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Literaturentochter

Bewertungen

Insgesamt 23 Bewertungen
Bewertung vom 17.07.2024
Die Sache mit Rachel
O'Donoghue, Caroline

Die Sache mit Rachel


ausgezeichnet

»Ich [Rachel] hatte einen Ozean voller Probleme geschaffen, in dem James der Navigator war, weil er der Einzige war, der von meiner Schwärmerei für Dr. Byrne wusste« (S. 84).

Rachel arbeitet während ihres Studiums in einer Buchhandlung, die kurz vor Jahresende im Jahre 2009 auch James einstellt. Er soll das Team als Aushilfe während des Weihnachtsgeschäfts unterstützen. Aus dem kollegialen Verhältnis der beiden entsteht schnell eine innige Freundschaft. Rachel und James beschließen, sich eine Wohnung zu teilen und sind von nun an unzertrennlich, hängen gemeinsam ab und erzählen sich ungefiltert alles. So erfährt James auch, dass sich Rachel in ihren Literaturprofessor Dr. Byrne verguckt hat. Das Duo tüftelt direkt an einem Plan, wie Rachel ihrem Crush näher kommen kann. Es kommt natürlich anders als geplant und die Freundschaft der beiden wird nicht nur einmal auf die Probe gestellt …

Die Geschichte rund um Rachel Murray, James Devlin und Dr. Fred Byrne spielt, wie bereits erwähnt, im Jahre 2009, erzählt wird sie jedoch 21 Jahre später aus der Sicht von Rachel. Durch die retrospektive Erzählweise entsteht ein besonderer Spannungsbogen und der Erzählstil erinnert mich an einen lockeren Plauderton einer Freundin, die mir eine Story von früher erzählt. Der Schreibstil gefällt mir demnach sehr gut. Mit den Figuren werde ich allerdings nicht so warm wie erhofft, vor allem Rachel macht es mir schwer und ihre Dynamik, die sich durch die Freundschaft mit James entwickelt. Ich hänge zwar an ihrer Erzählstimme und verfolge aufmerksam was passiert und bin neugierig, wie das Buch endet.



Gleichzeitig möchte ich mich auf eine Art dem Strudel entziehen – dieser Freundschaft zwischen ihr und James, die an vielen Stellen toxische Auswüchse hat und nicht auf Augenhöhe stattfindet. Es ist teils schon fast deprimierend, wie die Figuren miteinander umgehen.

»Wir laugten uns gegenseitig aus« (S. 314).


Geschickt baut die Autorin Caroline O’Donoghue feministische Themen in den Plot ein, ohne diese zu sehr in der Vordergrund zu rücken oder die leichte Stimmung der Geschichte durch leise Systemkritik zu ruinieren. Außerdem ist die Freundschaft zwischen Rachel und James von Klassenunterschieden geprägt. Diese Unterschiede im Aufwachsen und persönlichen Sein bringt Caroline O’Donoghue ebenfalls gekonnt ein und erweitert die Geschichte damit um eine weitere Dimension. Während Rachel mit ihren zwei Brüdern in einem behüteten Elternhaus aufwächst, versucht James’ alleinerziehende Mutter sich und ihre drei Kinder finanziell über Wasser zu halten. James Vater war drogenabhängig und saß im Gefängnis.

»Ich war ungewöhnlich untalentiert, was Haushaltsdinge betraf, weil meine Mutter uns vollkommen verwöhnt hatte, ohne dass uns das aufgefallen wäre. […] Zu meiner Verteidigung muss ich anmerken, dass James weitaus mehr Erfahrung hatte« (S. 66).

»Die Sache mit Rachel« bietet eine abwechslungsreiche Coming-of-Age-Geschichte, die sich den Titel modernen Unterhaltungsliteratur wahrlich verdient hat. Wer ein leichtes und gleichzeitig doch stimmungsgeladenes Buch sucht, ist hiermit bestens bedient.

Bewertung vom 17.07.2024
Die schönste Version
Thomas, Ruth-Maria

Die schönste Version


ausgezeichnet

»Wir [Jella und Yannick] brauchen diese Hitze anscheinend. Und die kickt doch, oder?« (S. 228).


