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cebra

Bewertungen

Insgesamt 15 Bewertungen
12
Bewertung vom 13.01.2024
Die Bücher, der Junge und die Nacht
Meyer, Kai

Die Bücher, der Junge und die Nacht


ausgezeichnet

1943: Ein Junge wird bei dem Angriff auf Leipzig aus seinem Gefängnis befreit, in welchem er sein ganzes bisheriges Leben verbrachte. Sein Retter fordert von ihm den Diebstahl eines Buches aus einem brennenden Gebäude. Dreißig Jahre später stößt Robert, der Sohn des Buchbinders Jakob Steinfeld, in der Bibliothek der Verlegerfamilie Pallandt auf Bücher, die direkt in seine eigene Vergangenheit führen. Gemeinsam mit seiner Freundin Marie nimmt er die Spurensuche auf.
Kai Meyer hat nicht nur ein überirdisches Talent für Beschreibungen von Ereignissen, Personen und Orten, sondern auch für Spannung. In drei Zeitepochen, 1933, 1943 und 1971 lässt er die Leser eintauchen, dabei jeweils hochgradig authentisch, die Orientierung gelingt daher jedes Mal auf Anhieb. Die ewigen Nebel des graphischen Viertels werden so spürbar wie die Endzeitstimmung einer Bombardierung, das Aufkeimen des nazistischen Gedankenguts oder das bunte Lebensgefühl der Siebziger.
Die drei Handlungsstränge führen rasant in die Tiefe der Geschichte, zunächst ist der Zusammenhang zu vermuten, dann verdichtet er sich. Gleichzeitig entsteht eine Komplexität, in deren Netz sich die Aufgabe, die Robert und Marie sich stellen, mühsam und gefahrvoll erweist.
Das ist interessant und fesselnd zu lesen, zumal der Autor punktgenau ausbalanciert, wie die Erzählstränge verknüpft werden, um dabei so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich an Informationen herzugeben.
Die Ausarbeitung der Charaktere gelingt hervorragend. Es entstehen Menschen, die einem nahekommen, die einen durch die Seiten begleiten, mit denen man hofft und bangt, aber auch von anderen, die man fürchtet und verabscheut. Man liest von unerschütterlichen Freundschaften, von Niedertracht und Hass.
Das romantische Moment ist dezent in die Geschichten eingeflochten, passt sich an, spielt durchaus eine wichtige Rolle, aber immer innerhalb des Ganzen. Und natürlich gehört als eine Art Signatur Meyers auch ein Hauch von Fantastik dazu.
Dass sich dieser Roman ausgerechnet um Bücher dreht, macht ihn für Leseratten sicherlich noch viel anziehender. Also, zugreifen und abtauchen!

Bewertung vom 28.02.2022
Tell
Schmidt, Joachim B.

Tell


ausgezeichnet

Die Sage des Schweizer Freiheitshelden ist hinlänglich bekannt. Hier wird sie neu erzählt.
Joachim B. Schmidt hat dazu eine ganz besondere Form gewählt: In kurzen Sequenzen lässt er einzelne Betroffene zu Wort kommen. Die spinnen den roten Faden der Handlung, indem sie sie aufgreifen, dort, wo der Vorerzähler aufhörte, oder eine andere Sichtweise einbringen, Erkenntnisse verfeinern. Das ist ein Staffellauf über eine weite Strecke, bei welcher der Stab von Hand zu Hand geht und sich - von einer Ausnahme abgesehen - genau wie dieser strikt an eine durchgängige Chronologie hält.
Man könnte bemängeln, dass der historische Hintergrund so gar nicht beleuchtet wird. Das wäre aber sehr kurz gedacht, denn das würde die radikal subjektiven Sichtweisen der einzelnen Personen verunmöglichen, und genau davon lebt das Buch. Die wechselnden Perspektiven erlauben sehr exakte Einblicke in Gefühlswelten, Wahrnehmungen und Gedanken, und verbauen die einzelnen Sequenzen zu einem bunten Mosaik, dessen Motiv sich nach und nach herausschält.
Wilhelm Tell zeigt sich als verschlossener, eigenbrötlerischer Bergbauer, dessen schwieriger Charakter sich später erklärt. Neben seiner Frau Hedwig, beider Mütter und dem ältesten der drei Kinder kommen Nachbarn und Freunde zu Wort, manchmal auch völlig Fremde. Und natürlich die Gegenspieler in Form marodierender Soldaten sowie Landvogt Gessler selbst.
Nur wenige, wie etwa der abscheuliche Harras, erfüllen, ja, überfüllen ihr Klischee. Andere zeigen sich unentschlossen, ängstlich, nachdenklich, überraschen andere und manchmal sich selbst - menschlich eben durch und durch.
Trotzdem ist auch Platz für Helden. Walter beispielsweise, der Erstgeborene, erobert die Herzen durch Besonnenheit, Verantwortungsbewusstsein und Mut. Aber auch die Großmütter, die, jede auf ihre Art, so viel zu geben bereit sind für die anderen. Und ja, auch Tell. Allerdings keineswegs so, wie man es erwartet.
Beeindruckend auch die Sprache: Mit großer Leichtigkeit führt sie nicht nur in die harsche Umgebung, die kargen Bedingungen der Zeit und der Region, in welcher die Geschichte angesiedelt ist, sondern überzeugt zudem als jeweils eigener Ausdruck der gerade erzählenden Person.
Ein wunderbares, großartiges, anrührendes Buch. Und, ganz nebenbei erwähnt, spannender als jeder Thriller.

