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Insgesamt 68 Bewertungen
Bewertung vom 03.03.2025
Vermissen auf Japanisch
Tominaga, Yukiko

Vermissen auf Japanisch


ausgezeichnet

Stiller und wunderbarer Roman -„Im Japanischen gab es keine richtige Übersetzung für „Ich vermisse dich.“ Die wörtliche Übersetzung war ausgestorben, nicht länger Bestandteil unserer Kommunikation, sie existierte nur noch in Liebesromanen. Stattdessen benutzten wir die Formulierung: „Ich werde ohne dich einsam sein.““
Die ersten Sätze dieses herzerwärmenden Romans von Yukiko Tominaga deuten schon vage an, was die Leserin erwartet: Eine Geschichte vom Suchen und Finden, eine Geschichte zwischen Vermissen und Einsamkeit, zwischen Liebe und Freundschaft, zwischen Erinnerungen und Gegenwart. Genau dort befindet sich das Leben von Kyoko, die nach dem plötzlichen Unfalltod ihres Mannes Levi allein mit ihrem zweijährigen Sohn Adam dasteht. Vermeintlich allein, denn da ist noch die Familie ihres Mannes, allen voran ihre Schwiegermutter Bubbe, die sie herzlich-schräg „auffangen“, ihre eigene kleine Familie in Japan und Adam, der auf seine wunderbare Art seine Mutter beglückt.
Obgleich die Geschichte selbst oft laut und bunt daherkommt, so ist die Erzählsprache des Romans doch eher still und zurückhaltend – wie ihre Protagonistin selbst. Und die hat es mir sehr angetan. Wut über den Ehemann, der sie ohne finanzielle Absicherung zurückgelassen hat, Zweifel an sich selbst, an der Liebe, an der Zukunft, Einsamkeit obwohl Familie und Freunde um sie sind, Liebe, die sie nicht immer als solche erkennen kann. Über Kyoko brechen zahlreiche, wenn auch eher unkonventionelle Gefühle herein, nachdem Levi von einem auf den anderen Tag aus ihrem Leben verschwunden ist. Und es ist ganz wunderbar zu lesen, wie sie sich immer wieder „berappelt“, wie liebevoll ihre Umwelt ihr begegnet, wie sie sich selbst motiviert, analysiert, sich Trost spendet. „Schritt für Schritt“, das war es, was ich oftmals gedacht habe bei dieser Geschichte, die sich über etliche Jahre zieht und mit einem jugendlichen Adam endet, der seinem Vater so ähnlich scheint.

Bewertung vom 21.02.2025
Der Gott des Waldes
Moore, Liz

Der Gott des Waldes


ausgezeichnet

Absoluter Pageturner -Tief in den Adirondack Mountains befindet sich das private Naturreservat der reichen und gesellschaftlich hoch geachteten Familie Van Laar, zu dem auch ein Freizeitcamp für Kinder und Jugendliche, gehört. Aus diesem Camp verschwindet im Sommer 1975 die 13-jährige Barbara spurlos. Das allein ist schon schlimm genug, schlimmer aber noch die Tatsache, dass Barbara die Tochter der Van Laars ist – und ihr jüngerer Bruder Bear hier ebenfalls vor 14 Jahren verschwand. Ein Zufall?
Die Suche nach dem jungen Mädchen entwickelt sich zur Schnitzeljagd für die Polizei, allen voran die junge Ermittlerin Judy. Denn nahezu alle Beteiligten haben ihre Geheimnisse und verschweigen wertvolle Informationen. Warum haben die beiden Betreuerinnen Louise und Annabel nichts bemerkt? Welche Rolle spielt T.J., die die Leitung über das Camp von ihrem Vater übernommen hat und früher sehr eng mit Bear befreundet war? Was hat die Familie Van Laar zu verbergen – die Männer der Familie hüllen sich in Schweigen, Alice, die Mutter, ständig betrunken oder betäubt? Oder ist Barbara gar dem entflohenen Sträfling Sluiter zum Opfer gefallen?
In zeitlichen Rückblenden und aus unterschiedlichen Perspektiven kommt nach und nach Licht ins Dunkel. Und genau hier liegt für mich die unglaubliche Sogwirkung dieses Romans. Jedes Kapitel deckt ein neues Puzzleteil auf und wann immer Du denkst – ah, jetzt erkenne ich es – kommt ein neuer Twist dazu. Superspannend!
Dazu hat Liz Moore eine wirklich tolle und emotionale Erzählsprache, die einen direkt in diese Wälder versetzt: Du riechst den Waldboden, hörst das Knarzen der Bäume und die Naturgeräusche in der Nacht. Und wenn dann auch noch im Roman wichtige gesellschaftliche Themen wie soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit, patriarchaler Machtmissbrauch oder Vernachlässigung gekonnt eingebunden werden: Dann ist das für mich ein wirklich perfekter Roman