Jella Nowak und Yannick Brenner führen eine intensive Liebesbeziehung. Ihre Gefühle füreinander sind groß. Doch hier wird nicht nur hitzig geliebt, sondern die emotionale Lage schwappt immer wieder ins Gegenteil über. Grenzen werden ausgelotet und anschließend überschritten. Die Beziehung zwischen Jella und Yannick wird mit jedem Streit angespannter, bis Yannick eines Tages die Fassung verliert und zuschlägt.


»Es war wie im Kino, wenn das Licht im Saal langsam gedimmt wird, dieser Übergang, auf einmal alles dunkel, und man hat es gar nicht richtig gemerkt« (S. 195).


Die Autorin Ruth-Maria Thomas wirft die Leser:innenschaft direkt in die Geschichte, nach ein paar Seiten über die Wunschvorstellung einer schöner Zukunft mit Yannick, befindet sich Jella im nächsten Kapitel bereits auf einer Polizeiwache und schildert einem Polizisten was ihr widerfahren ist. Die Aussagen sind dabei explizit [eine CN ist zu Beginn des Buches angebracht]. Bereits nach ein paar Seiten bin ich gefesselt von einer Geschichte, in der Protagonistin Jella als Ich-Erzählerin auftritt. Thematisch geht Ruth-Maria Thomas nicht nur auf die Liebesbeziehung von Jella ein, auch Freundschaft, vergangene Partnerschaften und das Familienleben von Jella spielen eine zentrale Rolle. Die emotionale Qualität dieser Beziehungen bringt die Autorin sprachlich gekonnt auf den Punkt. Hier sitzt wirklich alles. Ich kann mich einfühlen, die Figur Jella verstehen und ihre Handlungen nachvollziehen. Ruth-Maria Thomas steckt hier enorm viele Gefühle in knapp 270 Seiten. Was Jella alles erleben muss zieht an meinen Emotionen.




Jella hat direkt mein Mitgefühl und ich spende es ihr bis zur letzten Seite. Thematisch ist dieses Buch alles andere als leicht und doch schafft es die Autorin eine unglaubliche Leichtigkeit in die Zeilen einzubauen. Ruth-Maria Thomas arbeitet viel mit Metaphern, vor allem Spiegel kommen wiederholt vor. Durch die kurzen, fragmentartigen Sätze entsteht ein schnelles Erzähltempo. Die Sprache ist facettenreich – mal derb, mal fragil.


»Wer bist du eigentlich?, frage ich mein blasses, mit Dampf verhangenes Spiegelbild. Was willst du?« (S. 172).

Bis zum Ende bleibt für mich offen, wohin die Geschichte will und wie Jella sich entwickelt. Für mich steckt in »Die schönste Version« viel Identitätsfindung drin. Während Jella mit ihrem Vater in einer Plattenbausiedlung aufwächst, lebt Yannick ein gutbürgerliches Leben, ist bodenständig und ein ehrlicher Arbeiter. Das unterschiedliche Aufwachsen von Jella und Yannick findet in der Geschichte immer Platz und sorgt für Streitpotenzial.


In meiner Welt mag häusliche Gewalt kein Tabuthema mehr sein und doch bin ich mir sicher, es ist eins. Daher bin ich enorm froh um Bücher wie »Die schönste Version«, die sich diesem Thema respektvoll und nachvollziehbar widmen und noch mehr reinpacken: Freundschaft, Machtverhältnisse, gesellschaftliche Erwartungen, patriarchales Besitzdenken, …

Bewertung vom 16.05.2024
Und alle so still
Fallwickl, Mareike

Und alle so still


ausgezeichnet

»Die Frauen liegen da wie hingeworfen, ihre Körper scheinen keinem Muster zu folgen. Sie sehen aus wie etwas Zerschmettertes. Aber verletzt sind sie nicht« (S. 96).

