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Benutzername: 
Avalaia

Bewertungen

Insgesamt 6 Bewertungen
Bewertung vom 19.04.2024
Leute von früher
Höller, Kristin

Leute von früher


ausgezeichnet

Von Anfang bis Ende kontunierlich gesteigert!

In "Leute von früher" von Kristin Höller geht es um Marlene - und doch eigentlich auch um alle anderen, die gemeinsam mit ihr auf der Insel "Strand" bei Husum in der Urlaubsaison arbeiten. Die Touristenattraktion besteht darin, dass die gesamte Insel aufgebaut ist wie ein Dorf um 1900: die Häuser sind alt, die Arbeitenden in Kostüme gekleidet, die Waren und die Unterbringung der damaligen Zeit weitestgehend angepasst. Marlene will auf Strand eigentlich nur für eine Saison jobben, damit sie herausfinden kann, was sie eigentlich jetzt vom Leben will, irgendwo zwischen abgeschlossenem Studium und der nahenden 30.
Stattdessen findet sie einen rätselhaften Ort neben einer versunkenen Stadt, neue Freunde und - Janne.
Der Schreibstil war angenehm zu lesen und die meiste Zeit über relativ simpel gehalten (nicht falsch verstehen: easy reading is hard writing!). Ein paar Zeilen haben dann aber doch herausgestochen und sich richtig in mein Herz gebohrt.
Mit Marlene als Protagonistin konnte ich zu Beginn nicht wirklich viel anfangen. Sie war so ... blass. Hat alles mitgemacht, hatte keine Meinung, nichts, was sie irgendwie besonders gemacht hätte, sie war der absolute kantenlose Mensch. Das hat sich aber im Laufe des Buches geändert, und zum Ende hin mochte ich sie sogar.
Die Nebencharaktere wurden allesamt mühevoll gezeichnet. Besonders Arno und Jakub mochte ich gerne.
In erster Linie gefiel mir das Buch, weil ich nahe an der Nordsee lebe und das Watt und die Umgebung und die Strände und Deiche und alles so gut kenne. Dass der Plott sich in eine Richtung entwickelt, die mir nur noch mehr zusagt - die aber vielleicht nicht für jeden ist -, konnte ich nicht ahnen. Zwischendurch flossen sogar Tränen. Das Ende hat mich richtig gecatcht, ich habe die letzten 100 Seiten am Stück durchgesuchtet. :D

Ingesamt bietet der Roman eine komplexe Mischung aus Zärtlichkeit, der Schärfe des Lebens und der Möglichkeit, dass wir alle vielleicht nicht dort hingehören, wo wir geboren wurden - sondern unser Zuhause selbst finden müssen.

Bewertung vom 19.04.2024
Noto
Sack, Adriano

Noto


sehr gut

What a Ride!
Konrad ist auf dem Weg nach Sizilien. Mit dabei hat er Jack, seinen Hund, und in einer Rasiercremedose die Asche seines Mannes Adriano.
Von Anfang an hat der Schreibstil mich gehabt. Er ist nicht schwer zu lesen und ist dabei schlau und emotional. Einzig die eingeworfenen englischen Begriffe haben mich manchmal stutzig gemacht. Ansonsten bin ich richtig tief in den Zeilen versunken - so tief, dass ich manchmal Pausen brauchte, denn immerhin ist Trauer kein leichtes Thema.
Adriano Sack hat uns hier sehr sanft und klug durch Konrads Trauer geführt. Am Anfang habe ich oft geweint, wenn Konrad es nicht konnte; dann dachte ich, dass es besser wird, und hab am Schluss doch nochmal mit den Tränen gekämpft. Trauer und Verlust verlaufen nicht linear, und das wird in diesem Buch wunderbar erklärt.
Besonders emotional fand ich die Einschübe mit Adrianos Stimme, die Konrad noch manchmal hört. Es gab mir nicht nur das Gefühl, Adriano - obwohl er tot ist - kennenzulernen, sondern hat die Sympathie, die ich ihm gegenüber empfand, noch verstärkt. Sie kamen mMn auch immer passend, bis zum Schluss.
Aber das Buch war nicht nur traurig! Es gab romantische, zärtliche, aufregende Momente. Momente, die so abgedreht waren, dass ich mich kurz wie in einem Fiebertraum gefühlt habe. Ich habe auch gelacht (zumindest gekichert), und ich habe Adrianos Sehnsucht gespürt. Es gab ernste Themen. Es gab wichtige Diskussionen zum Thema Sizilien, es gab Geschichte(n) und Zukunftsvisionen und ... Vor allem wahnsinnig viel Liebe. Platonischer, körperlicher, romantischer Art.
Ein riesen Pluspunkt in diesem Buch war für mich auch die Casual Queerness. Ich glaube, es gab mehr queere als hetero/cis Charaktere 🙏🏻🏳️‍🌈.
Für mich ein ganz tolles Buch, aus dem ich viel mitnehmen konnte. Und gerade Adriano werde ich wohl nicht so schnell vergessen. ❤️‍🩹

