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fjodor1212
Wohnort: 
Berlin

Bewertungen

Insgesamt 2 Bewertungen
Bewertung vom 09.01.2024
Soll und Haben (eBook, ePUB)
Freytag, Gustav

Soll und Haben (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Der romantische Kaufmann

Der Roman sollte eher „Wünschen und Sollen“ heißen. Mit Realität hatte er seinerzeit wohl wenig zu tun. Nahezu alle Figuren sind idealtypisch angelegt. Kaum jemand führt ein „normales“, unauffälliges Leben, und trotzdem handelt es sich meiner Meinung nach um ein Sittengemälde.
Ein junger, bürgerlicher, bescheidener und tugendhafter Abiturient, Anton Wohlfart, macht eine Kaufmannslehre im Breslau der 1840er Jahre bei einer patriarchal geführten Kaufmannsfirma, an deren Spitze der Prinzipal T.O. Schröter steht. Hier trifft er auf einen jungen, adligen und reichen Volontär, Fritz von Fink, der allerdings ohne Sekundärtugenden daherkommt und somit in Teilen einen Gegensatz zu Wohlfart darstellt. Nach einer Auseinandersetzung werden die beiden Freunde. Dennoch dominiert Fink nun den Wohlfart, wobei dieser dann immer seine gute Moral unter Beweis stellen kann. Alle „Typen“, die ansonsten auftauchen, sind ebenfalls stark konstruierte und überzeichnete Charaktere: ein adliger Familienvater, der aus der Not einen halbherzigen Versuch wagt, an der Industrialisierung teilzuhaben und daran scheitert und dessen Sohn ein spielsüchtiger Offizier ist; ein Geldjude mit einem Quasi-Zauberlehrling, wobei letzterer seinen Meister ruinieren, sowie dessen Tochter heiraten will und wie sein Chef scharf auf das Rittergut der Adligen ist; außerdem kommen vor ein schmieriger, betrügerischer Herbergsvater; ein heruntergekommener Winkeladvokat und ein märchenhaft riesiger, lederbeschürzter Auflader samt tapferem Soldatensohn. Selbst die Person, die am wenigsten agiert, nämlich die Schwester des Prinzipals, Sabine, macht dies in vollkommener Jungfrau-Maria-Attitüde, so dass zwangsläufig die zweite weibliche Figur, nämlich Wohlfarts adlige Schwärmerei, Lenore von Rothsattel, obwohl selbst jungfräulich, Züge einer Maria Magdalena trägt. Dass diese so wild tanzt und reitet, findet Wohlfart „unweiblich“. Schließlich finden die Adligen und die Bürgerlichen zueinander und der Held darf Sabine heiraten und Kompagnon vom Prinzipal werden.
Aber was macht den Roman aus?
Klar, sind es aus heutiger Sicht seine kolonialistischen („ich stehe jetzt hier als einer von den Eroberern“), seine antislawischen („Polnische Wirtschaft“) und nicht zuletzt seine antisemitischen (zwei Juden sind geldgierige Betrüger) Züge.
Aber, mal ehrlich, in welcher Zeit spielt der Roman: Zwischen 1845 und 1848 erreichen die USA, getragen von der Monroe-Doktrin, größtenteils durch Krieg gegen Mexiko ihre heutige Ausdehnung, von den „Indianern“ mal ganz zu schweigen. Deutschland hat die Zeit der afrikanischen Kolonien erst noch vor sich.
Was den Roman lesenswert macht sind zum einen die romantischen Charaktere, zum anderen aber auch die eben doch nicht so starren, schon fast kulturanalytischen Sichtweisen einiger Figuren, nicht zuletzt der des sich ambivalent gerierenden Fritz von Fink. Hier ein augenzwinkernder Exkurs zur klassischen Musik, da ein Kommentar zum Scheitern deutscher Vorratswirtschaft in den USA und dort eine unanständige Bemerkung zum deutschen Adel. Obwohl die Charaktere so überzeichnet sind und wenig mit Wirklichkeit zu tun haben, würde ich „Soll und Haben“ als ein Sittengemälde bezeichnen, nämlich so, wie ein Hollywood-Film ein solches sein kann.
Da wissen ja auch alle, dass es ausgedacht ist.