In »Alle so still« geht es um Elin, Nuri und Ruth – drei völlig unterschiedliche Personen, die sich zu Beginn fremd sind, sich aber innerhalb einer Woche durch eine Ausnahmesituation schnell und intensiv kennenlernen. Elin ist Anfang 20, Influencerin und wird durch einen körperlichen Übergriff völlig aus der Bahn geworfen. Durch ihre Social Media Karriere wertet Elin sich auf und macht sich gleichzeitig zu einer Ware, die ständig Kommentare und Bewertungen Anderer aushalten muss. Nuri ist 19 Jahre alt, hat die Schule abgebrochen und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, um wenigstens von der Hand in den Mund leben zu können. Ein richtiges Zuhause und stabile Bezugspersonen hat er nicht, da seine Eltern nicht in der Lage sind, Geborgenheit und Liebe zu spenden. Ruth ist Mitte 50 und arbeitet als Pflegefachkraft in einem Spital. An ihrem Arbeitsplatz ist sie die gute Seele der Station, dadurch aber auch maximal überlastet. Sie springt ständig für andere ein, damit der Dienstplan abgedeckt wird, da Zuhause sowieso niemand auf sie wartet. Sobald Ruth das Krankenhaus verlässt, lebt sie zurückgezogen – vom Schicksal im Stich gelassen – ein einsames Leben. Innerhalb der Geschichte kommen alle drei Figuren an ihre Grenzen, hinterfragen sich, ihr Umfeld und das System, in dem sie sich aufhalten. Ihre Entwicklung ist dabei stark und es ist ein deutliches Empowerment spürbar. Der Handlungszeitraum des Buchs beträgt nur acht Tage, daher ist die Entwicklung von Elin, Nuri und Ruth extrem komprimiert, nachvollziehbar beschrieben, allerdings auf die Wirklichkeit bezogen eher unrealistisch.



Mareike Fallwickl schafft in »Alle so still« schöne Alltagsmomente für die Protagonist:innen, doch gleichzeitig kann ich mich dabei nicht entspannen. Die Momente sind bittersüß, da ich ständig auf der Hut bin und auf den großen Knall warte. Bisher konnte mich kein Fallwickl-Buch so richtig abholen, da mir die Situationen zu überspitzt dargestellt wurden. Bei »Alle so still« geht es mir nicht so, hier steige ich von Beginn an, bin gefesselt, vertieft in die Geschichte. Wie im Sog steige ich in eine Story ein, die mich am Ende wütend und traurig wieder ausspuckt – voller Mitgefühl für Elin, Nuri und Ruth.

»Die Mutter hatte gearbeitet für den Vater, dann haben die Eltern ihn [Nuri] gezeugt, er ist sich nicht sicher, ob es das ist, was die Mutter wollte. Dann hat der Vater aufgehört, sie zu bezahlen, obwohl sie immer noch dieselbe Arbeit machte« (S. 91).

Der Schreibstil lässt mich durch die Seiten fliegen. In kurzen Sätzen bringt Mareike Fallwickl Situationen und die Emotionen der Protagonist:innen auf den Punkt. In Gesprächen und Gedanken arbeitet die Autorin hochbrisante Themen ein, wie beispielsweise Mental Load, Misogynie oder Care-Arbeit – dabei kommt die Kritik am bestehenden System nicht zu kurz. Unabhängig von den Erzählungen über Elin, Nuri und Ruth liefert Mareike Fallwickl kurze Kapitel aus einer besondern Sicht: die Pistole, die Gebärmutter und die Berichterstattung melden sich abwechselnd zu Wort, bringen Fakten ein und äußern auch hier Systemkritik! »Alle so still« fordert mich emotional beim lesen, es werden viele Facetten des Lebens beschrieben, vor allem Ruths Erzählungen gehen mir nah, da ich mich in ihren Berufsalltag nur zu gut einfühlen kann.


Für mich ist dieser Gesellschaftsroman ein must-read, der mich komplett überzeugen und aus dem ich viel mitnehmen konnte. Angelehnt ist der Kern der Geschichte an Streik bzw. isländischen Frauenruhetag in den Siebzigern. In »Alle so still« beschreibt Mareike Fallwickl, je nach Lesart, eine Utopie und Dystopie gleichermaßen.


CN: Patriarchale Strukturen, Tod, Trauer, Ableismus, Homofeindlichkeit, sexuelle, physische und psychische Gewalt.

Bewertung vom 16.05.2024
Sorry not sorry
Landsteiner, Anika

Sorry not sorry


gut

»Negative Glaubenssätze sickern ins Unterbewusstsein und machen es sich dort bequem, Rollenbilder oder Klischees, seien sie auch noch so absurd, schleichen sich über Jahrzehnte hinweg in unsere Wahrnehmung hinein – und kreieren dort Empfindungen wie Angst und Scham« (S. 145/146).

