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Helena

Bewertungen

Insgesamt 128 Bewertungen
Bewertung vom 08.05.2024
Der Sommer, in dem alles begann
Léost, Claire

Der Sommer, in dem alles begann


sehr gut

Hélène ist sechzehn Jahre alt und lebt in der Bretagne: „Ihre Heimat, das ist nicht die anmutige Bretagne mit Meer und Möwen, den Gezeiten und dem Stechginster, der Salz und Sonne trotzt, nicht die Bretagne der Touristen und Segeljachten. Ihre Heimat, das ist das Landesinnere, die Bretagne der Kalvarienberge und Kapellen, mit moosbewachsenen Steinen, Farnkraut und Laubteppichen unter den Bäumen. Die Bretagne, in der man nicht Urlaub macht.“ Hélène ist zufrieden mit ihrem Leben und sie träumt nicht von der großen weiten Welt. Erst als die elegante und anmutige Literaturprofessorin aus Paris, Marguerite, als Lehrerin in die Bretagne kommt, stellt sie nicht nur Hélènes Welt auf den Kopf, sondern rüttelt das ganze Dorf auf – ganz besonders der Witwe Tanguy ist sie ein Dorn im Auge und so beschließt diese jener einen Denkzettel zu verpassen. Es brodelt auch in anderer Hinsicht unter der Oberfläche, denn Marguerites Ehemann Raymond bringt Hélènes Innenleben zunehmend durcheinander und ihr bretonischer Freund Yannik, der Hélènes innerliche Veränderung wahrnimmt, fühlt sich zu den rebellischen Kräften der Bretagne hingezogen. Eine Katastrophe ist vorprogrammiert. Gleichzeitig lernen wir das tragische Schicksal von Odette kennen, die während des zweiten Weltkrieges ihre Eltern verliert und nach Paris geht, um für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Wie ihr Schicksal mit dem von Hélène und Marguerite zusammenhängt, erfahren wir im Laufe des Romans.

Claire Léost ist eine Meisterin der leisen, intensiven Töne und der bittersüß tragischen Komponenten. Die Autorin hat einen wunderbaren, intensiven und mitreißenden Roman geschrieben, der tatsächlich die perfekte Sommerlektüre ist – denn wenn die Tage lang sind, kann man bis spät in die Nacht lesen. Ich konnte mich von Hélène, Marguerite und Odette und ihren tragischen Schicksalen nicht losreißen. Ich habe die Geschichte um diese drei Frauen an einem Tag und einer Nacht gelesen, bis mir die Augen brannten. Losreißen konnte ich mich nicht. Weswegen ich bei all dem Lobgesang nicht ganze fünf Sterne vergebe? Das hat zwei Gründe: Zum einen fand ich das erste Kapitel, in dem zwei Beerdigungen geschildert werden, äußerst verwirrend. Alle vorkommenden Figuren werden mit Namen genannt und die Szene wird sehr reduziert beschrieben. Ich konnte verständlicherweise nicht nachvollziehen, wer wer ist, und was es mit den einzelnen Personen auf sich hat. Als ich im Roman weiter fortgeschritten war, bin ich zu der Beerdigungsszene zurückgekehrt und habe sie im Nachhinein besser verstanden. Entweder hätte man die Szene anders schreiben oder chronologisch passend in den Roman einfügen sollen. Mein zweiter Kritikpunkt betrifft die Figur der Odette, deren Entwicklung ich im Laufe des Romans nicht recht überzeugend fand. Abgesehen von den beiden Kritikpunkten war ich von „Der Sommer, in dem alles begann“ – im Original „Le Passage de l’été“, also „Das Vergehen des Sommers“ – sehr angetan. Der Schreibstil, der niemals ins Sentimentale abdriftet noch an Glaubwürdigkeit verliert, hat mich sehr aufgerüttelt, und die in sich stimmige Geschichte noch lange nach Beendigung der Lektüre beschäftigt. Vor allem auch die Beschreibung der Bretagne – der Landschaft und des Klimas, deren Einwohner und ihrer Mentalität sowie der sprachlichen Besonderheiten – da ich Französisch verstehe, war dies oftmals aufschlussreich und erheiternd für mich – war sehr authentisch und hat der erzählten Geschichte das gewisse Etwas und das landestypische Flair verliehen. Eine große Leseempfehlung von meiner Seite, nicht nur für frankophile Leser!