Bewertung vom 04.03.2023
Der Osten: eine westdeutsche Erfindung
Oschmann, Dirk

Der Osten: eine westdeutsche Erfindung


ausgezeichnet

Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders...
Jeder, der jetzt denkt, die Ostdeutschen haben ja alle einen Balken im Auge, der sollte unbedingt dieses Buch lesen.
Dazu ein Exkurs: Tauscht man den Balken gegen einen Nagel und schaut sich den besten Kurzfilm aller Zeiten an: „It's not about the nail.“ (überall im Netz zu finden) - dann wird das Missverhältnis von Wahrnehmung klar; denn wo „der Westen“ sich den Anschein gibt, beziehungsorientiert („talk to me“) zu sein, möchte er doch von Inhalten („You do have a nail in your head“) nichts wissen und leidet am Nagel in seinem eigenen Kopf. „That sounds really hard.“
Dirk Oschmann ist hier wirklich die Umkehr eines schon lange existierenden pathologischen Vorwurfs gelungen, obwohl diese Metapher aus der Bergpredigt in seinem Buch gar nicht vorkommt.
Der Vorwurf lautet: Der Osten jammert, obwohl der Westen liefert. Schließlich sei ja viel Geld in den Osten geflossen.
Oschmann stellt klar: Der Osten wurde zu großen Teilen von Westdeutschen, die die Treuhand verwalteten, an Westdeutsche verkauft. Eliten an Universitäten und Gerichten wurden durch Westdeutsche neu besetzt. Danach konnten prima die mitgebrachten Netzwerke arbeiten und mögliche neue Andockstellen (mein Wort) schneller besetzen als Ostdeutsche. Das ist bis heute so. Abgesehen davon beträgt der Lohnabstand zwischen Ost und West 22,5 Prozent (2021).
Das sogenannte Jammern der Ostdeutschen ist in den Ohren der Westdeutschen allerdings ein Lärm, ein Störgeräusch, eben ein Fremdkörper (wie ein Nagel im Kopf s.o.) - wird aber als Problembeschreibung nicht erkannt.
Oschmann kommentiert, freilich mit couragiertem Duktus, das westdeutsche Normativ dem sich die Ostdeutschen unterzuordnen haben mit Beispielen aus der Literatur (Kafka, Freytag), schließlich ist er ja Germanist, aus soziologischer Perspektive (Bourdieu, Ranciére, Habermas) und hier zudem als teilnehmender Beobachter, denn er ist ja als Ostdeutscher ein zugleich kulturell konstruierter Ostdeutscher und damit prädestiniert dafür.
Ein ganzes Kapitel widmet Oschmann dem sächsischen Dialekt als Verlierersprache und dass er seine Kinder aus Gründen der Assimilation zum Hochdeutsch mittels Taschengelderpressung zwang. Da ich in den 1980ern in Ostberlin gefühlt in jeder zweiten Administration einen Chef vorfand, der sich seines sächsischen Dialektes überhaupt nicht schämte, weil nämlich dieser Tatsache ebenfalls ein heute fast vergessener teilweiser Elitenaustausch vorangegangen war, habe ich an dieser Stelle nur mäßig Mitleid.
Weiterhin gibt Oschmann der Löschung des Text- und Bildgedächtnisses Raum, insofern Kunst der DDR in der bundesdeutschen Gesamtschau vernachlässigt werde. Dann lenkt er den Blick auf eine Auseinandersetzung zwischen dem Ost-Künstler, Neo Rauch, und dem West-Kritiker, Wolfgang Ullrich. Hier waltet Ullrich in seiner Beurteilung der Kunst eben nicht nur als Kritiker der Bilder, sondern zugleich als Diskursmanager über das, was Rauch verbal so von sich gibt. Kein Wunder, dass Rauch dann wirklich malerisch Fäkalkunst produzierte. Der Reflex von Rauch erinnerte mich an ein Bild, genauer eine Lithographie, die ich in den 1980ern in einer Ostberliner Wohnung gesehen hatte: Ein stämmiger Mann hielt einen anderen kopfüber über einen Farbeimer. Unten war zu lesen: „Wann malen Sie denn mal wieder was Farbiges?“ Damals, im Sozialismus, ging es wohl nur um Ikonographie...
Das Buch ist wirklich lesenswert!

9 von 10 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.