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frischelandluft
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Salzburg

Bewertungen

Insgesamt 5 Bewertungen
Bewertung vom 05.03.2025
Unter Grund
Liepold, Annegret

Unter Grund


gut

Wie geht man mit seiner eigenen Vergangenheit um?
Wann beginnt Schuld? Gibt es Unschuld? Kann man sich von seinem eigenen jüngeren Selbst distanzieren? Auf mehreren zeitlichen Erzählebenen erzählt die Protagonistin im Rückblick von ihrer Jugend, in der sie in die rechts-radikale Szene gerutscht ist. Ich war gespannt zu lesen, wie sie damals radikalisiert wurde und gleichzeitig, wie sie sich 15 Jahre später im Rückblick sieht. Man merkt die Diskrepanz zwischen ihrem jüngeren und ihrem älteren Selbst, die Essenz des Romans liegt für mich in dieser Spannung. Wie geht sie als ältere (immer noch junge) Frau mit ihrer ruhmlosen Vergangenheit um, hier passiert ein Wandel. Der erste Wandel 15 Jahre zuvor von der einsamen, etwas außenstehenden Jugendlichen, die eine Gemeinschaft unter Rechten findet, ist für mich etwas zu kurz gekommen; sie gerät mir zu naiv und unreflektiert in die Szene und wenn es so ist, dann fehlt mir die Auseinandersetzung der Erzählerin heute mit ihrem Selbst von damals. Vom Klappentext hatte ich erwartet, dass ich mehr über ihre Radikalisierung erfahre. Gelungen finde ich die Darstellung des Landlebens, der Dorfgemeinschaft, des Vereinswesens, die gleichzeitige Einmischung in die Angelegenheiten anderer und das Heraushalten aus allem, was unbequem wird, die eingeschränkten Möglichkeiten, eigene Wege zu gehen, wenn man nirgendwo dazugehört.
Insgesamt bin ich etwas zwiegespalten bezüglich des Romans. Ich finde die Thematik aktuell und sehr wichtig, der Roman liest sich flüssig, mir gefallen die unterschiedlichen Erzählebenen, aber mir fehlt eine tiefere Auseinandersetzung mit den Beweggründen für die Radikalisierung und Reaktionen der Protagonistin auf die Aktionen ihrer neuen rechten Freunde, sowohl damals als auch heute. Die Auflösung des Familiengeheimnisses finde ich unbefriedigend – soll man es als Grund für ihre Radikalisierung lesen oder als Grund, sich zu distanzieren? Auch hier fehlt mir die Greifbarkeit. Insgesamt ein interessantes Debut mit einem guten Thema und einer guten Idee. Ich gebe das Buch meiner 17jährigen Tochter, um zu sehen, was sie sagt. Vielleicht habe ich zu viel erwartet, ein bisschen getriggert durch die Ähnlichkeit des Titels mit „Über Menschen“ von Juli Zeh. Aber es wird eine gute Grundlage für ein Gespräch mit ihr.

Bewertung vom 17.02.2025
MAMA SPRACHLOS
Gesslein, Daniela

MAMA SPRACHLOS


gut

Plötzlich Schlaganfall – was mache ich als 17jährige mit meiner Mutter?
Mich hat der Roman in erster Linie wegen des Themas Schlaganfall interessiert. Mir scheint, dass immer mehr Menschen aller Altersstufen einen Schlaganfall erleiden – vielleicht bin ich auch nur sensibilisiert. Mich erschreckt daran die Unberechenbarkeit, dass es jeden, einen selbst und alle in der unmittelbaren Umgebung ganz plötzlich treffen kann, dass sich von einem Moment zum nächsten das Leben komplett verändert. Das wird in diesem Roman sehr deutlich.
Die Geschichte wird aus der Sicht der 17jährigen Tochter der 39jährigen Mutter, die den Schlaganfall erleidet, erzählt. Man ist als Leserin ganz nah dran und erlebt von Anfang an mit, wie die Mutter plötzlich morgens im Bett verändert ist, die Diagnose, die Zeit in Krankenhaus und Reha, die erste Zeit, in der sie wieder zuhause ist. Man erfährt romanhaft verpackt viel über medizinische Hintergründe ohne dass man medizinisch vorgebildet sein müsste, über Therapien (faszinierend, was es alles gibt) und sehr viel darüber, wie die Familie als engste Gemeinschaft gemeinsam mit Ärzten, Therapeuten und Pflegern mit der neuen Situation umgeht. Der Schlaganfall betrifft nicht nur die Mutter, sondern alle empfinden Angst, Panik, Freude über kleine Erfolge, Frustration. Es ist toll beschrieben und sehr wünschenswert, wie die Familie zusammenhält. Ohne es kitschig zu meinen – mit Liebe, Geduld, einer Portion Optimismus und Loyalität lässt sich vieles bewerkstelligen. Mit der veränderten familiären Situation ändert sich auch das ganze Umfeld: auf der einen Seite findet man neue Freunde, die dieselben Erfahrungen gemacht haben, auf der anderen werden alte Bekannte und Freunde fremd, die keinen Bezug zur neuen Situation finden. Ich hatte mir einen Roman erhofft, in dem ich mehr über Schlaganfälle und seine Folgen lerne und diese Hoffnung ist erfüllt worden. Er liest sich flüssig, die Geschichte ist gut und sehr authentisch erzählt. Manchmal scheinen Ärzte, Pfleger und Therapeuten zu gut um wahr zu sein, ich werde mich weiter erkundigen, wie die medizinische Versorgung von Schlaganfallpatienten generell abläuft. Der Roman liefert auf jeden Fall einen sehr guten Einstieg zum Thema und viele Ansätze für weitere Recherche. Noch eine Anmerkung am Rande: es gibt eine esoterische Nebenhandlung um einen Schutzengel, die mir persönlich etwas zu fantastisch und katholisch christlich ist, doch kann man darüber hinweglesen, wenn man das möchte.