Bewertung vom 26.04.2024
Die Vermesserin der Worte
Seck, Katharina

Die Vermesserin der Worte


weniger gut

„Eines Morgens wachte Ida auf und fragte sich, wer man eigentlich war, wenn sich das, was man am besten konnte, aus dem eigenen Körper geschält hatte und über Nacht klammheimlich verschwunden war.“

Ida ist eine junge Schriftstellerin, die am 1. Januar von den Worten verlassen wird und keinen einzigen Buchstaben mehr zu Papier bringt. Und damit ihre Existenzgrundlage verliert. Theobald, ein befreundeter Briefträger, bringt Ida eines Tages eine Annonce mit, auf die er gestoßen ist. Gesucht wird eine Haushaltskraft für ein großes Anwesen. Kurzerhand macht sich Ida auf zum papiernen Anwesen und seiner Herrin, Ottilie Selig. Vor Ort stellt Ida schnell fest, dass nicht Ordnung und Sauberkeit Priorität in dem Haus haben, sondern vielmehr Ida Ottilie im Kampf gegen das Vergessen helfen und mit den Dorfbewohnern wieder versöhnen muss. Unversehens findet Ida beim Versuch zu helfen, ihre verlorenen Worte und die Fähigkeit des Erzählens wieder.

„Die Vermesserin der Worte“ stammt aus der Feder der jungen Autorin Katharina Seck. Die ersten beiden Kapitel des Romans haben mich begeistert und sehr neugierig auf den weiteren Verlauf der Geschichte gemacht. Leider konnte mich die Autorin weder mit der erzählten Geschichte noch mit ihrem Schreibstil überzeugen. Ich habe mich regelrecht durch den Roman gequält. Der Schreibstil ist sehr blumig, verschachtelt und mit Adjektiven überfüllt. Die Figuren sprechen „wie gedruckt“, halten lange Reden oder äußern sich wie aus einem Sprüchebuch. Zudem sind sie nicht kohärent, allen voran die Protagonistin. Ist sie am Anfang eine unsichere, in sich gekehrte Person, so wird sie kurz darauf zu einer zupackenden und lange Reden schwingenden Figur. Die Geschichte dreht sich zudem die meiste Zeit um die eigene Achse und kommt nicht voran. Einem bestimmten Genre lässt sich das Erzählte auch kaum zuordnen: Für ein phantastisches Werk ist es zu wenig märchenhaft, für einen Gegenwartsroman zu wenig realistisch. Und insgesamt viel zu rührselig für meinen Geschmack. Den Figuren, der Geschichte an sich und dem Roman selbst hat es definitiv an Leben gefehlt. Ich konnte mich folgenden Eindrucks nicht erwehren: Es kam mir vor, als hätte man Teilnehmern eines Schreibwettbewerbs einen tollen Romananfang gegeben und hätte sie aufgefordert die Geschichte weiterzuschreiben. Anschließend hätte sich die Jury für eine mittelmäßige Fortsetzung entschieden. Eine Leseempfehlung gibt es von mir somit nicht, aber ich bin sicher, dass der Roman seine Abnehmer finden wird.

Bewertung vom 27.03.2024
Das kleine Buch der großen Risiken
Thomä, Jakob

Das kleine Buch der großen Risiken


sehr gut

Jakob Thomä hat es sich zur Aufgabe gesetzt, alle die Menschheit bedrohenden Risiken in einem kleinen (210-seitigen) Buch zusammenzufassen und zu erläutern. Angefangen bei der Atombombe über Cyberrisiken, Geoengineering, Künstliche Intelligenz, Nanotechnologie, Vulkane und Waffen bis zu Zombies wird jeder Buchstabe des Alphabets in diesem Buch abgedeckt. Der Autor geht folgendermaßen vor und zwar erklärt er das Risiko in einem Satz, beantwortet die Frage „Muss ich mir Sorgen machen?“ und geht im Weiteren auf das behandelte Risiko näher ein. Dass er dabei keine (Recherche-)Arbeit gescheut hat, zeigt das über 13-seitige Inhaltsverzeichnis zur Sekundärliteratur. Nichtsdestotrotz handelt es sich bei dem Buch um keine trockene Lektüre, da der Autor sowohl Humor als auch Persönliches in die einzelnen Kapitel einfließen lässt – zuweilen kamen mir manche humorvoll gemeinten Bemerkungen nicht ganz passend vor und manchmal habe ich ganz schlichtweg einige auch nicht verstanden, aber das mag bei jedem Leser und jeder Leserin sicher unterschiedlich sein. Was mich zusätzlich ein wenig irritiert hat beziehungsweise worüber ich gestolpert bin, war die Tatsache, dass fast ausschließlich von Forscherinnen und Wissenschaftlerinnen gesprochen wurde, nicht von Forscher*Innen und Wissenschaftler*Innen, obwohl ganz bestimmt beide Geschlechter gemeint waren. Das Buch ist allerdings aus dem Englischen übersetzt worden und dort wird anders gegendert – ich bin also diesbezüglich etwas ratlos zurückgeblieben.