Bewertung vom 11.12.2021
606
Fox, Candice

606


ausgezeichnet

John Kradle sitzt im Todestrakt von Pringshorn, Nevada, verurteilt wegen Mordes an seiner Frau und seinem Sohn. Nichts auf der Welt ist ihm wichtiger, als seine Unschuld zu beweisen und den wahren Täter zu finden. Ganz unerwartet bekommt er eine Chance, als ein Erpresser die Freilassung aller 606 Gefangenen erzwingt.

Sicherlich ist der Titel nicht ganz zufällig, gehört doch 606 zu den Engelszahlen und steht eben für den Engel, der Unterstützung bietet bei der Realisierung eines Wunsches.

Autorin Candice Fox verliert keine Zeit. Der Einstieg ist großartig inszeniert und gnadenlos spannend. Ganz kurz gibt sie Gelegenheit, sich in die Ausgangssituation hinein zu begeben und einigen Charakteren zu begegnen, ehe sie ihre Leserschaft in die Eskalation katapultiert. Eine knallharte Konfrontation, Erpressung, Hilflosigkeit. Die Panik ist absolut nachvollziehbar, die Verzweiflung der Betroffenen direkt zu spüren.
Die Anzahl der Personen ist herausfordernd. Zum Glück sind die Charaktere scharf gezeichnet, mit Ecken und Kanten und vielerlei Kennzeichen. Wirklich sympathisch gerät niemand, im Laufe des Geschehens, unter extremen Bedingungen, erweist sich manche Einschätzung als Trug. Doch das stört nicht, im Gegenteil. Man fährt sich emotional beim Lesen nicht fest, bleibt in alle Richtungen offen, so wie auch die rasante Handlung. Die ist voller Haken und überraschender Wendungen. Manche dieser Wendungen sind allerdings so überraschend, dass es einige Unglaubwürdigkeit zu verzeihen gilt.
Erzählt wird weitgehend chronologisch, eine ganze Reihe paralleler Ereignisse überfluten die Bühne, spielen ineinander, beeinflussen sich gegenseitig. Durchbrochen wird das Ganze von Rückblenden in die Vergangenheit der Hauptpersonen. Damit werden nachträglich Erklärungen aufgebaut, Tiefen geschaffen.
Im Gegensatz zu etlichen anderen fesselt dieser Thriller nicht durch Grausamkeiten, auch wenn es durchaus blutige Szenen gibt. Vielmehr sind es die Besessenheit, die Dringlichkeit, die Atemlosigkeit, mit der John Kradle sein Ziel verfolgt, und die Umstände, die ihn davon abzubringen versuchen, die dafür sorgen, dass man das Buch nicht aus der Hand legen kann.