Warum wird Scham als normal und geschlechtsneutrale Empfindung beschrieben und gleichzeitig ist sie ein weibliches Phänomen? Dieser Frage geht Anika Landsteiner in ihrem Buch »Sorry not sorry« auf den Grund. Um Antworten zu erhalten zeigt die Autorin sich von einer sehr vulnerablen Seite. Sie schreibt über persönliche Erfahrungen und führt durch Recherche auch Belege externer Quellen an, um ihre Aussagen zu untermauern. Anika Landsteiner beleuchtet weibliche Scham bezogen auf verschiedene Themenbereiche wie Körper, Geld, Beziehungsstatus, Reality-TV, Schwangerschaft, Altern, Periode/Endometriose, Heiraten und sexualisierte Gewalt.

Die Autorin beschreibt ihr Buch nicht nur als »eine persönliche und gesellschaftliche Spurensuche« (S.17), sondern auch als Hand, die sie ausstreckt, »um zu signalisieren: Du bist nicht allein mit dem Gefühl, allein zu sein« (ebd.).

Um ehrlich zu sein – ich habe nicht immer die ganze Hand gesehen, die ausgestreckt wurde. Bei den persönlichen Situationen, die Anika Landsteiner beschreibt, habe ich mich tatsächlich nicht mehr ganz so alleine gefühlt, da ich mir beispielsweise vor ein paar Jahren selbst wegen der 30 in die Bluse gemacht hab, obwohl ich mich aber doch gar nicht so alt fühle, gesellschaftlich gesehen womöglich als gescheiterte Existenz abgestempelt werde, die dann auch noch Falten hat. Anika Landsteiner schreibt offen und sehr reflektiert über ihre eigenen Erlebnisse – dies empfinde ich als unglaublich mutig.


»Mich zu schämen hat mich in meinem ganzen Leben immer wieder ausgebremst. Verunsichert. Beleidigt. Verletzt. Entblößt. Erst indem ich über die Emotionen geschrieben und sie nicht als lästig empfunden habe, kann ich sie als einen Schlüssel zur Selbstreflexion nutzen« (S. 241).

Bei den angegebenen Quellen handelt es sich, bis auf eine Ausnahme, in der auf eine Netflix-Serie verwiesen wird, auf Onlineliteratur. Somit ist die Lektüre sehr populärwissenschaftlich gehalten. Ich hatte andere Erwartungen, habe mir für den Rechercheteil mehr Tiefe und neue Erkenntnisse gewünscht. Im Vorwort werden Namen wie Franziska Schutzbach, Ann-Kristin Tlusty und Laurie Penny und deren literarische Werke genannt. Die Essays in »Sorry not sorry« greifen diese allerdings leider nicht mehr auf. Die Aussagen bleiben bei Anika Landsteiners Buch sehr an der Oberfläche, Altbekanntes wurde aufgegriffen und leichtverständlich wiedergegeben. Der Schreibstil ist angenehm und ich konnte trotz der Kritik ein paar schöne Textstellen für mich herausfiltern.

»Der weibliche Körper wird im Korsett eines heteropatriarchalen Systems nicht nur beschämt und kategorisiert, er wird im Heranwachsen sexualisiert und schließlich von der Weltwirtschaft kapitalisiert« (S. 19).

Bewertung vom 01.05.2024
Sommerhaus am See
Poissant, David James

Sommerhaus am See


sehr gut

»Wenn Schicksale durch Gedanken gelenkt werden, durch Worte, dann solle sie [Diane] das Thema an diesem Tag nicht zur Sprache bringen. Deshalb hält sie die Hand ihres Mannes und lächelt. Und vieles, so unendlich vieles, bleibt ungesagt« (S. 36).

Eher aus Verzweiflung, als an den Glauben an eine gute Zukunft, kauften Lisa und Richard Starling in jungen Jahren ein Sommerhaus am See in North Carolina. Inzwischen stehen die Eheleute Sterling, die sich an ihrer Arbeitsstelle, der Cornell University kennenlernten, vor der Pensionierung. Zusammen mit ihren Söhnen und deren Parter:innen möchten Lisa und Richard nochmals gemeinsam Abschied nehmen von dem Haus, da sich die alten Sterlings dazu entschlossen haben, das Haus zu verkaufen und sich zukünftig in Florida niederzulassen.