Um aber zu einem zusammenfassenden Fazit zu kommen, ist „Das kleine Buch der großen Risiken“ folgendermaßen gedacht: Es umreißt ein Risiko, das unsere Existenz bedroht, es gibt einen groben Überblick über die Sachlage mit sehr viel persönlichem Input seitens des Autors und es soll zu eigenen Gedanken und Recherchen anregen, soweit das Interesse des Lesers beziehungsweise der Leserin zu einem bestimmten Punkt geweckt wurde. Als ganz und gar nicht trockene Literatur kann man „Das kleine Buch der großen Risiken“ jedem Leser egal welcher Altersgruppe in die Hand drücken und schauen, was passiert.

Bewertung vom 14.03.2024
Die sieben Türen
Draschoff, Adrian

Die sieben Türen


gut

„Plötzlich war ich da. Ich wusste, dass ich ein kleines Leuchten im Nichts war. Ein Glimmen. Aber mehr wusste ich nicht.“ Das kleine Leuchten im Nichts trifft auf die Raupe Yara und wird zu ihrem Protegé. Yara öffnet sieben Türen für das kleine Leuchten und unterhält sich mit ihm. Hinter den Türen befinden sich das Licht und die Dunkelheit, der Mut und die Angst, die Liebe und der Hass, das Glück und die Trauer, das Jetzt und die Unendlichkeit, alles und nichts sowie zum Schluss das Leben und der Tod. Das kleine Leuchten darf hinter jeder Tür so viele Fragen stellen wie es möchte und bekommt Antworten darauf. Am Ende soll es sich entscheiden, ob es sein Wissen mitnehmen und in ein höheres Bewusstsein aufsteigen, also zu einem allwissenden Stern am Firmament werden möchte oder ob es alles, was es erfahren hat, vergessen und das Leben eines Menschen führen möchte.

„Die sieben Türen“ ist ein schön gestaltetes Buch. Der Text, der von Adrian Draschoff stammt, wird äußerst passend von Natascha Baumgärtners Illustrationen untermalt und getragen. Die Illustrationen stellen nicht nur eine Ergänzung zu dem Geschriebenen dar, sondern spiegeln es wider und erweitern es um eine visuelle Dimension. So entsteht eine kongeniale Konstruktion aus Text und Bild, die sich gegenseitig beeinflussen und tragen. Dadurch wird „Die sieben Türen“ zu einer innovativen Lektüre. Die Illustrationen gefallen mir sehr gut, sie sind so gestaltet, dass sie die Fantasie des Betrachtenden wecken und eigene Bilder, Erweiterungen der Illustrationen entstehen lassen. Weniger gefallen hat mir der Text. Tatsächlich finde ich ihn nicht philosophisch, wie es eigentlich bei diesem Thema zu erwarten wäre. Vielmehr liest es sich wie ein Lebensratgeber und nicht wie ein Buch, das die existentiellen Fragen unseres Daseins zu erklären versucht. Als es zum Beispiel um die Zeit geht, heißt es unter anderem: „Die Menschen reden gerne und viel über mich, aber verstehen doch nicht, wie kostbar ich bin. […] Erst wenn sie merken, dass ich ihnen davonlaufe, bekommen sie Angst und versuchen sich in einem Wettrennen gegen mich. […] Akzeptiere die Vergangenheit und umarme die Zukunft. […] Nutze jeden Moment.“ Das ist für mich keine philosphische Betrachtung der Zeit. Das klingt einfach nach einem Lebensratgeber. Und ist auch nichts Neues. Ich denke, alles, was in dem Buch steht, weiß eigentlich auch jeder erwachsene Mensch. Mit einer Sache stimme ich sogar nicht mit dem Autor überein: In dem Kapitel, wo es um Liebe und Hass geht, heißt es, Hass wäre die Abwesenheit von Liebe. Ich finde aber, dass die Abwesenheit von Liebe Gleichgültigkeit ist, nicht Hass. Summa summarum: Es ist eine schöne Idee, das Buch, und die Illustrationen sind sehr gelungen, den Text fand ich dagegen leider nicht besonders anspruchsvoll oder inspirierend. Dennoch denke ich, dass das Buch die Mehrheit ansprechen wird. Insgesamt vergebe ich drei Sterne: Für die Idee und das kongeniale Zusammenspiel aus Bild und Text.