Bewertung vom 27.09.2021
Barbara stirbt nicht
Bronsky, Alina

Barbara stirbt nicht


ausgezeichnet

Eines Morgens hat sich Herrn Schmidts Welt verändert. Anstatt ihm wie immer seinen Kaffee zum Frühstück zu präsentieren, liegt seine Frau Barbara auf dem Fußboden des Badezimmers und kommt aus eigener Kraft nicht mehr hoch.
Was immer Barbara fehlt, darüber lässt uns Alina Bronsky im Unklaren. Tatsache ist, dass sie von nun an nicht mehr in der Lage ist, weder ihren Mann noch sich selbst zu versorgen.
So kommt es, dass Herr Schmidt erstmalig selbst Hand anlegen muss, was ihn vor eine Riesenherausforderung stellt. Das beginnt mit dem Kaffee (Wo steht er und wie bereitet man ihn zu?) und setzt sich mit allem anderen fort.
Gleich zu Anfang schon möchte man am liebsten ins Buch springen, um diesen alten Egomanen an den Schultern zu packen, ihn zu schütteln und ihm zu erklären, dass seine Frau Hilfe braucht.
Ganz so einfach indes ist es nicht. In 52 Ehejahren hat sich vieles eingespielt zwischen den beiden. Man spürt stillschweigende Übereinkünfte und eine Art gewachsene Verbundenheit. Und so versucht die unwirsche Grummelbacke, auf ihre Weise der Situation gerecht zu werden. Der Mann, der Spezialist darin ist, andere vor den Kopf zu stoßen, den emotionale Regungen anwidern, der so gar keinen Wert auf fremde Meinungen legt, der die Welt am liebsten nie verändert sähe, der so stolz darauf ist, seiner Frau so nachhaltig ihren russischen Akzent abtrainiert zu haben, muss sich neuen Aufgaben stellen.
Obgleich die Ausgangssituation tragisch ist, von den Protagonisten selbst auch so empfunden, quillt aus jeder Zeile Komik. Bronsky setzt in ihrem unnachahmlichen Schreibstil und grandioser Beobachtungsgabe ganz konsequent Herrn Schmidt in den Mittelpunkt ihrer Erzählung und beschreibt minutiös dessen Auseinandersetzung mit seiner verschobenen Lage im Einklang mit seinem erzkonservativen Weltbild. Und tatsächlich, obgleich er von seiner Weltsicht nicht wirklich abzurücken bereit ist, setzt ganz behutsam Veränderung ein.
Ein wunderbares Buch, klug, sensibel und wahnsinnig komisch.

Bewertung vom 20.09.2021
Die letzten Romantiker
Conklin, Tara

Die letzten Romantiker


sehr gut

Im Jahr 2079 trägt die 102-jährige Dichterin Fiona Skinner Gedichte aus ihrem Werk vor. Eine junge Zuhörerin, die sich als Luna vorstellt, erregt ihre Aufmerksamkeit und veranlasst sie, ihre Geschichte zu erzählen.
Tara Conklin ist eine großartige Erzählerin. Leichtfüßig, abseits gängiger Floskeln und unter Umgehung jeglicher Klischees ergreift ihre alte Protagonistin das Wort, kehrt zurück in die Kindheit und lässt zunächst den unbeeinträchtigten und vorurteilsfreien Blick einer Vierjährigen gleichermaßen über heitere wie bedrückende Ereignisse wandern. Das Aufwachsen der vier Geschwister, der frühe Tod des Vaters, die anschließende Herausforderung durch die depressive Erkrankung der Mutter - all das wird unbestechlich genau und mit leisem, hintergründigen Humor ausgebreitet. Sie selbst, ihre beiden Schwestern Renee und Caroline und ihr Bruder Joe sind wunderbar gezeichnet, fassbar und glaubhaft, konsequent in ihren Verhaltensweisen, in ihren Entwicklungen.
Immer wieder fließt das Wissen um ein schlimmes, unbestimmtes Ereignis ein, was Spannung erzeugt und über alles eine dünne düstere Decke legt. Zudem will man Antworten haben: Wer ist die junge Frau? Was bedeutet sie der alten Dichterin?
Da braucht es allerdings etwas Geduld, denn trotz aller Erzählkunst zieht sich die Geschichte manchmal ein wenig, während wir das Heranwachsen der Kinder begleiten, ihre Beziehungen untereinander und zu anderen erleben, uns von besonderen Ereignissen erfreuen oder erschrecken lassen, mit ihnen leiden und trauern.
Dass der aktuelle Ausgangspunkt so weit in die Zukunft gelegt wird, ist ein Kunstgriff, der eine Schilderung der Kindheit im Amerika der Siebziger erlaubt und gleichzeitig das Umfassen mehrerer Generationen. Über die Situation in der Zukunft erfährt man sehr wenig, ganz klar ist das nicht Thema des Buches.
Vielmehr ist es das Hineinsehen in eine Familie, eine spezielle, eine besondere Familie, die stellvertretend für viele in Liebe verbunden ist, ihre Probleme hat, von diesen manche lösen kann und manche nicht, die miteinander verbunden ist, machmal auch in Schuld und Hilflosigkeit, und sich nie in Gleichgültigkeit verliert.