Bewertung vom 18.02.2025
The Bright Side
Paul-Choudhury, Sumit

The Bright Side


ausgezeichnet

„Optimismus ist der natürliche Zustand der Menschheit.“
Der Autor liefert in seinem Werk einen umfangreichen, detaillierten Überblick über den Stand der Optimismus-„Forschung“. Historische, philosophische, neurowissenschaftliche, gesellschaftliche und soziokulturelle Betrachtungen, die ein sehr umfassendes Bild liefern. Dabei legt er den Fokus sowohl auf die Innenbetrachtung des einzelnen Individuums als auch auf die Betrachtung von Außen, auf die Gemeinschaft.
In ausführlichen Darstellungen von Studienergebnisssen, detaillierten historischen Diskursen und zahlreichen philosophischen Betrachtungen gelingt es dem Autor, die damaligen und heutigen unterschiedlichen Facetten von Optimismus in unsere Gegenwart zu übertragen und anhand zahlreicher Beispiele eingängig darzulegen. Leibnitz, Voltaire, Adam Smith, Rosling, ja, selbst Odysseus und das große Beben von Lissabon fließen in seine Betrachtungen ein. All diese Menschen, Figuren, Ereignisse haben eins gemeinsam: Einen optimistischen Glauben, eine Überzeugung, an sich selbst, an die Menschheit und an die Zukunft, so düster die Gegenwart gerade auch scheinen mag.
Vereinzelt mag das Buch zwar sehr theoretisch anmuten und sicherlich kann man die immerhin gut 370 Seiten nicht einfach „wegsnacken“. Eins aber ist sehr gewiss: Nach der Lektüre dieses Buchs wird man überzeugt sein, dass uns ein innerer und äußerer Optimismus als Individuum und als Menschheit einen Weg in die Zukunft zeigen wird und wir die Herausforderungen, die uns begegnen, meistern können.

Bewertung vom 03.02.2025
Portrait meiner Mutter mit Geistern
Edel, Rabea

Portrait meiner Mutter mit Geistern


ausgezeichnet

Ein wunderbarer Mehrgenerationenroman -„Martha packte einen Koffer und schob ihn unter das Bett, ohne zu wissen, dass alle Frauen in der Familie das vor ihr getan hatten.“
Kaum ist ihre Tochter Raisa 1982 geboren, da beginnen für Martha die Wanderjahre. Nie kann sie lange an einem Ort bleiben, immer wieder zieht es sie in die Ferne. Und doch verdichtet sich der Kreis, zieht seine Bahnen enger und enger um die Heimat aus Kindheitstagen. Und dort, in einer kleinen, einfachen Siedlung in Bremerhaven folgen die Jahre des Schweigens, eine offene Stille zwischen Mutter und Tochter, voller Liebe und Zugewandtheit aber auch voller Leerstellen und Ungesagtem.
Raisa begibt sich auf Spurensuche. Sie füllt den Raum mit der eigenen Familiengeschichte, die nahezu ein Jahrhundert überblickt. Zurück zur Großmutter Selma und deren Mutter Dina, zu den Männern und Frauen, die eng mit diesen verknüpft sind und bis heute das Schicksal Raisas und Marthas beieinflussen. Spuren, die durch die Zeit und über den Erdball führen.
Rabea Edels Mehrgenerationenroman erzählt von Liebe und Leid, von Lügen, die schützen sollten und von Wahrheiten, die schmerzen und verletzen. Von den harten Entbehrungen der (Nach)Kriegsjahre, die besonders die Frauen trafen. Und er erzählt von Selbstbehauptung, Hoffnung und Mut. Ihre Figuren sind wie ein Netz miteinander verknüpft, zieht man hier, bewegt es sich dort; und erst das Muster macht diese Geschichte so einzigartig.
Edels Roman, von der eigenen Geschichte geprägt, ist sehr ergreifend, bildgewaltig und emotional. Ich persönlich war immer wieder überwältigt, wie die Autorin es schafft, trotz der in Teilen harten Schicksale so viel Wärme, Hoffnung und Herzlichkeit in die Figuren und Situationen zu geben. Ein Roman mit Sogwirkung, der noch sehr lange nachhallt.