Bereits am ersten Tag am See ereignet sich eine Tragödie. Ein Kind muss durch einen Unfall sein Leben lassen. Ein Sohn der Sterlings, Michael, versucht vergeblich den Jungen vor dem Ertrinken zu retten. Bei sich selbst hat Michael bezüglich des (Er-)Trinkens einen blinden Fleck – er ist alkoholabhängig und sieht keine Motivation sein Suchtverhalten unter Kontrolle zu bringen. Seine Frau Diane ahnt nichts von der Sucht ihres Mannes, zu sehr ist sie mit sich beschäftigt. Ungeplant schwanger, in einer Ehe, die keine Kinder vorsieht! Auch die Beziehung des anderen Sohnes Thad zu seinem Partner Jake ist nicht von Harmonie geprägt. Er und Jake leben in einer offenen Beziehung, doch nur einer von beiden ist von diesem Beziehungsmodell begeistert.


Sechs Menschen, die mit sich und ihren Liebsten alles andere als im Reinen sind. Jede:r scheint mit seinem eigenen Leben beschäftigt zu sein, aber nicht auf die Art, die seelische Gesundheit mit sich bringt. Es wird weggeschaut, anstatt in sich hineinzuhorchen, Konflikten wird aus dem Weg gegangen, Kommunikation Fehlanzeige! Diese Situationen beschreibt der Autor David James Poissant sehr eindrücklich. Das Setting verspricht Harmonie, doch die Figuren bringen alles andere als einen harmonischen Vibe in das Haus.

Ich kann mich kaum von dem Buch trennen, möchte immer noch weiter in die Abgründe der einzelnen Figuren eintauchen. Warte auf einen großen Knall, eine Aussprache, ein Happy End. Doch so einfach macht es mir der Autor nicht. Am Ende wachsen die Figuren zwar über sich hinaus, aber mir fehlen für diese Entwicklung 200 Seiten zwischen drin.

Auch wenn die letzten 80 Seiten meine Euphorie für das Buch bremsen, liefert David James Poissant mit »Sommerhaus am See« ein kluges Romandebüt, in der es auf spannende Art ›menschelt‹. Das Buch eignet sich ideal für den bevorstehenden Sommer.

CN: Homofeindlichkeit, Untreue, Alkohol-, Medikamenten- und Drogenmissbrauch, Unfalltod, SIDS.

Bewertung vom 01.05.2024
Unlearn Patriarchy 2
Amojo, Ireti;Borcak, Melina;Boussaoud, Yassamin-Sophia

Unlearn Patriarchy 2


ausgezeichnet

Das Patriarchat hat sich mit seinen mächtigen und herrschaftlichen Strukturen in nahezu alle Lebensbereiche eintritt verschafft und hält unsere Wut durch zahlreiche »-ismen« bei Laune.

»Überall wo »-ismus« draufsteht, steckt etwas Machtvolles drein: ein normatives Sein, entstanden, immer wieder eingefordert und verfestigt in Macht- und Herrschaftsverhältnissen. […] Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus – die Liste ließe sich fortsetzen« (S. 102 – ›unlearn aleismus‹).

Die Anthologie »unlearn patriarchy #2« setzt sich in 13 feministischen Essays mit verschiedenen Themen auseinander, in denen sich patriarchale Strukturen verfestigt haben. Dabei liefern die Autor:innen neue Impulse, um patriarchale Prägungen aufzudecken, damit wir diese verlernen zu können. Ziel ist es durch Wissensbildung, eigene internalisierte Muster zu erkennen und diese aufzugeben.

Die einzelnen Essays liefern Denkanstöße, geben einen Einblick in persönliche Erlebnisse und liefern Ideen, wie sich ein ›unlearning‹ gestalten lässt. Dabei ist der Blick intersektional und der Wunsch nach einer diskriminierungsfreien Gesellschaft groß.


Als besonders stark habe ich die Kapitel
unlearn mental health (Miriam Davoudvandi),
unlearn klasse (Saboura Naqshband) und
unlearn krieg und genozid (Melina Borčak) empfunden.

Etwas ratlos hat mich das Kapitel unlearn kirche hinterlassen, da die Autorin Sarah Vecera selbst für die evangelische Kirche tätig ist. Kritikpunkte werden zwar aufgegriffen, als nachvollziehbar dargestellt und am Ende, beispielsweiße durch Othering doch relativiert. (Ergibt das Sinn? Will sagen die schreibt z. B. Ja in der Kirche gibt es Queerfeindlichkeit ABER gibt es ja nicht nur im Christentum! WOW, wo ist da die Lösung? S. 241).