Bewertung vom 12.09.2021
Junge mit schwarzem Hahn
vor Schulte, Stefanie

Junge mit schwarzem Hahn


ausgezeichnet

Der elfjährige Martin ist ein ganz besonderes Kind. Das Schicksal hat ihm seine Familie geraubt, die Mitbewohner seines Dorfes misstrauen ihm und meiden ihn, sein einziger Freund ist ein schwarzer Hahn, der ihn ständig begleitet. Und doch bewahrt er sich seine Güte, irritiert durch seine innere und äußere Schönheit, ist hilfsbereit und intelligent. Als eines Tages ein Maler das Dorf besucht, erkennt der das Dilemma des Jungen und erlaubt ihm, ihn beim Weiterziehen zu begleiten.
Nicht nur Martin ist ganz wunderbar geraten, so dass man ihn unmittelbar lieben muss, auch das Buch ist es.
Stefanie vor Schulte schreibt ihr Debüt in scheinbar einfacher Sprache, in denen sich Satzkleinode aneinander reihen wie Perlen auf der Schnur. So leichthin und bedeutungstief, dass man beinahe ehrfürchtig wird beim Umblättern. Oft mit einer verborgenen Sprengkraft, die für ein ganzes Buch ausreichen könnte. Immer wieder findet sich feiner, hintergründiger Humor zwischen den Zeilen.
Doch leichte Kost ist die Geschichte keineswegs. Denn Martin hat sich eine Aufgabe gestellt, die ihm viel abverlangt, und er lebt in einer anarchischen, grausamen Zeit, die sich nicht datiert, aber mittelalterlich anfühlt, und leidet, wie das ganze Volk, unter einer despotischen Herrscherin. Unvorstellbare Gräuel säumen seinen Weg, beinahe aussichtslos wirkt recht bald sein Unterfangen, die Stimmung kippt ins Düstere und verharrt lange dort.
Viele Märchen- und Fabelelemente sind eingebaut und wetteifern wegen Martins exzellenter, ungetrübter Beobachtungsgabe und seiner detektivischen Kompetenz um Genrezuteilung.
Überhaupt kann man ins Grübeln kommen, wo uns das Erzählte hinführen will. Vielleicht hält man es am besten mit dem Jungen, als er unerwartet nach seiner Meinung gefragt wird: „Da muss er erst einmal in sich hineinlauschen, ob er eigene Gedanken zu der Frage findet.“ (S. 15) Lauschen wir, ich bin sicher, dass sich ein Schatz an Antworten einstellen wird.

Bewertung vom 08.09.2021
Der Brand
Krien, Daniela

Der Brand


gut

Kurz vor dem gemeinsamen Urlaub erfährt Rahel, dass die gebuchte Unterkunft abgebrannt ist. Als unmittelbar darauf die Freundin ihrer verstorbenen Mutter sie dringend bittet, ihren Hof eine Weile am Laufen zu halten, willigt sie ein. Drei Wochen verbringt sie mit ihrem Mann Peter abseits des Alltags, auch in der Hoffnung, ihre erloschene Beziehung etwas wiederbeleben zu können.
Daniela Kriens Schreibstil ist nüchtern, schlicht, zügig zu lesen, sehr auf Informationen begrenzt, meist aus Rahels Warte.
Die Anzahl der Personen ist überschaubar: Neben Rahel sind das vor allem der introvertierte Peter, der sich mit Hingabe um die Tiere kümmert, die es zu versorgen gilt, und die gemeinsame Tochter Selma, die mit ihren kleinen Kindern zu Besuch kommt und so völlig andere Erziehungsvorstellungen hat als ihre Eltern.
Konflikte gibt es zuhauf. Das liegt unter anderem an unausgesprochenen Erwartungen, an unerfüllten Sehnsüchten. Vorwürfe sind zu spüren, Ansprüche, Resignation und Verbitterung. Alles wäre irgendwie nachvollziehbar, wenn Rahel nicht ausgerechnet von Beruf Psychologin wäre. Da möchte man sie am liebsten jedes Mal, wenn sie etwas beklagt, packen und schütteln und sie an das erinnern, was eigentlich so selbstverständlich sein sollte: Kommunikation. Denn daran hapert es gründlich. Vieles läuft aneinander vorbei, weil genau die fehlt.
Die Autorin lässt ein wenig Zeitgeist einfließen. Zum Beispiel war es die mangelnde Sensibilität in Bezug auf Geschlechterzuordnung, die Peter Schwierigkeiten in seinem Beruf als Hochschulprofessor eingebracht hat, und auch Corona lässt grüßen. Doch solche Themen werden kaum vertieft, sie dienen wohl eher der zeitlichen Verortung.
Die Geschichte wirkt nicht unsensibel. Sie unterwirft sich keinen gängigen Klischees und hat interessante Ansätze. Doch irgendwie präsentiert sie sich nicht ganz auserzählt (das liegt nicht an dem halbwegs offenen Ende!) und, mit Verlaub, ein wenig unspektakulär.