Bewertung vom 08.03.2024
Kosakenberg
Rennefanz, Sabine

Kosakenberg


ausgezeichnet

„Das Leben in Kosakenberg war wie Marmelade in einem Glas konserviert, ein anderes Jahrhundert.“

Kathleen ist 26 Jahre alt, als sie Kosakenberg endgültig hinter sich lässt. In London wird sie als Grafikerin arbeiten und sich dort ein neues Leben aufbauen. Sie ist glücklich, dass sie ihre alte Heimat, ein ehemaliges Dorf der DDR hinter sich lässt. Denn weg möchte eigentlich jeder von den Jungen. „Wir verließen nicht nur unsere Familien, unsere Häuser, unsere Dörfer, sondern auch unsere Vergangenheit. Wir wollte andere werden und in dem Wollen steckte schon die Trauer um den Verlust. Wie gingen weg, um zu suchen, was wir gleichzeitig verloren. Eine Heimat. […] Es hieß, wir gingen wegen der Arbeit, zum Studieren, es hieß, wir gingen aus Abenteuerlust, es hieß, wir gingen, weil der Westen die Zukunft war, aber wir gingen auch, weil wir nicht mehr konnten. Nicht mehr atmen konnten. Vom Dorf in die Stadt, von der Stadt in die Großstadt und dann weiter weg, immer weiter. Weg von den Schmerzen der eigenen Haut. In der Hoffnung, der Gestalt zu entfliehen, die uns aufgezwungen wurde.“ Zehn Heimfahrten soll es für Kathleen geben, seit sie sich ein neues Leben in London aufbaut. Die Anlässe sind verschieden: Um ihren festen Freund der Mutter vorzustellen, um auf der Hochzeit einer Freundin da zu sein oder auch, um auf eine Beerdigung zu gehen. Jede Heimreise wird zu einer schmerzhaften Erfahrung. Denn einerseits sind hier Kathleens Wurzeln, ist hier ihr Elternhaus und ihre Vergangenheit. Andererseits weiß sie mit dem Leben, das die Bewohner Kosakenbergs führen, nichts anzufangen. Es ist ihr vollkommen fremd geworden. „Heimreisen, das hatte ich inzwischen gelernt, waren Manöver durch energetische Felder. Es war, als kreiste man um einen Magnet, der einen entweder anzog oder abstieß.“ Als die Mutter das Elternhaus an Nadine, eine ehemalige Freundin von Kathleen, verkauft, wird Kathleen schmerzhaft bewusst, dass sie eine enge Bindung zu ihrem Heimatdorf verspürt, die sich nicht leugnen lässt. „Ich hatte geglaubt, wenn ich mich lossagen würde, wenn ich das Haus verlassen würde, wenn ich ein Leben fern von dem Haus und jenen, die es bevölkerten, leben würde, wenn ich meine Wurzeln mit aller Macht herausreißen würde, dann könnte ich mich neu erfinden und jemand anderes werden. Nun vermisste ich das Mädchen von früher. Vielleicht ließen sich Wurzeln nie ganz entfernen. Vielleicht schaffte man das bei sich selbst gar nicht.“

Sabine Rennefanz Roman „Kosakenberg“ hat mich tief bewegt. Ich habe noch nie ein Buch gelesen, das so gut in Worte fasst, was es bedeutet, seine Heimat zu verlassen, sich eine andere Wahlheimat zu suchen und sich zwischen diesen beiden Polen zu bewegen. Es ist ein sehr analytisches und gleichzeitig ein sehr persönliches Buch. Kathleens Geschichte ist individuell und lässt sich trotzdem auf jeden anderen Weggehenden anwenden. Die Wunde, die beim Verlassen der Heimat entsteht, verheilt niemals gänzlich. Die Ich-Erzählerin versucht eine Mauer um ihre Gefühlswelt aufzubauen, damit sie nichts verletzen kann, was in ihrem alten Heimatdorf passiert, gesagt oder getan wird. Doch es gelingt ihr nicht. Kathleen bleibt verletzlich und emotional an dem Geschehen im Dorf beteiligt. Ein immer wiederkehrendes Motiv in dem Roman ist das Motiv des größer werdenden Flecks: Als Kathleens Mutter ihr eine Packung Eier nach London schickt und eins der Eier zerbricht, wird der Fleck auf dem Teppich trotz Kathleens verzweifelter Versuche, den Fleck zu entfernen, immer größer. Auch nachdem Nadine Kathleens ehemaliges Elternhaus kauft und in ein Ferienhaus umwandelt, kehrt irgendwann der nasse Fleck an der Hauswand, der von einem undichten Wasserrohr herrührt, zurück. Der Fleck steht symbolisch für Kathleens Herkunft: Je angestrengter sie versucht, diese zu verbergen, zu negieren, desto stärker tritt sie wieder hervor. Doch das letzte Kapitel des Romans lautet „Wiederkommen“ – ein Versprechen, eine Vorahnung für die letztliche Versöhnung mit der eigenen Herkunft und Vergangenheit?

