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Brustie
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Bewertung vom 24.04.2023
100 Jahre Schachturniere in Hastings
Brustkern, Jürgen;Wallet, Norbert

100 Jahre Schachturniere in Hastings


ausgezeichnet

Hastings, die Stadt an der östlichen Südküste Englands, hat allerlei Sehenswürdigkeiten: aber vor allem ist Hastings durch das traditionsreichste Schachturnier der Welt bekannt geworden. 1895 erstmals als Superturnier ausgetragen, findet es seit 1919 jährlich zur Jahreswende statt. Nur der Zweite Weltkrieg sorgte für eine Unterbrechung. Alle Schachweltmeister waren bis auf Bobby Fischer an der Südküste, um sich mit den besten Schachspielern zu messen. Viel geschichtlicher Stoff über das Königliche Spiel also, der jetzt in dem Buch „100 Jahre Schachturniere in Hastings“ (296 Seiten, gebunden, Joachim Beyer Verlag, Lesebändchen, 39,80 Euro) nachzulesen ist.
Der Untertitel „Wie aus Träumen Traditionen wurden“, hört sich auf den ersten Blick verheißungsvoll an – und die Erwartungen werden mehr als erfüllt. Die Autoren Jürgen Brustkern und Norbert Wallet schlagen die 100 Jahre Hastings wie ein spannendes Geschichtsbuch auf, das auf jeder der fast 300 Seiten einen neuen Aspekt beleuchtet. Brustkern kann getrost als Insider gelten. Seit 1977 fährt der FIDE-Master und Schachtrainer jährlich an die englische Küste, um in Hastings mitzuspielen und Artikel über das Turnier zu veröffentlichen. Norbert Wallet ist den Lesern der Stuttgarter Zeitung und der Stuttgarter Nachrichten als Hauptstadtkorrespondent bekannt, Schachspieler kennen ihn als kompetenten Autor zahlreicher Schach-Artikel.
Erfreulich ist in den ersten Kapiteln des Buches der Verzicht auf eine Chronologie der Turniere. Die beiden Autoren nähern sich dem Thema Hastings über die Vergangenheit und blicken zunächst auf den Beginn der englischen Turniertradition. Dies erfolgte im Jahr 1851 mit dem ersten Meisterturnier in London. Schon seit Jahren haben damals Schachfans auf ein echtes Spitzentreffen gewartet, eingeladen wurden schließlich 16 Meisterspieler. Die Autoren vermuten, da die Hälfte von ihnen Briten waren, eine Mischung aus organisa-torischen (keine hohe Anreisekosten) und sportlichen (viele gute Spieler) Gründen. Adolf Anderssen siegte, ein Triumph für das deutsche Schach. In dem Buch ist nicht nur ein Gedicht nachzulesen, das dem Sieger gewidmet war, sondern auch die von Brustkern kommentierte Notation der „Unsterblichen“ Partie zwischen Anderssen und Lionel Kieser-itzky. Sie wurde außerhalb des Wettbewerbs gespielt und ging in die Schachgeschichte ein.
Den Autoren verknüpfen den Aufstieg Hastings als Turnierort mit ökonomischen und politischen Voraussetzungen. Der Langzeit-Erfolg sei mit einer guten Idee verknüpft worden sowie dem Enthusiasmus der Gründerzeit. Nur so konnte die anschließende Turnierfolge auf eine stabile Grundlage gestellt werden, die Jahrzehnte getragen hat.
Beschrieben werden die vielen Verästelungen menschlicher Beziehungen, die hoffnungs-vollen Pläne und die Hoffnungen auf Unterstützung, die in Hastings von 5. August bis zum 1. September mit 21 Runden schließlich zu einem ersten Turnierhöhepunkt führten. „Dieses Turnier ist das bedeutendste, das jemals stattgefunden hat, wer aus ihm überlegen als Sieger hervorgeht, muss als stärkster Spieler der Welt anerkannt werden“, zitieren die Autoren den Frankfurter Generalanzeiger. Und weiter: Nach diesem Turnier war Hastings fest auf der Landkarte des internationalen Schachs eingezeichnet und sollte bis auf den heutigen Tag nicht mehr davon verschwinden. Brustkern und Wallet führen den Leser in den folgenden Kapiteln durch die ganze Geschichte Hastings. Geboten werden nicht nur spann-ende Partien, sondern auch zahlreiche Fotografien, die einen Eindruck der Turniere geben. Ab Seite 80 erfährt dieses Buch einen Bruch. Beschrieben werden Kämpfer, Künstler und Königsjäger – die Helden von Hastings. Beachtlich, wie die Autoren ihre Charakterstudien treffend überschreiben haben. Milan Vidmar ist der „Schachingenieur aus Slowenien“, Vera Menchik „The Queen of Hastings“. Jaques Mieses avanciert zum „letzten standhaften Schachritter“ und Judit Polgar zur „Princess of Hastings“. Ulf Andersson steigt zum „schwedischen Capablanca“ auf und Bent Larsen ist ein „wunderbar sturer Optimist“. Dazwischengeschoben, fast übersieht man es, gibt es ein vierseitiges Interview mit Großmeister Helmut Pfleger zu lesen, das Norbert Wallet führte. Pfleger war einer der ersten Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Hastings spielten, und der sich wünscht, der alten Glanz des Turniers möge zurückkehren. „Es sollte weltweite Bedeutung haben.“ Nach den mehr als 40 Portraits sind im Anhang die Sieger von Hastings aufgeführt. Ein Literaturverzeichnis mit weiterführenden Publikation runden das lesenswerte Buch ab und führen das Thema weiter.
Fazit: „100 Jahre Schachturniere in Hastings“ fängt die Stimmung des Turniers auf vielseitige Weise ein. Leser, die an Schachhistorie interessiert sind, kommen genauso auf ihre Kosten, wie Leser, die bekannte Partien nachspielen wollen.