Bewertung vom 20.06.2021
Das Buch des Totengräbers / Inspektor Leopold von Herzfeldt Bd.1
Pötzsch, Oliver

Das Buch des Totengräbers / Inspektor Leopold von Herzfeldt Bd.1


ausgezeichnet

Lebendig, authentisch, spannend

1993 wird in Wien der junge Inspektor Leopold von Herzfeldt mit äußerst brutalen Morden an jungen Frauen konfrontiert. Überraschende Unterstützung erhält er von dem Totengräber des Wiener Zentralfriedhofs, Augustin Rothmayer.
Oliver Pötzsch, bekannt durch viele mittelalterliche Romane, insbesondere die Henkerstochtersaga, hat sich in eine neue Zeitebene begeben. Dabei beweist er abermals, auf welch geniale Weise er das Ambiente einer Epoche, einer Lokalität und die sie bevölkernden Charaktere herauf zu beschwören und zu transportieren weiß. Wie er hier seine Figuren in Aktion setzt, sie aufeinander prallen, reden und streiten lässt, wie er auch diese Zeit historisch exakt, detailversessen und authentisch darstellt, grenzt an Zauberei. Aufkeimender Feminismus, Antisemitismus, Aberglaube, technischer Fortschritt, die politische, soziale und bauliche Entwicklung einer wachsenden Weltstadt - das sind einige der Phänomene, die wie beiläufig in die Handlung einfließen und ein rundes Bild erschaffen.
Während Herzfeldt mit seinen neuartigen analytischen Untersuchungsmethoden und seinem übereifrigen Naturell auf Häme und Widerstand in der eigenen Behörde stößt, überlegt der eigenbrötlerische Rothmayer sehr genau, mit wem er seine Gedanken teilt. Was die beiden Männer eint, ist ihr naturwissenschaftliches Interesse, und so kann der der Totengräber mit dem wachen Verstand und der guten Beobachtungsgabe manchen hilfreichen Tipp geben. Wer allerdings glaubt, hier habe sich ein Ermittlerduo nach dem Vorbild Holmes und Watson gesucht und gefunden, wird enttäuscht. Welten liegen zwischen den beiden, so leicht ist die Kluft nicht überbrückbar. Mehr als gegenseitiges Wohlwollen ist in diesem ersten Band nicht zu erreichen, da braucht es, wenn überhaupt, wohl noch das ein oder andere Abenteuer.
Bis der Kriminalfall gelöst ist, darf fleißig mitgerätselt werden. Ganz routiniert wird die Spannung gehalten, dabei Platz gelassen für etwas Romantik und eine Prise Humor. Stoff, den man sich beinahe zwangsläufig verfilmt wünschet. Und ein Rundum-Paket für die Fans historischer Krimischmöker, die nach diesem Einstieg vermutlich schon einer Fortsetzung entgegen fiebern.

Bewertung vom 28.05.2021
Verhängnisvolles Lavandou / Leon Ritter Bd.7
Eyssen, Remy

