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MR
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Wien

Bewertungen

Insgesamt 2 Bewertungen
Bewertung vom 16.10.2017
Kritik von Lebensformen
Jaeggi, Rahel

Kritik von Lebensformen


sehr gut

Per Immanenter Kritik zur Transformation

In vier Teilen legt arbeitet sich Jaeggi in diesem sehr dichten, philosophischen Werk zur Transformation von Lebensformen durch. Es beginnt mit einer Erklärung warum Jaeggi Lebensformen für Kritikwürdig hält. Hier grenzt sie sich zu Rawls, Kant und Habermas ab welche die private Lebensführung der Nichtbetrachtung überlassen. Für Jaeggi gibt es aber gute Gründe diese zu kritisieren und das macht sie dann in ihrem Buch. Sie bleibt dabei stets auf einem abstrakten, theoretischen Level und kritisiert Inhalte nie konkret – außer in manchen sehr hilfreichen Beispielen zu Einzelaspekten. Ihre Analyse hat daher ein interessantes normatives Level das sehr funktional ist: Eine Lebensform ist gut, wenn sie sich transformieren kann und schlecht, wenn sie es nicht kann. Inhaltlich konkreter wird Jaeggi nie. Zentral für Jaeggi ist das Lebensformen Problemlösungsinstanzen sind. Die Familie bspw. Ist eine Lösung für das Problem Nähe, Sicherheit, Geborgenheit usw. Lebensformen können aber auch in Krisen geraten, wenn sich das Problem ändert oder neue Aspekte hinzukommen. Und hier setzt Kritik an, bei Jaeggi immanente Kritik die sie ausführlich gegenüber interner und externer Kritik abgrenzt. Eine Kritikerin muss mittels immanenter Kritik Widersprüche in Lebensformen aufdecken um damit einen Lernprozess, eine Transformation anzustoßen. Diese Kritik und auch der Lernprozess ist durchaus komplex und Gegenstand der Teile drei und vier in ihrem Buch.

Vieles an dem Buch hat mir gut gefallen. Jaeggi argumentiert überzeugend, dicht und nimmt – für mich – spannende und neue Perspektiven ein und regt neue Gedankengänge an. Das Buch ist, gerade wenn es um die häufig eingewebten philosophischen Verweise zu Hegel, Dewey oder Macintyre geht, recht anspruchsvoll und richtet sich vermutlich mehr an ein Fachpublikum als an den durchschnittlichen Leser.

Weniger gut gefallen hat mir, dass Jaeggi gar nicht auf Herrschaftsverhältnisse bzw. Machtphänomene eingeht. Das ist meiner Meinung nach eine große Schwäche des Buches. Bei Jaeggi geht es im Grunde darum, systematische Lernblockaden mit immanenter Kritik aufzudecken. Und auch wenn sie sehr allgemein argumentiert sind doch gerade Herrschaftsverhältnisse DIE systematische Blockade, wenn es um Erneuerung, Reform, Transformation geht. Wenn man sich nur das Beispiel der Homoehe in Deutschland anschaut. Jahrelang haben konservative Kräfte es erfolgreich geschafft eine Transformation des Konzeptes Ehe zu blockieren. Solch reaktionäre Kräfte gibt es in allen Lebensformen und das sind nicht immer offensichtliche Akteure, sondern Lebensformen werden auch subtil über Strukturen, Institutionen, Präferenzen usw. abgesichert. Dadurch dass Jaeggi dies gar nicht anspricht, verpasst sie Ideen oder Anweisungen zu geben wie damit umzugehen ist. Sehr schade.

Ich habe das Buch in einem Vergleich auch der "Imperialen Lebensweise" von Ulrich Brand und Markus Wissen gegenübergestellt. Eine sehr spannende, kontrastreiche Lektüre. Wenn jemand an dem Vergleich, oder einer ausführlicheren Besprechung interessiert ist, dann möchte ich auf meine Besprechung auf Youtube verweisen. https://www.youtube.com/watch?v=3pEI-8y8evY

