Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
ToniLudwig
Wohnort: 
Gera

Bewertungen

Insgesamt 17 Bewertungen
12
Bewertung vom 28.08.2024
Sobald wir angekommen sind
Lewinsky, Micha

Sobald wir angekommen sind


sehr gut

Der Schweizer Drehbuchautor und Regisseur Micha Lewinsky veröffentlicht zwei Jahre nach seinem Kinderbucherfolg bei Diogenes Zürich seinen ersten Roman mit dem Titel Sobald wir angekommen sind.

Wir lernen den seit Jahren mittlerweile ziemlich erfolglosen Schriftsteller Benjamin Oppenheimer in seiner unglücklichen Familiensituation kennen, getrennt von seiner Frau Marina, doch ohne die Wohnung richtig verlassen zu haben, auch wegen ihrer gemeinsamen Kinder Rosa und Moritz :
Rosa, die in der Schule als Jüdin beschimpft wird und tief in der Pubertät steckt,
Moritz, der in Nächten schreiend von Monstern verfolgt wird.

Ben indes wird geplagt von der ewig jüdischen Angst, die sich über seiner Familie nach der Shoa wie ein unsichtbarer Schleier gelegt hat, die Angst vor Krieg, Verfolgung und Vertreibung, symbolisch eingepackt in einen Rucksack.
Diesen abzuwerfen oder zu verlieren, würde eine große Befreiung beinhalten, wäre aber aus der Sicht von Ben auch eine unfassbare Geschichtslosigkeit, ein schier auswegloses Dilemma.

Eine unvermutete Leichtigkeit stellt sich nur dann ein, wenn er bei seiner Freundin Julia Unterschlupf findet, obschon auch diese Beziehung zwar sexuelle Befriedigung, aber auch das konkurrierende Unverständnis des kleinen Sohnes Prince mit sich bringt.

Keine praktische Lebenshilfe jedenfalls ist sein bester Freund Joachim, welcher depressiv und von Panikattacken begleitet im Krankenhaus liegt, zu viel schon hat dieser als Auslandskorrespondent des Schweizer Fernsehens von der Welt gesehen, man kriegt den Körper zwar aus dem Krieg, aber den Krieg kriegt man nicht so schnell wieder aus dem Körper.

Um endlich finanziell wieder auf die Beine zu kommen, arbeitet Ben an einem Drehbuch über sein Vorbild Stefan Zweig, doch die Begegnung mit einer potentiellen Produzentin wird abermals ein Fiasko.

Ben, der zwar nicht streng jüdisch lebt, aber dem Antisemitismus selbst durchaus widerfahren ist, verzweifelt über der Frage : fliehen oder kämpfen?
Zumindest in der Vergangenheit hatten doch diejenigen, welche rasch flohen, immer die besseren Karten gehabt.

Und plötzlich wird die Angst vor einem atomaren dritten Weltkrieg real, in zumindest in der Vorstellungskraft von Marina Oppenheimer.

Und so findet sich Ben mit seiner brüchigen Familie fast folgerichtig in einem Flieger nach Brasilien wieder, um sich erneut mit der Frage auseinandersetzen zu müssen, was er wirklich noch vorhat in diesem Leben und mit wem er es künftig tatsächlich verbringen möchte.

Seine Leidenschaft für Stefan Zweig jedenfalls, der 1936 keine Stellung gegen den Nationalsozialismus bezog, wird ihm bei der Lösung kämpfen oder fliehen eher keinen Ausweg aufzeigen.

All dies versieht Micha Lewinsky zugleich mit mit einigen Seitenhieben auf Zürich und die Schweiz selbst in einem flüssigen und gut lesbaren Roman, der die Schwierigkeit der Thematik scheinbar mühelos durch die Sprachwahl meistert.

Dabei lernen wir auch unerträgliche deutsche Zeitgenossen in Brasilien kennen, einem Land, wir ahnen es, dass nur in der Vorstellungskraft des verunsicherten Ben einen Ausweg bietet.