Bewertung vom 03.02.2025
Zwischen Reben und Rüben
Wagner, Andreas

Zwischen Reben und Rüben


sehr gut

Familiendokumentation über 5 Generationen -Andreas Wagner kann für sein Sachbuch auf einen immensen Fundus an alten Dokumenten und Unterlagen zurückgreifen, der immerhin fünf Generationen umfasst. Und so zeichnet er ein sehr detailgetreues und präzises Leben auf dem Wagner-Hof nach. Er berichtet von Investitionen und Ernten, von Traditionen und Umbruch, von Wein, Weizen und Viehwirtschaft. Und gleichzeitig gibt er einen tollen historischen, dennoch persönlichen Einblick in die gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen eines ganzen Jahrhunderts. Angefangen bei der Rolle der Landwirtschaft und der Bedeutung von Grund und Boden, Eigentum, über Eheanbahnungen, kalkulierte Eheschließungen und Standesdünken, über die Entwicklung des Weinanbaus und seiner Vermarktung, über Erbfolge und Teilungserklärungen bis hin zur Rolle der Frau in diesen Zeiten, zu Bildung und Ausbildung und den politischen und technischen Umwälzungen der letzten gut 150 Jahre. Sein Wissen und Fundus scheinen schier unerschöpflich zu sein.

Und so hat man beim Lesen immer wieder das Gefühl, nicht allein über die Familie Wagner, sondern über einen ganzen Bereich der Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts sehr viel zu erfahren und zu lernen. Die ein oder anderen Details waren zugegebenermaßen für mich ein bisschen zu sachlich und kleinteilig dargestellt; gleichwohl fand ich persönlich gerade die Ausführungen zum Thema Weinanbau sowie zur Rolle der Frau in den verschiedenen Jahrzehnten spannend und aufschlussreich.

Bewertung vom 26.11.2024
Die Geschichte der Erde
Grataloup, Christian

Die Geschichte der Erde


ausgezeichnet

Faszinierende Karten über die Erde und den Menschen auf ihr -Wenn wir die Entstehung unseres Universums in einem Tag messen müssten und dieser Tag mit dem Urknall beginnt, so würde der Mensch erst um 23:59:59 Uhr geboren werden. Und doch haben wir diesen Planeten verändert wie kein anderes Lebewesen vor uns. In wirklich allen nur denkbaren Bereichen.
Zugegeben: Einen Atlas Seite für Seite zu lesen, das passiert eher selten. – Ein Geschichtsbuch vielleicht schon eher. - Geschichte zum Anfassen mit viel, viel Relevanz in und für die Gegenwart, und das in großartige Karten gepackt? Passt.
Christian Grataloups Atlas gibt in über 300 Karten und Grafiken einen großartigen Überblick über die Erde, genauer, über die Entstehung der Erde und den Menschen auf ihr. Über 30 Expertinnen und Experten aus Bereichen wie Ozeanographie, Astrophysik, Klimawissenschaft oder auch Geschichte hat er hinzugezogen um ihr enormes Wissen in anschaulichen Grafiken zu bündeln.
Herausgekommen ist ein faszinierendes Buch mit tollen Karten über nahezu jedes Thema dieses Planeten und der Menschheit. Klimazonen und Erdatmosphäre, Vulkane und tektonische Platten, Wasservorkommen, Bevölkerungsentwicklungen, Sklaverei, das Alte Rom, politische Entwicklungen, Kriege, Naturkatastrophen, Klimawandel und Migration. Kaum ein Thema, das in diesem Buche nicht grafisch erläutert und aus der Vogelperspektive über den ganzen Planeten betrachtet wird. Die erklärenden kurzen Texte dazu sind einfach verständlich; über Querverweise zu anderen Karten werden die großen Zusammenhänge deutlich.
Ja, ich habe den Atlas von vorn bis hinten „durchgesehen“ und gelesen und so viele spannende und faszinierende Karten und Zusammenhänge markiert, von denen ich bis dazu eine eher rudimentäre Vorstellung hatte. Das ist zweifelsohne ein Atlas, den ich mir in der Schule sehr, sehr gewünscht hätte – und in den ich sicherlich noch häufiger schauen werde.