Bewertung vom 02.01.2025
Für immer
Lunde, Maja

Für immer


ausgezeichnet

Die Menschheit im Stillstand
„In der Natur ringsherum vergeht die Zeit, aber wir wurden aus ihr hinausbefördert. Und außerhalb der Zeit verharren wir in einem Zustand von Nichtsterben und Nichtwachsen, einem Stillstand, einer Art Ewigkeit.“
Das ist die interessante Prämisse des Buches, was ich sehr spannend finde. Auf einmal ist der Mensch, sind alle Menschen nicht mehr Teil der Welt, es gibt die Welt und es gibt die Menschheit. Als Leserin fühle ich mich einbezogen in den Erkennungs- und Erlebnisprozess der ganz unterschiedlichen Charaktere des Romans. Da sind die schwangere Frau und ihr Mann, der werdende Vater; die krebskranke Fotografin und ihre Familie; das alte Paar, das gerade in ein altersgerechteres Apartment umzieht und ihr Leben ändert; eine Hebamme; eine Angestellte im Begräbnisinstitut/Extremsportlerin und ihre Freunde. Was haben sie alle gemeinsam? Sie sind ganz nah an der Thematik Leben, seine Entstehung und Vergänglichkeit. Dieser neue nur für den Menschen zeitlose Raum ist in ihrem Leben besonders bedeutsam. Wie gehen sie damit um? Was ist ihre erste Reaktion? Wie ändert sich die Einstellung mit den Wochen, Monaten? Ihre Beziehung zu ihren Mitmenschen? Wie verändert sich die Gesellschaft? Ich finde die Thematik sehr interessant und toll ausgeführt, eine drastische Idee, um sich mit Leben, Tod und Entwicklung auseinanderzusetzen. Eine Figur sagt, „Wir waren auch einmal Natur, wir Menschen, dachte sie. Jetzt sind wir nicht länger Teil dieses Kreislaufs, und ich weiß nicht, was wir sind, wer wir sind. Wenn es uns überhaupt gibt. Denn ein Mensch, der so unveränderlich ist wie ein Bild, muss eine Fiktion sein.“
Es geht um den Menschen und seine Beziehung zur Natur, was schon eine merkwürdige Ausdrucksweise ist, denn eigentlich ist der Mensch Teil der Natur. Es geht um die Wertschätzung des Lebens, allen Lebens, um die Notwendigkeit, sich als Teil des Ganzen zu fühlen und zu benehmen und auch um das Miteinander, wenn sich die Umstände ändern, um eine andere Art von Carpe Diem.
Mich hat die Situation immer wieder an die Coronamonate erinnert, ohne dass dieser Roman Corona je erwähnt hätte oder ein Abklatsch dieser Zeit wäre. Aber ich könnte mir vorstellen, dass der Autorin die Idee in den Lockdowns gekommen ist. Durch die stark veränderte Situation haben sich Freunde, Familienmitglieder, die ganze Gesellschaft, wir uns alle verändert. Aber das hier ist kein Coronaroman, es ist ein Roman, der sich auf wunderbare Weise damit auseinandersetzt, wie der Mensch in die natürliche Dimension der Zeit eingebettet ist, dass es ein Jetzt gibt, eine Vergangenheit und eine Zukunft – ohne diese Dimension funktioniert das Leben nicht. Ein anderer Aspekt ist natürlich, dass es höchste Zeit ist, dass sich der Mensch wieder in Einklang mit der Natur bringt, bevor alles zerstört ist, gibt es den Stillstand, weil die Natur sich wehrt? Ungewöhnlich, sehr lesenswert, unterhaltend, manchmal lustig, manchmal tragisch, manchmal bedrückend und sehr eindrucksvoll.