Und die Sympathie, die der Autor in den 27 Kapiteln des Romans gegenüber seinem Protagonisten entgegenbringt, überträgt sich bei aller Skurrilität des Benjamin Oppenheimer, der über Empathie und Egoismus zu gleichen Teilen verfügt, auf den Leser und führt uns auf einem hohen Niveau durch die abenteuerliche Handlung.

Und wer weiss - vielleicht ist der Roman auch der Grundstock eines weiteren Films von Micha Lewinsky, für die weibliche Hauptrolle jedenfalls sollte sich die Ehefrau des Autors, die deutsch-brasilianisch-schweizerische (!) Schauspielerin Oriana Schrage, schon einmal bei einem geeigneten Drehbuchautor bewerben.

Bewertung vom 12.08.2024
Juli, August, September
Grjasnowa, Olga

Juli, August, September


ausgezeichnet

Die kapp 40jährige mehrfach ausgezeichnete deutsche Schriftstellerin Olga Grjasnowa veröffentlicht zum Ende des Sommers 2024 (im September !) nun schon ihren fünften Roman mit dem Titel Juli, August, September, der wie die ersten beiden Bücher wieder bei Hanser erscheint.

Es verwundert nicht, dass die in Aserbaidschan geborene Autorin eigene Familienschicksale aufgreift und verarbeitet, wurde sie doch selbst in eine russisch-jüdische Familie geboren, studierte unter anderem auch in Israel und ist mit einem Künstler verheiratet, der freilich kein Pianist ist.

Aber natürlich ist dies keine Autobiografie, denn meisterlich verwebt Grjasnowa ihre intimen Kenntnisse jüdischen Familienlebens in eine fiktive Geschichte, die so leichtfüssig daherkommt, wie nur selten in der Gegenwartsliteratur.

Doch Vorsicht : Leichtigkeit bedeutet nicht Oberflächlichkeit, zu tief sind die Familien in ihrer unheilvollen Vergangenheit behaftet und schwere Kränkungen schwelen nur dürftig unter der Oberfläche und können jederzeit flammend hervorbrechen.

Lou, die Hauptprotagonisten ist in zweiter Ehe mit Sergej verheiratet, einem international erfolgreichen Pianisten, dessen Ruhm und Selbstsicherheit jedoch zu bröckeln scheinen.
Sie beschäftigen - mit hinreichend schlechtem Gewissen - eine Putzfrau, die auch aus dem heruntergekommenen russischen Reich stammt, versuchen ihrer fünfjährigen Tochter Rosa musikalische Früherziehung beibringen zu lassen und halten - wenn auch überwiegend nur noch mittels Sex - die Ehe zumindest nach aussen intakt.

Den seelischen Traumen der Vergangenheit, die unweigerlich auf allen jüdischen Familien lasten, versuchen sie zu entgehen, indem sie einem Alltag ohne jüdischen Ritualen nachgehen, Kerzen an Chanukka entzünden, aber Besuche der Synagoge an den Feiertagen für entbehrlich halten.

Die Aussicht auf eine Feier zum 90. Geburtstag von Lou's Tante Maya auf Gran Canaria verheisst daher kein unbeschwertes Vergnügen.

Gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer aufgeweckten Tochter Rosa, jedoch ohne ihren Mann, machen sich die drei dennoch auf den Weg, um mit Mutters dominanter Schwester Elena und deren gesamter Familie den Geburtstag von Maya zu begehen, es könnte ja mit ihr die letzte Zusammenkunft sein.

Und natürlich brechen gnadenlos alsbald alte Verwundungen auf, erweist sich der erhoffte Zusammenhalt als trügerische Idylle, zeigen sich die unterschiedlichen Familien in ihrem brüchigen Glanz, obschon unter der Oberfläche nicht mal mehr wie einst die Karriere im Vordergrund steht, sondern bereits eine Nicht-Scheidung als grosser Erfolg gilt.