»unlearn patriarchy #2« liefert einen sehr guten Überblick. Wer tiefer in einzelne Themen einsteigen möchte, checkt am besten die Anmerkungen am Ende des Buches. Mein Interesse ist geweckt und bei mir hat sich die Wunschliste dadurch um ein paar Bücher verlängert.


Herausgegeben wurde das Buch von Emilia Roig, Alexandra Zykunov und Silvie Horch.

Bewertung vom 09.04.2024
Yellowface
Kuang, R. F.

Yellowface


gut

Athena und June sind Freundinnen. Moment nein, nein, nein. Die beiden sind Frenemies. Beide arbeiten unter Hochdruck und mit viel Ehrgeiz an ihren Karrieren. Während Athena einen Mehrbuchvertrag mit einem großen Verlag an Land gezogen hat, mit ihren zarten 27 Jahren bereits drei erfolgreiche Romane veröffentlichte und jüngst einen Deal mit Netflix abgeschlossen hat, läuft es bei June ziemlich mies. Ihr Debüt kommt über Umwege auf den Markt und floppt komplett.

»Alle Autor:innen hassen ihre Verlage. Es gibt keine Cinderella-Geschichten, nur harte Arbeit, Durchhaltevermögen und das ewige Streben nach dem goldenen Ticket« (S. 11).

Als Athena durch einen Unfall beim Feiern mit June ums Leben kommt, wittert June ihre Chance auf das goldene Ticket. Sie stiehlt Atehnas aktuelles Manuskript, überarbeitet es und veröffentlicht ›Die letzte Front‹ unter dem Künstlernamen Juniper Song.

Rebecca F. Kuang ermöglicht mit ihrem Buch einen Einblick in einen strengen Literaturbetrieb, der auf die Literaturschaffenden maximalen Druck ausübt. Zeitgleich rechnet die Autorin auch mit den Auswirkungen von Social Media ab! Getrieben von diesen starken Einflüssen handelt Protagonistin June instinktiv, um dem Druck von außen stand halten zu können. Während sie in ständiger Angst lebt, der Schwindel fliegt auf, verfolge ich die inneren Monologe von June gespannt.

»Yellowface« liest sich wie ein Thriller, da ich ständig gespannt bin, wann June die Aktion mit dem geklauten Manuskript um die Ohren fliegt. So fliege ich nur so durch die Seiten und die Scham und Moral, die June fehlt, die überkommt mich beim lesen.



Der Roman eröffnet insgesamt viele Themen wie beispielsweise Täterin-Opfer-Umkehr, kulturelle Aneignung, Cancel Culture, Social Media Shitstorms und Identitätskonflikte. Auch wenn auf 383 Seiten nicht alle Themen tiefgreifend behandelt werden können, liefert Rebecca F. Kuang mit »Yellowface« ein solides Buch.

Bewertung vom 09.04.2024
Alles gut
Rabess, Cecilia

Alles gut


ausgezeichnet

»»Diese Konzerne-sind-auch-nur-Menschen-Gewinnmotive-stehen-nie-im-Widerspruch-zum-öffentlichen-Wohl-zieh-dich-selbst-am-Schopf-aus-dem-Sumpf-Diskriminierung-ist-eine-liberale-Verschwörung-meine-Realität-ist-die-objektive-Realität-also-können-alle-endlich-das-Maul-halten-damit-wir-weiter-Golf-spielen-können-Leute.«« (S. 325)

Jess und Josh hegten bereits auf der Uni Antipathien füreinander. Später treffen die beiden bei Goldman Sachs erneut aufeinander, da Jess dort einen Job als Analystin ergattern kann. Ihre Begeisterung für den begehrten Job lässt allerdings schnell nach. In einer männerdominierten Welt hat Jess es schwer. Doch nach und nach wird Josh zu ihrem Verbündeten und die beiden kommen sich so nah, dass sie schließlich eine Liebesbeziehung miteinander eingehen.

