anwesens beschäftigen. Dass sie dabei ihrer eigenen Vergangenheit auf die Spur kommt, macht die Sache umso spannender.

Dieses Buch wurde mir von einem herrlichen kleinen Buchladen in Schwerin empfohlen: Ein guter Tag. Ich wäre selbst vermutlich nicht auf die Idee gekommen, von Geistern und romantischen Landsitzen zu lesen. Aber gute Buchhändler schaffen es eben, einem ein Buch schmackhaft zu machen, zu dem man von selbst nicht gegriffen hätte.

Zu Beginn findet man sich gut in die Story, dann wurde es mir etwas blumig, lang, nebulös und ich war nicht sicher, ob ich wirklich weiterlesen wollte. Doch es lohnt sich und zum Weglegen war es auch zu spannend! Es gibt so einige überraschende Wendungen, die alles letztlich plausibel machen.

Die letzten, großen Erkenntnisse mag man vielleicht aus diesem Buch nicht ziehen, aber es ist flüssig geschrieben und die geschickt ausgelegten Fäden locken zur weiteren Erforschung wie bei einem Krimi. Alles ist letztlich sehr stimmungsvoll durch die Bilder des englischen Landsitzes kurz vor dem ersten Weltkrieg und auch die Figuren sind plastisch- eckig und vielschichtig. Gute Unterhaltung!