Die gemeinsamen Schreckenserlebnisse der Familie, insbesondere von Maya und ihrer verstorbenen Schwester, die auch den Namen Rosa trug, werden zu Anekdoten verwoben, die rückblickend die eigene Persönlichkeit durch tiefgreifende Einschnitte in die Realität ungerechtfertigt und unverhältnismässig glorifiziert.
Gesichert bleibt nur die traurige Gewissheit, dass die gesamte Verwandtschaft von Rosa und Maya, alle ihre Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen im Holocaust umgebracht wurden, als die beiden noch selbst Kinder waren und zu den elf Prozent jener jüdischen Kinder gehörten, die in Europa überlebt hatten.
Wie immer in dieser Familie wird über vieles gesprochen, jedoch nicht über Liebe, Geld, Krankheiten und Angst; Gefühle sind tief im Inneren einzementiert.
Brüllen gehört ebenso zu einer normalen Familienkonstellation wie die gegenseitigen Vorwürfe zum Lebensstil, zur Ehe und zur Identität :
Wann bist du bloß so deutsch geworden?.

Warum Lou's Mutter vorzeitig die Kanarische Insel verlässt und Lou kurzentschlossen versucht, sich in Tel Aviv ihrer eigenen immerwährenden Unsicherheit zu stellen, wie und wodurch ihr Vertrauen in die eigene Ehe immer heftiger bröckelt, ob sie in Yad Vashem oder auf dem Friedhof in Haifa Antworten auf das Schweigen der noch Lebenden findet - auf all diese Ereignisse kann der Leser im dritten Teil des Buches gespannt sein, welches nach den ersten beiden Kapiteln Juli, August überraschenderweise nicht mit September übertitelt ist.

Ein unterhaltsamer Roman, welcher konzeptionell ein wenig an die kürzlich gesendete überaus erfolgreiche Fernsehserie Die Zweiflers erinnert, hier jedoch literarisch aufbereitet, komisch, liebenswert, anstrengend, nachdenklich und lesenswert.

Bewertung vom 17.07.2024
Kleine Monster
Lind, Jessica

Kleine Monster


ausgezeichnet

Der Roman beginnt mit einer sicher gar nicht so seltenen Begebenheit : Ein Anruf aus der Schule : der siebenjährige Luca habe eine Verfehlung begangen.
Die Eltern Pia und Jakob sind leicht genervt, die Lehrerin einigermassen besonnen und der Junge schweigt.

Und noch bevor Ursachen und Hintergründe der kindlichen Sandkastenspiele aufgeklärt sind, wenden sich die ach so empörten Eltern der anderen Kinder aus der Klasse von Pia und Jakob ab und entfernen diese mal eben aus der Chatgruppe.

Zu den sich hieraus ergebenden Problemen aber kristallisiert sich ein weiteres heraus : das schwelende Misstrauen der Mutter Pia gegenüber ihrem Sohn Luca :
Was hat dieser wirklich getan und wozu könnte er noch fähig sein ?
Gehört er gar zu den Kleinen Monstern ?

Diesen und anderen Fragen geht die österreichische Drehbuchautorin und Schriftstellerin Jessica Lind (nicht verwand mit Hera Lind) in ihrem zweiten Roman eindringlich nach.

Schicht um Schicht wird hierbei offengelegt, dass das eigentliche Problem bei Pia selber liegt. In ihrer Kindheit gab es ein tragisches Ereignis : den Tod ihrer kleinen Schwester Linda. Wer trägt die Schuld daran ? Vielleicht ihre Schwester Romi, welche ihre Eltern im Alter von 14 Monaten aus einem Heim buchstäblich gerettet und hernach adoptiert haben ?

Die später abgebrochene Beziehung zu Romi wird immer ambivalent bleiben, dazu trägt auch das Verhalten ihrer Eltern bei, die Pia mit Sätzen wie jenen ihrer Mutter
Dich habe ich geboren, aber Romi habe ich mir ausgesucht. Sie ist unser Wunschkind. lebenslang mit Zweifeln zurücklassen und die sich ohnehin in einen Kokon eingewoben haben, den die Aura des Ungesagten umspannt.