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.02.2024
Lichtungen
Wolff, Iris

Lichtungen


sehr gut

„Ob es im Westen alles gab? Ob man wirklich überall hinreisen konnte? Ob eine Sprache für ein Land reichte? Für das Sagbare und Unsagbare, Offensichtliche und Verborgene, Wahre und Unwahre?“

Lev und Kato verbindet eine besondere Freundschaft. Als Lev sich am tiefsten Punkt in seinem Leben befand, war Kato diejenige, die ihn aus dem Zustand größter Hoffnungslosigkeit herausholte. Seitdem sind die beiden unzertrennlich und vertrauen einander bedingungslos. Als Kato das Heimatdorf und auch die Landesgrenzen hinter sich lässt, fühlt sich Lev verraten und er lässt viel Zeit verstreichen bevor er Kato in Zürich besuchen kommt. Zusammen mit Lev erleben wir das Wiedersehen und lernen in umgekehrt chronologischer Reihenfolge die Phasen und Ereignisse in Levs Leben kennen, die ihn als Menschen besonders geprägt haben.

Mit „Lichtungen“ legt uns die Autorin Iris Wolff einen sehr atmosphärischen Roman vor, den man am besten als ein Buch der leisen Klänge bezeichnen könnte. Es ist ein unaufgeregtes, aber trotzdem sehr intensives Buch. Mit nur wenigen Worten wird eine ganze (Innen)Welt erschaffen, die da Erzählte hautnah miterleben lässt. Wir tauchen in Levs Innen- und Außenleben ein und erfahren auf diese Weise wie ein empfindsamer Mensch im kommunistischen Rumänien aufwächst und wie er seine innere Freiheit trotz widriger politischer Umstände bewahrt. Iris Wolff hat sich in ihrem Roman „Lichtung“ für die zeitlich umgekehrte Chronologie der Erzählung entschieden. Mir persönlich hat diese Erzählweise etwas den Zugang zu dem Erzählten, der Hauptfigur und den weiteren in Erscheinung tretenden Figuren erschwert und ich weiß nicht, ob ich den Roman in klassisch chronologisch erzählter Form nicht besser gefunden hätte. Nichtsdestotrotz ist „Lichtungen“ ein wahrer Schatz unter den Neuerscheinungen, da Iris Wolff ohne Zweifel zu den Autorinnen gehört, die das „Sagbare und Unsagbare, Offensichtliche und Verborgene, Wahre und Unwahre“ in Worte zu kleiden weiß.

Bewertung vom 20.10.2023
Florence Butterfield und die Nachtschwalbe
Fletcher, Susan

Florence Butterfield und die Nachtschwalbe


weniger gut

Nachdem die alleinstehende Florence Butterfield einen Unfall erleidet und an den Rollstuhl gefesselt ist, wird klar, dass sie nicht mehr alleine in ihrem Cottage wohnen kann. Ihre Suche nach einer geeigneten Seniorenresidenz ist schließlich erfolgreich. Babbington Hall ähnelt eher einem Herrenhaus mit seinem großen, verwinkelten Garten voller Obstbäume und Wildblumen als einem Altersheim. Hier fühlt sich Florence unglaublich wohl. Doch ihr Glück wird sehr schnell getrübt: Zuerst erleidet ein Bewohner der Seniorenresidenz einen tödlichen Unfall, kurz darauf stürzt Ranata, die Leiterin des Heims, aus dem Fenster. Florence glaubt nicht an einen tragischen Unfall und stellt Nachforschungen an, die sie immer näher an die Wahrheit bringen…