Klingt alles erstmal ziemlich platt, doch Cecilia Rabess liefert mit »Alles gut« ein vielschichtiges Debüt. Jess und Josh könnten nämlich nicht unterschiedlicher sein. Jess ist Schwarz, Demokration und stammt aus einfachen Verhältnissen. Josh ist weiß, Republikaner und verhält sich an vielen Stellen wie ein Kotzbrocken und karrieregeiler Streber. Seine Ansichten sind oft problematisch und trotzdem wird Jess nicht müde sich mit ihm zu unterhalten. Die Dialoge der beiden sind nervenaufreibend und verleihen dem Buch durch die Bandbreite an Gesprächsthemen eine angenehme Tiefe.
Egal ob Rassismus, Feminismus oder Klassismus - die beiden Figuren werden nicht müde mit einander ins Gespräch zu kommen, sich zu fetzen, um dann wieder zueinander zu finden.
In den Diskussionen ist Jess witzig, reflektiert und greifbar. Josh hingegen rutscht der Stock immer noch weiter in den Allerwertesten.
Zeitlich spielt sich die Geschichte in den Obama-Jahren (2009 bis 2017) ab.


Die Autorin Cecilia Rabess hat als Data Scientist bei Google gearbeitet und war selbst auch bei Goldman Sachs als Associate tätig. Der Schreibstil der Autorin ist witzig und intelligent. Sie gewährt der Leser:innenschaft einen Einblick in die Unternehmen der Wall-Street und in die Köpfe zweier Menschen, die neben ihren täglichen Grabenkämpfen auch eine tiefe Verbundenheit für einander empfinden.


Ein facettenreicher Roman, der hochpolitische Themen unterhaltsam verpackt!

Übersetzt von Simone Jakob.

Bewertung vom 09.04.2024
Issa
Mahn, Mirrianne

Issa


ausgezeichnet

»Ist es die menschliche Sehnsucht nach etwas Größerem, einer höheren Macht, die uns in schwierigen Zeiten beisteht? Das ist vielleicht der Grund, warum es so viele Geschichten von Wundern und göttlichen Erscheinungen gibt« (S. 140)
🌊🧚🏾‍♀️

Durch einen bösen Traum steht für Issas Mutter Ayudele fest, ihre schwangere Tochter muss von Frankfurt nach Kamerun reisen, um Rituale durchführen zu lassen, da es die Tradition so fordert. Während Ayudele keine Kosten und Mühen scheut, fügt sich Issa nur widerwillig den Forderungen ihrer Mutter. Sie gibt schließlich klein bei, da das Verhältnis zu ihrer Mutter sowieso angespannt ist und macht bei dem, in ihren Augen, Hokuspokus mit.
Während ihres Aufenthalts in Kamerun verbringt Issa viel Zeit mit den dort lebenden Familienmitgliedern, wie etwa ihrer Ur-Oma Marijoh oder ihrem gleichaltrigen Onkel Georg.

»ISSA« porträtiert die Geschichte einer Familie, in der die weiblichen Figuren im Vordergrund stehen. Das Porträt reicht von der schwangeren Issa bis hin zu ihrer Ur-Ur-Oma Enanga, die wie Issa ebenfalls einen großen Erzählanteil im Buch erhält. Geschickt und mit eindringlichen Passagen verknüpft die Autorin Mirrianne Mahn die Schicksale der fünf Frauen miteinander und gibt ihnen eine starke Stimme, welche in die jeweilige Zeit passt. Beachtet wird hierbei auch die politische Dimension.

»Sie [Nando, Issas Oma] dachte darüber nach, wie Frauen von Kindesbein an darauf gedrillt wurden, Dinge zu tun, die sie nicht wollten, und wie ihnen oft nicht einmal erlaubt wurde, in Ruhe Fehler zu machen. Frauen wurden gelenkt, geformt und kontrolliert« (S. 256).

Kaum zu glauben, dass dieses Buch ein Debüt ist! Ich war von der ersten Seite an gefesselt. Das Buch greift sehr viele Themen auf – deutsche Kolonialgeschichte, Identitätssuche, Freund:innenschaft, Generationskonflikte, …


Dabei verliert sich Mirrianne Mahn nicht in einzelnen Themen, sondern lässt diese auf eine lockere Art und teilweise erfrischender Situationskomik durch Protagonistin Issa mit in die Geschichte einfließen. Durch diesen facettenreichen Mix gab es für mich viele Emotionen, ganz unterschiedlicher Natur, mit denen ich durch das Buch gegangen bin. Am Ende habe ich sogar ein bisschen geweint, weil ich so überwältigt war.