Und so erleben wir eine zunehmend aufgewühlte Pia, die selbst vor der Intimität ihrer Mannes zurückschreckt und die besonders ihrer Sohn nicht mehr aus den Augen lässt. Argwöhnisch und gepeinigt von unterschwelligen bedrohlichen Empfindungen beobachtet sie ihn beim Spielen mit seiner kleinen Cousine : wieso wirkt er so zärtlich und beruhigend auf sie ein, wird er ihr gar etwas antun wollen ?

Dies ist, eingewoben in die Rückblenden zur Kindheit, meisterlich und psychologisch dicht erzählt, immer auch an der Grenze zum schwarzen österreichischen Humor und mit einer zunehmenden Dramatik.
Unheimlich stark wird hierbei das Verhältnis Mutter - Sohn im auf und ab der Unsicherheit und Zerrissenheit der Gefühle zwischen Liebe, Wut und Hass beschrieben, so dass dem Leser einmal mehr der Atem stockt.

Der Roman mit dem eindringlichen Cover erscheint im Juli 2024 bei Hanser und belegt nachdrücklich, dass wir die Muster und Verhaltensweisen unserer eigenen Kindheit nicht so einfach abschütteln können. Doch ohne die Auseinandersetzung mit unseren unbewusst auf die eigenen Kinder projizierten Schwächen werden wir deren Vertrauen nicht erlangen und mithin selbst Teil der Probleme bleiben und unsere Kinder darunter erneut verunsichert zurücklassen.

Ein Familienroman der etwas anderen Art und eine klare Leseempfehlung für Freunde psychologisch hochwertiger Literatur.

Bewertung vom 18.06.2024
Cascadia
Phillips, Julia

Cascadia


sehr gut

Cascadia
Die Lebenskraft der Schwestern - stark wie ein Bär ?

toniludwig Avatar
Von toniludwig
Nach ihrem weltweit gefeierten Debütroman Das Verschwinden der Erde aus dem Jahre 2021 legt die in Brooklyn lebende Autorin Julia Phillips mit Cascadia ihren zweiten Roman vor, der im Juni unter dem Originaltitel Bear erschienen ist.

Die hier vorliegende Übersetzung erfolgte erneut durch Pociao und Roberto de Hollanda, erscheint bei hanseblau und beschert dem Leser eine klare und eingängige Sprache, die der Ausgangssituation des Romans entspricht : Die beiden Schwestern Sam und Elena, beide Ende zwanzig und nur 13 Monate auseinander führen ein eher freudloses Dasein in der Zeit nach dem Ende der Corona-Pandemie. Mühsam arbeiten sie im Dienstleistungsgewerbe in der Gegend von San Juan Island im Grenzgebiet zwischen dem Nordwesten der USA und Kanada, der Region Cascadia.

Träume von einem sorgloseren und schuldenfreien Leben werden von der Realität immer wieder eingeholt, die Pflege der schwerkranken Mutter jedoch wird ungeachtet aller damit verbundenen Belastungen nie infrage gestellt.
Eines Tages jedoch wird das Leben der drei Frauen in ihrem kleinen hinfälligen Haus auf der Insel gehörig durcheinander gebracht.
Mit dem Auftauchen eines Grizzlybären wird zunehmend deutlich, dass sich die Schwestern ungeachtet ihrer nahezu identischen häuslichen Ausgangssituation doch völlig unterschiedlich entwickelt haben.
Sam, die jüngere Schwester, hat immer zu Elena aufgesehen und ihre eigenen Bedürfnisse völlig zurückgestellt.
Schon in der Schule hat sie sich immer mehr isoliert, Hilfe von anderen steht sie misstrauisch gegenüber und der freudlose Sex mit ihrem Kollegen Ben auf der Fähre befriedigt sie allenfalls nur kurzzeitlich.
Und so verwundert es nicht, dass lebensverändernde Ereignisse sie zu spontanen Aktionen veranlassen, die nicht nur ihre Fassade, sondern ihre gesamte Existenz ins Wanken bringen.

Und ob der Bär jene Gutmütigkeit aufweist wie im vorangestellten Märchen der Brüder Grimm von Schneeweißchen und Rosenrot, wird der Leser selbst erkunden dürfen.