Bewertung vom 19.04.2024
Sommerhaus am See
Poissant, David James

Sommerhaus am See


sehr gut

Ging tiefer als gedacht!

Dadurch, dass das Buch mit dem Tod eines Kindes beginnt - kein Spoiler, steht im Klappentext -, habe ich schon damit gerechnet, dass das Buch einige tragische "Plotttwists" breithält. Wie tief - und gleichzeitig weit gefächert - diese Tragik greift, hat mich dann doch überrascht.

Poissant hat einen einfachen, sehr griffigen Schreibstil, der einen oft auch sehr plastisch in die Geschichte eintauchen lässt. Er nimmt kein Blatt vor den Mund und genau das hat die Story für mich noch echter gemacht.

Was mich auch überrascht hat, war die Tiefe, die er den Charakteren trotz der schnell wechselnden POVs verpasst hat. Natürlich haben wir kein super detailliertes Bild jedes Familienmitglieds erhalten - aber das ist im Zuge der Geschichte auch nicht von Bedeutung, denn es geht ja genau um diese Geheimnisse und Konflikte, die die Familie so lange vermieden hat.

Bin ich glücklich mit dem Ende? Hrm. Hätte ich mir ein anderes gewünscht? Auch das würde ich eher verneinen. Vielleicht sind manche Geschichten einfach dafür da, uns genauso zwiegespalten zurückzulassen wie das Leben.

Bewertung vom 12.02.2024
Demon Copperhead
Kingsolver, Barbara

Demon Copperhead


ausgezeichnet

"Demon Copperhead" ist die Geschichte von Damon Fields, aka Demon. Er ist alles, was mensch einem Kind nicht wünscht: Sohn einer Drogensüchtigen, Halbwaise, geboren im "falschen" Teil von Amerika, sog. Redneck/Hillbilly. Mit Kinderarmut kennt er sich aus. Aber er sagt von sich selbst: er steht auf Superheldengeschichten, und womöglich begleiten wir ihn auf seiner Reise, einer zu werden.

Der Schreibstil ist unglaublich. Barbara Kingsolver schafft es, gleichzeitig authentisch die Stimme des jungen Demon einzufangen und trotz des Jargons und der Kraftausdrücke unglaublich poetisch zu sein. Ihre Vergleiche fahren wie Schnitterklingen direkt ins Herz. Ich habe so viele Stellen markiert wie schon lange nicht mehr. Von Anfang an steckt nicht nur Demons Herz in diesen Seiten.

Fast (!) noch besser fand ich die Charaktere. Jeder von ihnen ist dreidimensional, hat Schatten- und Lichtseiten, Eigenheiten, eine eigene Stimme, ein eigenes Wesen. Egal, ob Demons Mom, Angus, Tommy oder wen wir auch sonst noch treffen - jeder von ihnen war unfassbar greifbar und hätte jeden Moment aus dem Buch spazieren können.

Dennoch möchte ich hier nicht nur eine Leseempfehlung aussprechen. Die Thematik ist schwer, und sie wird von nicht minder herzzerreißenden Themen begleitet. Ich habe vergleichsweise lang für das Buch gebraucht - nicht nur wegen der 800+ Seiten -, weil ich es manchmal nur in kleinen Happen ertragen habe. Auch Tränen sind geflossen. Demon hat wirklich alles gesehen, und ich wollte mehrmals durch die Seiten greifen und ihn umarmen - auch, wenn er das gar nicht so mag -, und ich glaube, dass mancher Inhalt potenziell triggernd sein kann. Bitte CN und Triggerwarnungen beachten!