Bewertung vom 26.11.2024
Honey
Lodato, Victor

Honey


ausgezeichnet

Grandios unterhaltsame ältere Lady -„Ihr größter Spiegel war ihr Denken. Sie wusste, dass sie klug war, und war immer imstande gewesen, im Gespräch die Oberhand zu gewinnen. Das ging eine Weile gut, dann jedoch oft ins Auge. Eine kluge Frau war verdächtig, gefährlich.“

Ilaria „Honey“ Fazzinga ist 82 Jahre alt und nach Jahrzehnten zurück in ihre alte Heimat New Jersey gekehrt. Bereits als junge Frau hatte sie sich von ihrer italienischen, mafiösen Familie abgewandt und lebte fortan ein mondänes, unabhängiges und erfolgreiches Leben als Kunstexpertin. Statt aber nun einen ruhigen Lebensabend zu genießen, treten unverhofft Menschen und Ereignisse in ihr Leben, die dieses gehörig auf den Kopf stellen. Die junge Nachbarin, die in einer gewalttätigen Beziehung immer wieder ihren Kontakt sucht, der Maler, der Gefühle in ihr auslöst, die sie schon lange für sich verbannt hatte, ihr Neffe, der auf der Suche nach familiärer Unterstützung von ihr zunächst brüsk abgewiesen wird.

Honey sieht sich plötzlich konfrontiert mit Ereignissen und Themen ihrer Vergangenheit, die sie lange, vielleicht zu lange, verdrängt hatte. Gewalt und Unterdrückung, Schuld und Vergebung, Liebe und Aufopferung. Und so ist es gerade die Konfrontation mit der Familie und ihrer eigenen Vergangenheit, die ihr Klarheit bringt und Honey Wege aufzeigt, sich der Gegenwart und auch ihrer eigenen Versäumnisse und Schuld zu stellen.

Ich gebe es zu: Ich war vom ersten Moment an in diese elegante, selbstbewusste und gradlinige Lady verliebt! Ihre Art, sich vom Alter, ihrer Umwelt und den Herausforderungen des Alltags nicht unterkriegen zu lassen, ist großartig. Ihr klarer Verstand gepaart mit einer großen Liebe für alles Schöne haben mich sofort fasziniert. Honey ist klug, ehrlich, humorvoll, außergewöhnlich weltoffen – aber auch kühl und distanziert. Letzteres hat sich perfekt im Schreibstil Victor Lodatos widergespiegelt. Und was anfangs irritierend wirkte, passte Seite für Seite so stimmig in das Gesamtbild, dass es eine wahre Freude war. Und überhaupt: Lodato hat die Figuren toll authentisch gezeichnet, frei von Klischees, ehrlich und mit Ecken und Kanten. So schön!