Issa stößt in ihrem Leben immer wieder an vermeintliche Grenzen ihrer eigenen Zugehörigkeit. Geboren in Kamerun, aber in der frühen Kindheit nach Frankfurt gezogen, fühlt sie sich in Deutschland durch den Alltagsrassismus unwohl. Gleichzeitig sind ihr viele Bräuche und Eigenheiten in Kamerun fremd. Die geografischen Stopps in Issas Leben ähneln die der Autorin Mirrianne Mahn.

Beeindruckt hat mich auch die Entwicklung, die Mirrianne Mahn ihrer Figur Issa ermöglicht. Während Issa sich zu Beginn des Romans als Tochter sieht und ihrer Mutter selbst die Rolle der Tochter nicht zuschreibt, ändert sich diesbezüglich sehr viel, doch ich möchte hier nicht zu viel vorwegnehmen.

Auch wenn ich das Buch bereits vor ein paar Tagen ausgelesen habe, so ist mir die Geschichte um Issa und ihre Vorfahrinnen sehr präsent in Erinnerung geblieben.
Dieses emotional eindringliche Buch sollte unbedingt gelesen werden.

Abgerundet wird der Roman durch das wunderschöne Cover, der geografischen Karte, einem Glossar mit Übersetzungen und einem Stammbaum!


CN: Kolonialismus, Vergewaltigung, Tod, Trauer, Sterben.

Bewertung vom 19.03.2024
Das andere Tal
Howard, Scott Alexander

Das andere Tal


weniger gut

Die sechzehnjährige Odile Ozanne lebt an einem magischen Ort. Würde sie ihr Tal nach Osten und Westen verlassen, so kommt sie jeweils in ein Tal, welches sich optisch nicht von ihrer Heimat unterscheidet. Der einzige Unterschied der Täler ist die Zeit – in den anderen Tälern geschieht alles 20 Jahre zeitversetzt. Eine Reise nach Osten oder Westen ist allerdings nur in Ausnahmefällen und mit vorheriger Genehmigung möglich. Die Grenzen werden gut bewacht und über das Passieren entscheidet das Conseil. In diesem Conseil beginnt Odile eine Ausbildung und entscheidet im Verlauf des Buches schließlich selbst über die Anträge, ob ein Mensch die Grenze passieren darf, um in ›das andere Tal‹ zu gelangen.

Durch die Zeitreisen wird es beispielsweise für Hinterbliebene möglich, einen Menschen der im eigenen Tal bereits verstorben ist nochmal zu treffen, da die Person im anderen Tal durch die Zeitverschiebung noch am Leben ist.

»Er [Der Hinterbliebene] trauerte schon länger, als ich am Leben war« (S. 67).

Scott Alexander Howard lädt die Leser:innenschaft in seinem Debütroman »Das andere Tal« zu einem spannenden Gedankenexperiment ein. Im Buch wird an vielen Stellen deutlich, dass der Autor in Philosophie promoviert hat. Beim Lesen steht nicht nur Odile immer wieder vor Entscheidungen, die ihren ethisch-moralischen Kompass ins wanken bringen, auch ich verharre in meinen eigenen Gedanken und überlege, wie ich an Odiles Stelle entscheiden würde.


Leider verliert sich der Autor stellenweise in Detailerzählungen über Randfiguren, die in der Geschichte erst wieder am Ende aufgegriffen werden und meiner Ansicht nach hätte hier eine Verknappung der Informationen nicht geschadet. Diese ausufernden Details sind für das Ende zwar wichtig, um die Geschichte abzurunden, bringen mich während des Lesens jedoch aus dem Fluss, da ich dadurch das Interesse an der Geschichte verliere. Auf der anderen Seite bleiben bestimmte Informationen im Verborgenen. Zu welcher Zeit der Roman spielt und an welchem Ort wird nicht genannt – die eigene Phantasie entscheidet!

Spannend ist für mich beim Lesen vor allem die Entwicklung von Odile. Während sie zu Beginn der Geschichte als schüchternes und unbeschwertes sechzehnjähriges Mädchen agiert, welches nicht so richtig in die Klassengemeinschaft passen mag, entwickelt sie sich im Verlauf zu einer erwachsenen Frau, die durch ihre Stellung innerhalb des Conseils erfährt, dass die Freiheit an der Spitze der Hierarchie sehr dünn wird.

Am Ende bleibe ich mit einem Debüt zurück, das mich nur so halb begeistern konnte. Die Idee gefällt mir nach wie vor sehr, aber die Umsetzung hätte in meinen Augen keine 464 Seiten gebraucht.