Bewertung vom 16.10.2017
Imperiale Lebensweise
Brand, Ulrich;Wissen, Markus

Imperiale Lebensweise


sehr gut

Lebens auf Kosten anderer: die imperiale Lebensweise

In dem Buch imperiale Lebensweise beschreiben die Autoren Brand und Wissen ausführlich und eindrücklich wie unsere aktuelle Lebensweise Menschen und der Natur, vor allem anderso, schaden. Sie gehen dabei besonders auf Herrschaftsverhältnisse ein und beschreiben wie sich die imperiale Lebensweise mittlerweile so stark ausgebreitet und in unserem Alltag etabliert hat, dass wir sie als ganz natürlich und normal betrachten. Das ist nicht verwunderlich da die imperiale Lebensweise für Menschen des globalen Nordens ein bequemes und annehmliches Leben ermöglicht: Erdbeeren das ganze Jahr über, Flugreisen für viele wohin und wann man will, usw. Die Kehrseite davon - und unmittelbar zusammenhängend - ist Ausbeutung von Arbeitern im globalen Süden, die Verschmutzung und Zerstörung von Natur. Für Brand und Wissen ist eine sozial-ökologische Transformation nötig um diese tief verwurzelte und schädliche Lebensweise zu überkommen. Ihr Vorschlag, das thematisieren sie im letzten Kapitel, ist eine solidarische Lebensweise bei der alle Menschen global und dauerhaft ein gutes Lebens führen können.
Brand und Wissens Buch ist ein eindringlicher Appell, dass unsere bisherigen Anstrengungen - die sie z.B. als Green Capitalism bezeichnen - nicht ausreichen werden die herrschenden Logiken und Herrschaftsverhältnisse aufzulösen. Aber nur dann ist es möglich auch wirklich die negativen Seiten unserer Konsum- und Produktionsformen zu überkommen. Die Imperiale Lebensweise ist der klare Schwerpunkt ihres Buches. Gleichzeitig kann das Buch auch pessimistisch stimmen. Während sie über 7 Kapitel die imperiale Lebensweise eindrucksvoll darlegen und aufbauen, kommt das letzte Kapitel mit den Lösungen vergleichsweise schwachbrüstig daher. Einige Punkte möchte ich nochmal besonders hervorheben.

Gut gefallen hat mir:
+ Wie eng sie den Begriff der imp. Lebensweise an Macht und Herrschaftsverhältnisse binden. Schon das Wort "imperial" deutet darauf hin. Ohne diese Darstellung wäre das ganze Konzept allerdings auch wenig sinnvoll gewesen so zentral sind Herrschaftsverhältnisse hierfür.
+ Die Fallstudie in Kapitel 6 zur Automobilindustrie ist eine schöne und anschauliche Diskussion die auf praktische und angewandte Art und Weise ihre Idee und Befürchtungen verdeutlicht.
+ Das sie insbesondere auch dem Staat eine wichtige Rolle zuschreiben und darlegen wie dieser hilft die imp. Lebensweise auf Dauer zu stellen.

Weniger gut gefallen hat mir:
- Das sie teilweise doch sehr einseitig argumentieren. Zum Beispiel des Aufstiegs Chinas in Kapitel 5 gehen sie beispielsweise ausschließlich auf negative Aspekte ein und vernachlässigen das es vielen Menschen dadurch auch ganz konkret besser geht.
- Brand und Wissen erwecken teils den Eindruck, dass alles schleche urch die imp. Lebensweise hervorgerufen wird und mit der solid. Lebensweise gelöst werden kann. Bei vielen Dingen wie Rassismus, Sexismus usw. kann man aber davon ausgehen das sie auch vor dem Kapitalismus existiert haben und auch nach dessen Ende existieren werden. Sich hier auf die imp. Lebensweise zu fokusieren, wie ich den Eindruck gewonnen habe, ist meiner Meinung nach verkürzt.
- Die Perspektive der Menschen im globalen Süden, also derer die aktuell unter der imp. Lebensweise besonders leiden, hätte man nochmal expliziter thematisieren können. Ich könnte mir vorstellen das auch solche Leute das Recht einfordern nach Australien fliegen zu wollen. Mir ist nicht ganz klar wie man diesen Konflikt auflöst, und ich hätte mich gefreut Brand und Wissen wären hierauf noch etwas eingegangen.

Ich habe das Buch in einem Vergleich auch der "Kritik von Lebensformen" von Rahel Jaeggi gegenübergestellt. Eine sehr spannende, kontrastreiche Lektüre. Wenn jemand an dem Vergleich, oder einer ausführlicheren Besprechung interessiert ist, dann möchte ich auf meine Besprechung verweisen: https://www.youtube.com/watch?v=3pEI-8y8evY

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