Verhängnisvolles Lavandou / Leon Ritter Bd.7


sehr gut

Der Friede in dem malerischen Ort La Lavandou an der Côte D´azur wird jäh unterbrochen, als am Strand die in Plastik verpackte Leiche eines Jungen aufgefunden wird. Der Leichnam ist in ein Mädchenkleid gehüllt, das Gesicht geschminkt. Der Körper weist Spuren starker Misshandlungen auf.
Auch in diesem siebten Band der Reihe um den deutschen Gerichtsmediziner Leon Ritter schafft Autor Remy Eyssen diesen besonderen Spagat: Er vereint Schilderungen brutalster Kriminalfälle mit dem beschaulichen Zauber eines typisch provenzalischen Ortes. Mühelos bildet er das Dorfleben ab, lässt die mittlerweile altbekannten Bewohner wieder auferstehen, die allesamt ihren Rollen erneut gerecht werden. Ein spezielles Highlight für Boulebegeisterte ist natürlich der obligatorische Wettkampf, der auf dem Platz vor dem Bistro Chez Miou ausgetragen wird und einmal mehr die Atmosphäre des Ganzen unterstreicht.
Leon Ritter ist ein absolut integrer Mensch, penibel und geistreich in seiner Arbeit, mit dem Anspruch, den Toten, die er untersucht, ebenso respektvoll entgegenzutreten wie er es bei lebenden Patienten täte. Er konzentriert sich derart auf das, was sie ihm mitzuteilen haben, dass es sogar zu übernatürlichen Erscheinungen kommen kann. Er liebt Isabelle, die stellvertretende Leiterin der Ermittlungsstelle, deren siebzehnjährige Tochter Loulu für Turbulenzen neben dem Hauptschauplatz sorgt.
Der Kriminalfall ist nicht besonders ausgeklügelt konstruiert, die Lösung ist bei aufmerksamem Lesen durchaus zu erraten. Doch viel mehr Gewicht liegt auf der Entwicklung der Ermittlungen und den parallel stattfindenden Verbrechen. Während auf der einen Seite mühsam und unter großem Druck Spuren verfolgt und ausgewertet werden, arbeitet ein erfindungsreicher Täter an der Vollendung seines zerstörerischen Werks.
Das ist durchaus spannend zu lesen. Und da die Rahmenbedingungen so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich vorgestellt werden, darf der Band auch Neueinsteigern empfohlen werden. Diejenigen, die Leon Ritter bereits kennen, haben sicher ohnehin schon zugegriffen.

Bewertung vom 01.05.2021
Girl A
Dean, Abigail

Girl A


ausgezeichnet

Alexa Gracie ist das Mädchen, dem die Flucht gelingt: Mit fünfzehn Jahren bricht sie aus dem Elternhaus aus, in dem sie und ihre sechs Geschwister jahrelang unter abscheulichsten Bedingungen von ihren Eltern gefangen gehalten und misshandelt worden sind. Jetzt, nach beinahe zwei Jahrzehnten, kommt sie zurück nach London, weil ihre Mutter gestorben ist und sie sich um das Erbe kümmern soll.
Der Autorin schafft es, unglaublich realistisch aus der Perspektive des ehemaligen Opfers auf dieses Verbrechen zu schauen. Es geht nicht darum, zu analysieren, wie und warum sich etwas so Unbegreifliches, Entsetzliches entwickeln kann, auch wenn immer wieder scheinbare Erklärungen wie z.B. religiöser Fanatismus durchscheinen. Vielmehr liegt das Gewicht auf dem, was geschah und was es mit den Überlebenden gemacht hat.
Alexas Leben wirkt auf den ersten Blick beinahe beneidenswert. Dank ihrer Intelligenz und Zielstrebigkeit, mit Unterstützung einer engagierten Psychologin und verständnisvoller Adoptiveltern gelingen ihr ein guter Schulabschluss und das anschließende Jurastudium. Als Anwältin arbeitet sie in einer Kanzlei in New York und ist dabei recht erfolgreich.
Wie sehr sie ihr Schicksal jedoch noch immer unter der Haut trägt, wird in jedem Gedanken, in jedem Satz, in jeder Handlung deutlich.
Diesen permanenten Ausnahmezustand zu vermitteln, ist großartig gelungen. Ganz dicht sind wir an der Protagonistin, die das aktuelle Geschehen ständig mit ihren Erinnerungen verwebt. Sie hangelt sich assoziativ und sprunghaft an einem lockeren chronologischen Faden entlang. Das ist äußerst spannend zu lesen, insbesondere auch wegen des hervorragenden Schreibstils mit vielen treffenden und aussagestarken Metaphern (Andere (Fälle) sind offen wie eine Tür im Winter und er kann ihre Zugluft spüren. S. 100).
Das ganze Ausmaß der Verstörung wird erst gegen Ende fassbar und hinterlässt Emotionen wieTrauer, Wut und grenzenloses Mitleid.
Ein Buch, das an der Substanz nagt und doch gelesen gehört.

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