Ihn erwartet eine unterhaltsame Geschichte, die etwas konstruiert wirkt und geraume Zeit wollte der Funke nicht so recht überspringen.
Dies liegt auch daran, dass die Geschichte ausschliesslich aus der Sicht von Sam erzählt wird und die Charaktere ihrer Schwester und den wenigen Männern in ihrem Umfeld reichlich blass bleiben. Die zerrissene Figur von Sam hingegen im Kampf und den Erhalt der Liebe ihrer Schwester wird tiefgründig und glaubwürdig beschrieben.

Gegen Ende des Roman entsteht (endlich) ein Sog, dem man sich nur schwerlich entziehen kann.

Bewertung vom 23.04.2024
Treibgut
Brodeur, Adrienne

Treibgut


ausgezeichnet

Erneut beweist die amerikanische Schriftstellerin Adrienne Brodeur in ihrem Roman Treibgut ihre aussergewöhnliche Fähigkeit, dem Leser verwobene Familiengeschichten mit erzählerischer Bravour nahezubringen.
Unter dem Titel Litte Monsters erschien der Roman 2023, für Rowohlt liegt er nun in deutscher Übersetzung von Karen Witthuhn vor, überdies mit einem exzellent gestalteten Schutzumschlag und einem (seltener werdenden) Lesebändchen.

Die Handlung umfasst einen Rahmen von April bis Oktober 2016, zu einer Zeit, als sich deren Protagonisten noch zuversichtlich zeigten, dass Hillary Clinton als Nachfolgerin von Barak Obama als amerikanische Präsidentin ins Weisse Haus einziehen wird.
Nur Adam Gardener, der Vater der Geschwister Ken und Abby Gardener, trauert da noch Bernie Sanders hinterher, doch der ambitionierte Meeresbiologe, ebenso exzentrisch wie egoistisch, verliert ohnehin zunehmend den Boden unter den Füssen (nahezu sprichwörtlich auf seinem Boot), da er an einer bipolaren Störung leidet und im Ergebnis eines eingangs köstlich beschriebenen Arztbesuches eigenmächtig die Medikamentierung durch Lithium und Seroquel absetzt, um noch einmal kurz vor seinem 70. Geburtstag für vermeintlich bahnbrechende Entdeckungen des Verhaltens von Buckelwalen gefeiert werden zu können.

Seine Kinder Ken und Abby können unterschiedlicher kaum sein.

Ken wuchs 38 Jahre ohne seine Mutter Emily auf, sie starb bei der Geburt seiner Schwester, da war er erst dreieinhalb, diesen Verlaust hat er nie verwunden.
Doch aus seiner Sicht hat er es nun geschafft : Status und Geld verleihen ihm Macht, die ihn nach der Heirat mit Jenny, die aus einer reichen Dynastie stammt, nur noch unabhängiger von ihrer Familie erscheinen lässt.
Dennoch fühlt er sich zurückgesetzt und nicht anerkannt, woran auch die teueren Sitzungen bei einem Psychiater kaum etwas ändern können. Auch gegenüber seiner Schwester verhält er sich ambivalent und bezichtigt sie gar, Schuld am Tode ihrer Mutter zu sein. Grosszügigkeit kennt er nur sich selbst gegenüber und diese ist zumeist materiell.

Seine kluge Frau Jenny, nunmehr Hausfrau und Mutter der pubertierenden Mädchen Frannie und Tessa, hat früh gegen ihre Eltern rebelliert und erträgt die erkaltete Ehe mit ihrem Mann Ken immer öfter nur noch durch abendlichen exzessiven Weingenuss, trotz mehrfacher Aufenthalte in Entzugskliniken und der Angst, von ihren Töchtern als Alkoholikerin entdeckt zu werden.

Abby hingegen ist Künstlerin, besitzlos, unorganisiert und nur mässig erfolgreich, sie verarbeitet gesammelte Treibholzstücke in ihren Bildern und Skulpturen.
Und sie ist schwanger von einem verheirateten Mann, verschweigt dies jedoch zunächst auch ihrer besten Freundin Jenny.