Die Autorin Susan Fletcher war mir bereits durch ihren Vorgängerroman „Das Geheimnis von Shadowbrook“ bekannt und so war ich sehr gespannt auf ihren neuesten Roman, bei dem das Cover als auch der Klappentext mich gleichermaßen angesprochen haben. Doch so sehr ich „Das Geheimnis von Shadowbrook“ mochte, so sehr war ich von „Florence Butterfield und die Nachtschwalbe“ enttäuscht. Während der Vorgängerroman geheimnisvoll, spannend und voller unerwarteter Wendungen war, plätschert die Geschichte des gegenwärtigen Romans gemächlich vor sich hin. Während das Geschehen in „Das Geheimnis von Shadowbrook“ glaubwürdig und schlüssig ist, sind die Handlung und die Begebenheiten in „Florence Butterfield und die Nachtschwalbe“ ziemlich weltfremd, naiv und unglaubwürdig. Während die Figuren in „Das Geheimnis von Shadowbrook“ interessant, vielschichtig und originell waren, sind die Figuren in „Florence Butterfield und die Nachtschwalbe“ uninspiriert, einfältig und flach. In gewisser Weise ist die Auflösung des Kriminalfalls in dem Roman nachvollziehbar, aber die Charaktere, ihr Innenleben und das Romangeschehen haben schon derartig an meinen Nerven gezogen, dass ich einfach nur froh war, den Roman beendet zu haben. So sehr ich gewillt war, den neuesten Roman von Susan Fletcher zu mögen – leider war mir dies nicht möglich. Von Susan Fletchers Gabe, eine Geschichte geheimnisvoll und spannend bis zum Ende erzählen zu können, ist hier leider nichts zu spüren.

Bewertung vom 13.10.2023
Die Wahrheiten meiner Mutter
Hjorth, Vigdis

Die Wahrheiten meiner Mutter


ausgezeichnet

„Bitte lass mich deine Augen sehen! Deine großen dunklen Augen! Sie sind kalt, ja, das weiß ich! Aber lass sie mich anschauen, lass mich tief in sie hineinsehen und sehen, ob es in der tiefsten Tiefe einen Gedanken für mich gibt, einen kleinen guten Gedanken über mich!“

Johanna, eine angesehene Künstlerin, die auf die sechzig zugeht, hat vor über dreißig Jahren ihr Elternhaus und ihren Ehemann verlassen und dabei ein ‚sicheres Leben‘ für Freiheit und einen anderen Mann aufgegeben. Nach dem Tod dieses Mannes kehrt Johanna in ihre Heimatstadt zurück – etwas drängt sie unaufhörlich, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Ihr Vater, vor dem sie immer Angst hatte, ist vor einigen Jahren gestorben, und zu der jüngeren Schwester hat Johanna nie ein enges Verhältnis gehabt. Was Johanna interessiert, ja geradezu schmerzhaft bedrängt, ist der Gedanke an ihre Mutter. Was für ein Mensch war und ist sie? Wie war ihre Kindheit, Jugend und Elternzeit? Wie hat sie ihre Ehe empfunden? Wie war ihr Verhältnis zu Johanna und sind ihre Erinnerungen mit denen von ihrer Tochter kompatibel? Hat sie Johanna geliebt und wie war es für sie, als ihre Erstgeborene das Zuhause für immer verlassen hat? Möchte sie aus freien Stücken keinen Kontakt mehr zu Johanna haben oder ist es nur der Wille ihrer jüngeren Tochter? Diese und viele weitere Fragen beschäftigen die Ich-Erzählerin. Da die Mutter Johannas Telefonanrufe nicht entgegennimmt, fährt die Ich-Erzählerin zu der Straße, auf der die Mutter wohnt, versteckt sich, macht sich mit deren Angewohnheiten vertraut und folgt ihr regelmäßig mit ein paar Metern Entfernung. Ihr Verhalten hat etwas Wahnhaftes an sich. Doch je mehr man in das Innenleben und die Vergangenheit der Protagonistin eintaucht, desto besser kann man ihr Handeln nachvollziehen. Als es schließlich zu einer unmittelbaren heftigen Konfrontation zwischen Mutter und Tochter kommt, erkennt Johanna, dass es keinen Austausch auf einer Ebene mit ihrer Mutter geben kann. Da sich die Mutter nie den Wahrheiten in ihrem Leben gestellt hat, kann Johanna ihre ehemalige Heimat und auch ihre unaufgearbeitete Vergangenheit schließlich für immer hinter sich lassen.

Es ist ein einzigartiges Erlebnis, in die Gedankenwelt der Ich-Erzählerin einzutauchen. Vigdis Hjorth verfügt über eine wunderschöne, subtile, leichtfüßige Sprache, die gleichzeitig eine Direktheit, Intensivität und Gewalt ausübt, dass der Leserin buchstäblich der Atem wegbleibt. Man fühlt sich wie von einer Schlingpflanze umwoben, die zunächst zart und schmeichelnd die Seele berührt, dann aber immer fester zuschnürt. Ich ziehe meinen Hut vor dieser schriftstellerischen Meisterleistung, die einer Mutter-Tochter-Beziehung so tief auf den Grund gehen und dabei auch die Leserin dauerhaft in ihrem Denken prägen kann.