Ein ganz toller und starker Roman und eine großartige Hommage an das Altwerden.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.10.2024
Das kann doch jemand anderes machen!
Weber, Sara

Das kann doch jemand anderes machen!


ausgezeichnet

KI im Arbeitskontext -Unser Streaminganbieter schlägt uns neue Serien vor, eine Software übersetzt mühelos jeden Text, der Bäcker um die Ecke hat genau die Menge an Waren und Sorten im Regal, die es braucht. KI ist längst in unserem Alltag angekommen!
Wie KI unseren Arbeitsalltag beeinflussen kann und wird, das beleuchtet Sara Weber in ihrem zweiten Buch. Ausgehend von einem Blick in die Vergangenheit diskutiert sie die Frage, wie KI Arbeit heute und morgen verbessern, erleichtern, vielleicht auch überflüssig machen kann. Was durch KI ersetzt oder verändert werden könnte – und was nicht. Wer die – das schreibe ich hier ganz bewusst – Gewinner und Verlierer von KI sein könnten. Wie der Arbeitsmarkt sich auf diese großen Veränderungen vorbereiten sollte, um optimal aufgestellt zu sein.
Sara Webers Buch ist vom ersten Satz an gewohnt fesselnd, mitnehmend und gut recherchiert. Anhand zahlreicher Beispiele nicht nur aus dem Big Business, sondern auch aus dem Mittelstand, der Pflege, Schule und dem Handwerk untermauert sie ihre Aussagen und Thesen. Und vieles, sehr vieles findet sich in unserem Alltag bereits heute wieder.
Dass der Einsatz von KI disruptive Veränderungen ähnlich der industriellen Revolution mit sich bringt, ich glaube, daran haben die Wenigsten einen Zweifel. Wie diese unsere Zukunft aussehen könnte, das weiß keiner. „Aber wir können uns überlegen, welche Zukunft wir wollen, wie unser Ideal aussieht, was wir uns wünschen – und uns auf den Weg machen, diese Zukunft zu gestalten. Wir können die Weichen dafür stellen, dass wir in unserer Utopie landen und nicht aus Versehen in einer dystopischen Zukunft, die niemand wollte.“
Und genau hier setzt Weber ihre dann auch positiven Akzente hin zu einer idealen, KI-unterstützten Arbeitswelt. Bedenken, Sorgen und Ängste lässt sie anklingen, münzt diese dann aber zu „10 Forderungen“ um, die es braucht, um eben nicht in der Dystopie zu enden.
Auch wenn der Untertitel „Wie KI uns alle sinnvoller arbeiten lässt“ es suggeriert: Dieses Buch ist durchaus kritisch und an manchen Stellen gar frustrierend. Aber vielleicht braucht es genau das, um auch wachzurütteln und in einen positiv gelenkten Aktionismus zu kommen.