Bewertung vom 18.12.2024
Benefiz
Lehmbeck, Sabine

Benefiz


sehr gut

Ein Roman über eine Vielzahl von Frauen, die alle irgendwie miteinander verbunden sind. Es geht um viele Dinge, Karriere, Familie, Freundschaft, Sucht, Beziehungen, Frauenrechte, sexual Harrassment, uvm. – das Leben (und den Tod). Die Männer sind in dieser Geschichte in der Nebenrolle, es geht um die Frauen und wie sie miteinander umgehen. Frauen werden Männern nicht plakativ entgegengesetzt, sie stehen einfach im Fokus.
Durch gesellschaftspolitische Strukturen wurden Frauen in unserer Kultur über die Jahrhunderte zu Konkurrenzdenken trainiert, das hat sie gleichzeitig gegenüber der Männerwelt geschwächt, bzw. aus männlicher Sicht „in Schach gehalten“. Im Feminismus der 70er und 80er Jahre waren oft jene Frauen karrieremäßig erfolgreich, die sich männlich dominanter verhielten, als die Männer. Ich finde es so erfrischend und erlösend, dass sich das langsam ändert. „Freundinnen“ wird wieder groß geschrieben, Stutenbissigkeit ist eine ultraschlechte Eigenschaft, die Gemeinschaft und die damit verbundene Stärke stehen im Vordergrund – dabei nicht gegen die Männer und auch nicht in Opposition, sondern einfach als Gleichgesinnte in vielen, aber nicht allen Bereichen. Der Exkurs kommt von mir, nicht aus dem Buch, aber für mich steht der Roman für diese Frauengemeinschaft, die gelebt und gefeiert wird, mit Streit und Versöhnung, mit mehr und weniger Liebe, mit Schwächen und Stärken. Das finde ich schön und wichtig. Es ist gut geschrieben, liest sich so weg, eine gute Geschichte.

Bewertung vom 07.11.2024
Alles Sisi
Edinger, Verena

Alles Sisi


gut

Ein nettes Conversation Piece, das populärwissenschaftlich popartig aufgearbeitete Leben von Sisi / Sissi

Sisi-Betrachtung mal anders – wer war die echte Sisi, was ist Mythos? Die Frage ist nicht neu, wird hier einmal anders beantwortet, jünger, moderner, frischer. Die drei Hauptkapitel beschäftigen sich mit ihrem Leben, chronologisch geordnet und mit einem Schwerpunkt, der zu diesem Lebensabschnitt passt. In einem vierten Kapitel geht es um den post-mortem Mythos inklusive Film und Musical. Mein Favorit ist Kapitel 3 „Depression und Wahnsinn“, die späten Jahre der Kaiserin bis zu ihrem Tod. Innerhalb dieser groben Kapitel sind die Informationen noch einmal thematisch gebündelt, z.B. gibt es in Kapitel 3 unter anderem die Unterkapitel „Auf Reisen“, „Vergängliche Schönheit“ und „Leidenschaft Irrenhäuser“. Ich schreibe in einer Rezension normalerweise nicht so viel über die Struktur eines Buches, doch hier ist es notwendig, um zu verstehen, wie das Buch funktioniert. Es ist eine Gegenüberstellung von dem, was als Fakten präsentiert wird und dem, was allgemein unter den Mythos Sissi fällt. Manchmal wird das ein bisschen popartig untermauert von Statistiken nach einer Auswertung von 209 Teilnehmern an einer Befragung – eher unterhaltsam als fundiert. Das Buch ist überwiegend ansprechend grafisch gestaltet, besonders gefallen hat mir die Reihung der Portraitfotos, die ich in dieser Chronologie bisher nur in Sisis Apartments in der Wiener Hofburg gesehen habe. Leider fallen sie im Buch ein bisschen klein aus, aber man kann trotzdem die Entwickung vom jungen Teenager zur reifen Frau verfolgen.
Viele Informationen sind bekannt, wenn man sich hin und wieder mit Sisi beschäftigt, ich wohne in Österreich, da kommt man nicht an ihr vorbei. Aber ich habe auch einiges Neues erfahren, zum Beispiel, dass sie sich sehr für Nervenheilanstalten interessierte oder dass sich Queen Victoria und Sisi nicht besonders gut leiden konnten, dazu hätte ich gerne mehr erfahren. Es wäre schön gewesen, wenn es noch ein weiterführendes Literaturverzeichnis gegeben hätte, aber das ist eigentlich unpassendes Jammern, denn es handelt sich nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung. Dass es nicht so ganz ernst gemeint ist, erkennt man schon am Titel, „Alles Sisi“ – mit dem direkten Bezug zu „Alles Walzer“, mit dem der Wiener Opernball den Tanz für alle eröffnet.
Es ist ein Buch, das man sich von Anfang bis Ende durchlesen kann, aber das man sich auch immer mal wieder greift, blättert, bis man auf etwas neues stößt. Auch wenn die reale Person stark vom Sissi-Mythos abweicht, sie bleibt eine der interessantesten Frauen im 19. Jahrhundert. Insgesamt sehr unterhaltend und eine gute Grundlage für Diskussionen und Gespräche mit anderen Sisi-Fans – und ein perfektes Nikolausgeschenk für Sisi/Sissi-Fans.