„Die Mutter ist ein Spiegel, in dem die Tochter sich selbst in der Zukunft sieht, und die Tochter ist ein Spiegel, in dem die Mutter ihr verlorenes Ich sieht, vielleicht will Mutter mich nicht sehen, um nicht zu erfahren, was sie verloren hat? Vielleicht muss ein Kind gegen die Eltern aufbegehren, um seinen eigenen Willen zu entdecken und seinen eigenen Weg zu finden, und wenn die Eltern das ertragen und damit umgehen können, können alle Beteiligten danach eine gleichwertige Beziehung entwickeln, weil sich in der Hitze des Gefechts alle nackt und verletzlich gezeigt haben und weil alle versucht haben, komplizierte und ambivalente Gefühle in Worte zu fassen, etwas, das Mutter und ich nie getan haben. Das ist es, was geschehen muss, damit der Teufelskreis aus Schmerzen gebrochen werden kann.“

Bewertung vom 30.08.2023
Frau Komachi empfiehlt ein Buch
Aoyama, Michiko

Frau Komachi empfiehlt ein Buch


ausgezeichnet

„Die Erde dreht sich. Vom Sonnenlicht beschienen, den Mond betrachtend. Auch ich werde mich stets wandeln und weiterentwickeln, fest verwurzelt mit der Erde zum Himmel blickend. Um dem Leser, der gerade diese Buchseite aufschlägt, eine «größere Wahrheit» zu vermitteln.“

Tomoka, 21 Jahre, Verkäuferin; Ryo, 35 Jahre, Buchhalter; Natsumi, 40 Jahre, ehemalige Zeitschriftenredakteurin; Hiroya, 30 Jahre, arbeitslos und Masao, 65 Jahre, Rentner – diese fünf Personen stehen an einem Wendepunkt in ihrem Leben: Sie hadern mit ihrer gegenwärtigen Anstellung oder leiden darunter, dass sie keiner Arbeit nachgehen. Wer schon einmal in Japan war oder sich ein wenig mit dem Land auskennt – ich selbst war im Mai für zwei Wochen zum ersten Mal in Japan – der weiß, dass die Arbeit eine wichtige Rolle im Leben der Japaner und Japanerinnen spielt. Deshalb ist auch nicht verwunderlich, dass die fünf Figuren in Michiko Aoyamas Roman nach einer erfüllenden Tätigkeit suchen. Im Laufe ihrer individuellen Geschichte, die sie uns erzählen, treffen die fünf Protagonisten auf Sayuri Komachi, die in einer Bibliothek im Gemeinschaftszentrum arbeitet. Sie empfiehlt ihren Klienten Bücher, nach denen sie auf der Suche sind, es befindet sich aber immer eine Art Ausreißer auf der Liste, der nicht zu den restlichen Büchern passt. Bei diesen Ausreißern handelt es sich um eine persönliche Empfehlung von Frau Komachi, die jeweils eine Veränderung bei den Suchenden auslöst. Außerdem gibt es immer eine Art Zugabe zu dem Buch – ein kleines Filzobjekt, das Frau Komachi selbst hergestellt hat. Dabei wählt sie die Zugaben nach Intuition aus, genau so wie die Ausreißer-Bücher, wie sie selbst erklärt: „Der Leser assoziiert das Geschriebene mit seinem eigenen Leben und zieht etwas sehr Persönliches aus der Lektüre, das vielleicht gar nichts mit der ursprünglichen Absicht des Autors zu tun hat.“ Frau Komachi wird von den fünf Figuren unterschiedlich beschrieben, Übereinstimmung herrscht allerdings darüber, dass sie groß und füllig ist und eine ungemein weiße Haut hat. Tomoka erinnert sie an einen Eisbären, Ryo vergleicht sie mit dem Marshmallow Man aus Ghostbusters, Natsumi assoziiert Disneys Baymax mit ihr, Hiroya behauptet, sie sähe wie Genma Saotome aus – der Pandabär aus dem Manga Ranma ½ und Masao denkt bei ihrem Anblick einen riesigen Kagami-Mochi. Das ist äußerst ergötzlich zumal es keinesfalls herabwürdigend gemeint ist. Ich hatte das Gefühl, dass die Figur der Frau Komachi so beschrieben wurde, um Ähnlichkeit mit einem Buddha herzustellen – sie verkörpert Gleichmut, Ruhe, Weisheit und die Kenntnis des menschlichen Geistes. Sayuri Komachi übt großen Einfluss auf das Leben von Tomoka, Ryo, Natsumi, Hiroya und Masao aus, aber die Verflechtungen zwischen den einzelnen Figuren untereinander werden im Laufe des Romans ebenfalls offenbar. Die Hauptfiguren, aber auch Randfiguren in dem Roman beeinflussen sich gegenseitig. Der aufmerksame Leser wird seine helle Freude daran haben, Figuren aus den vorangehenden Geschichten wiederzubegegnen und Näheres über sie zu erfahren.