Bewertung vom 13.10.2024
Das große Spiel
Powers, Richard

Das große Spiel


ausgezeichnet

Spannender Roman mit Sogwirkung - Im Mittelpunkt des neuen Romans von Richard Powers steht die Insel Makatea im Südpazifik. Einst durch den Kapitalismus fast ausgelöscht, ist das kleine Eiland nun Heimat von nicht einmal mehr 100 Einwohnern, die hier ein bescheidenes aber glückliches und zufriedenes Leben führen. Bis sich ein großer Investor erneut für die Insel zu interessieren beginnt.
Wir lernen Rafi und Ina kennen, die mit ihren beiden Kindern auf der Insel leben. Die sich als Studenten in Chicago kennen und lieben lernten. Ina, die von Makatea stammt und die als Künstlerin die Geschichte ihres Volkes und ihrer Kultur einfängt. Rafi, der die Literatur liebt und als Farbiger im Glauben erzogen wurde, immer besser als die Weißen sein zu müssen. Dritter im Studenten-Bunde ist Todd, der beste Freund Rafis, der noch immer in Chicago lebt. Die beiden könnten unterschiedlicher nicht sein– schwarz-weiß, arm-reich, analog-digital und doch verbindet sie eine innige, tiefe Verbundenheit, die den größten Herausforderungen trotzt. Todd hat schon früh auf die digitale Welt gesetzt und mit seinem virtuellen Spiel Playground Millionen verdient. Und dann ist da noch Evie, eine betagte ältere Kanadierin, die sich als Tiefseeforscherin einen Namen gemacht hat und nun auf der Insel lebt.
Der Roman entwickelt eine Sogwirkung, der man nur schwer entkommt. Das liegt zum einen an den Themen des Buchs, die aktueller nicht sein könnten: Klimawandel, das Artensterben in den Ozeanen, unbändiger Kapitalismus, gesellschaftlicher und digitaler Wandel, KI. Zum anderen schreibt Powers auf eine intensive und dichte Art, der man sich nicht entziehen kann. Seine Figuren sind bis ins Kleinste ausgearbeitet, ihre Charaktere, ihre Leben. Wir erleben mit Evie eine emanzipierte und engagierte Frau, die ihrer Zeit weit voraus war und inmitten der Herrlichkeit des Pazifiks Rochen, Fledermausfische, Pygmäenseeferdchen und Flohkrebse ihre Freunde nennt. Rafi, der das geschriebene Wort so sehr liebt, dass er wahllos Bücher zu den verrücktesten Themen liest und seinen Job verliert, weil er eben diese vor dem Papiermüll bewahrt. Todd, der sich eine künstlichen Welt schafft und in Visionen denkt, die einem Elon Musk gleichkommen.
Powers Roman lässt sich auf vielfältige Art lesen. Ich persönlich empfand ihn als ein eindringliches Plädoyer zur Wahrung unserer Schätze, sei es, der Lebewesen, der Natur, der Ozeane auf diesem Planeten; sei es, der Kultur, der Literatur, der Geschichte der Menschheit. Eine (Rück)Besinnung auf das, was uns als Menschen ausmacht, Verbundenheit, Freundschaft, Gemeinschaft. Dabei flicht der Autor durch die Aspekte zum Kapitalismus und zum technologischen Wandel bis hin zu KI spannende Facetten mit ein, die – ich kann es nicht anders für mich ausdrücken – „krass in die Zukunft spinnen lassen“.

Bewertung vom 06.10.2024
Am Rande das Licht
Ghedina, Minu

Am Rande das Licht


ausgezeichnet

Ein wunderschöner Roman über das Erwachsenwerden -David wächst bei seinen Eltern und dem Großvater in einem liebevollen, warmherzigen und dem Leben zugewandten Umfeld auf. Der Vater ist Museumsdirektor und erweckt in dem Jungen schon früh die Liebe zur Kunst; der Großvater nimmt ihn regelmäßig mit in den Wald und lehrt ihn den Schutz der Natur. Die Familie liebt und unterstützt ihn, bestärkt ihn in seinen Entscheidungen und ist stolz auf ihn.
Und doch hadert David, benannt nach der größten aller Skulpturen der Antike, Michelangelos Meisterwerk. Wer ist er schon im Vergleich zu diesem perfekten Helden? Zu dieser makellosen, kraftstrotzenden Schönheit? Diesem Inbegriff an Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und Bewunderung. Und so verzagt David, still und in sich gekehrt, „eigenartig“ auf seine Art. Er geht Schritt für Schritt durch das Leben, zögert, vergleicht, beurteilt, fühlt sich nicht gut genug. Und doch macht er seinen Weg.
Die Erzählsprache dieses Romans ist ein Kunstwerk für sich! Minu Ghedina schreibt in einer poetischen, bildgewaltigen und intensiven Art, dass man sich nicht „sattlesen“ kann. Ein Satz schöner als der nächste und mehr als einmal musste ich innehalten, atmen, lächeln, weiterlesen. Ein Roman, der seine Zeit braucht, um sich voll zu entfalten und zu wirken.
Selten hat mich ein Roman emotional auf so viele Arten ergriffen, wie dieser hier. Ich möchte diesen David in den Arm nehmen und ihm Zuversicht zusprechen, mit dem Großvater durch den Wald gehen und von ihm lernen, mit dem Vater ein Museum besuchen und seine Version zum Kunstwerk hören. Und ich möchte David sagen, dass er auf seine Art genau dieser David ist, den Michelangelo da geschaffen hat.
Ein wunderschöner Coming-of-Age Roman, der sich so perfekt in die Herbststimmung einfügt, dass es eine wahre Freude ist! Leseempfehlung, Jahreshighlight, Herzensbuch!