„Frau Komachi empfiehlt ein Buch“ von Michiko Aoyama ist ein wahres Herzensbuch. Ich konnte es gar nicht aus den Händen legen, weswegen ich sogar beim Gehen gelesen habe – das habe ich tatsächlich schon seit längerem nicht mehr getan – und die Passanten haben mir mit einem verständnisvollen Lächeln Platz gemacht. Belletristik, in der es darum geht, dass Bücher eine heilende Wirkung ausüben oder eine Veränderung herbeiführen, findet immer einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen. So auch dieser Roman, der aufzeigt, wie fünf verschiedene Bücher fünf unterschiedliche Lebensschicksale ins Positive gewendet haben.

Wonach suchen Sie? Nach einem herzerwärmenden Roman? Dann sind Sie hier genau richtig!

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Bewertung vom 15.08.2023
Nichts in den Pflanzen
Haddada, Nora

Nichts in den Pflanzen


sehr gut

„Es ist so viel Wut in dir“, bekommt Leila, die Protagonistin und Ich-Erzählerin des Romans „Nichts in den Pflanzen“ stets zu hören und so ist es auch – Leila, deren Name nicht umsonst „sehr finstere lange Nacht“ bedeutet, bringt Wut und Zerstörung mit sich. Für ihr Drehbuch, das gleichzeitig ihr Durchbruch in der Filmwelt sein soll, ist sie bereit über Leichen zu gehen. So nutzt sie ihren Partner Leon, der eine Koryphäe im Filmgeschäft ist, für ihre Zwecke aus und versucht ihn gleichsam mit ihrem Aufstieg in den Abgrund zu ziehen und zu zerstören. Als Leila in eine Schreibblockade gerät, die in einer Schreibkrise mündet, sucht sie diese auf jede erdenkliche Art zu lösen. So geht sie mit dem „Anderen Leon“ eine Liebesbeziehung ein und nutzt ihn intellektuell aus, weil sie ihn für ihre Muse hält. Denn an die Liebe glaubt Leila nicht und Nettigkeit verachtet sie zutiefst. Grausamkeit und Zerstörung sind Begriffe, mit denen sie durchaus etwas anfangen kann – nur dank ihnen kann der Durchbruch gelingen. Zu dumm nur, dass es eine Konkurrentin gibt, die eine ähnliche Idee für ein Kammerspiel hatte und höchstwahrscheinlich vor Leila fertig wird. Und dann sind da diese lästigen Fliegen, die aus ihrem Laptop zu kriechen scheinen und Leila die Schreibarbeit erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Dabei ist doch nichts in den Pflanzen. Die sind gesund. Nein, den Pflanzen fehlt nichts. Natürlich nicht. Und auch kein Kammerjäger kann ein Mittel gegen die Fliegen mit den grünen Augen finden, die schwarze Flecken hinterlassen, wenn man sie zerdrückt, denn sie stehen metaphorisch für nichts anderes als die innere Verdorbenheit der Ich-Erzählerin.

Nora Haddada gelingt mit „Nichts in den Pflanzen“ ein geniales, bitterböses Debüt, das mit seiner Scharfsicht und Sprachbrillanz leuchtet. So wie sich die Ich-Erzählerin in Haddadas Roman dagegen wehrt die Hauptfigur in ihrem Drehbuch netter oder zumindest menschlicher zu machen, so wehrt sich auch die Autorin dagegen, ihre Protagonistin Leila freundlicher zu gestalten – denn das würde die Botschaft des Romans verfälschen. Es geht nicht darum, sich mit der Hauptfigur zu identifizieren, ganz im Gegenteil: Durch die Distanzierung von der Ich-Erzählerin soll unser unverfälschter, kritischer Blick auf die Untiefen unserer Lebenswirklichkeit scharf gehalten werden. Einen Stern Abzug gibt es lediglich für das abrupte Ende, das meiner Meinung nach nicht zu der Protagonistin passt und daher insgesamt die Aussage des Romans abschwächt. Ich freue mich auf weitere Bücher aus der Feder dieser jungen, brillanten Gegenwartsautorin!

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