Und als wären diese familiären Probleme nicht genug, greift in das Geschehen auch noch Steph ein, eine Polizistin im Alter von Abby und Mutter eines neugeborenen Sohnes. Mehr oder weniger durch Zufall erfährt sie von ihrer eigenen Mutter, dass diese am Rand einer glamourösen Gala ungewollt schwanger wurde, der Vater nichtsahnend : Adam Gardener.

Aus der Sicht der genannten Personen wird nun eine Geschichte verwoben, die sich ebenso geistreich wie genussvoll zu einem prallen Lesevergnügen entwickelt.

Wir erkunden die schwierigen Beziehungen von Ken und Abby zueinander, die sich erst -auch körperlich- aneinander klammerten, um sich dann doch im Lichte ihrer unaufgearbeiteten Kindheit zu entfremden ebenso wie die Sicht ihres Vaters auf die heranwachsenden Geschwister, der sich selbst so grossartig findet und doch seine Kinder insgeheim als kleine Monster bezeichnet.
Kleine Monster heisst auch das Gemälde, welches Abby gemalt hat, um dem 70. Geburtstag ihres Vaters einen gebührenden Rahmen zu geben und welches ihre ganze Zerrissenheit facettenreich offenbart und ihren Bruder so unfassbar wütend stimmt.

Doch vom Verlauf dieser Feier hat ein jeder andere Vorstellungen und der Leser ahnt, dass dieses Fest in einer Katastrophe enden könnte.

In diesem Roman wird weder gewertet, noch wird der Stab über die Protagonisten gebrochen - psychologisch sauber nachempfunden entwickeln sie sich auf ihre Art in unterschiedliche Richtungen und in wechselnden Intensitäten und Verantwortungen.

Die Beschreibung der Familienwelt von Zerrissenheit und Macht, Lügen und Vertuschungen und deren Zusammenspiel mit echt empfundenen Gefühlen, mit Enttäuschungen, Liebe und Einsamkeit fesseln den Leser und lassen den Rezensenten eine deutliche Leseempfehlung aussprechen.

Bewertung vom 06.03.2024
Der Lärm des Lebens
Hartmann, Jörg

Der Lärm des Lebens


ausgezeichnet

In der Rahmenhandlung versuchen die beiden Stuttgarter Schauspielstudenten Jörg Hartmann und Hüseyin (Michael Cirpici) Anfang der 1990er Jahre an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin auf nahezu übergriffige Weise bei der damaligen künstlerischen Leiterin Andrea Breth auf ihr eigenes Talent aufmerksam zu machen und erhalten von ihr schließlich eine schier unlösbare Hausaufgabe : Ein Vorsprechen der ersten Szene von Goethes Clavigo unter Verweis auf die legendäre Inszenierung von Fritz Kortner mit Thomas Holtzmann und Rolf Boysen, 1969 (!) am Schauspielhaus Hamburg.

Mit Einfallsreichtum gehen die beiden Freunde der Sache nach, vielleicht eine grandiose Form der Selbstüberschätzung ?

Wie die Sache ausgeht, wird hier natürlich nicht verraten; gleich im nun folgenden Handlungsstrang wendet sich der Autor seinem schwer an Demenz erkrankten Vater zu.

Hartmann erzählt - und wer sich fragt, ob dies erneut sein muss - ein schreibender Schauspieler -, wird alsbald seine Vorurteile über Bord werfen können, denn Hartmann kann nicht nur Schauspiel, er kann auch schreiben.
Dabei versucht er gar nicht erst, sich hinter seiner Prominenz zu verstecken, er ist eben d e r Faber aus dem Dortmunder Tatort, wo er unter allen Ermittelnden ohnehin schon in Charakter und Darstellung eine exponierte Figur ist.

Die Eindrücklichkeit des nicht als Roman bezeichneten Textes resultiert aus den Betrachtungen der Endlichkeit unseres Lebens, exemplarisch nachspürbar durch die Krankheit des Vaters und dem immerwährenden Kreislauf, als Heranwachsender und eigener Familienvater doch wieder zu wenig Zeit und Aufmerksamkeit gegenüber den eigenen Eltern aufzuwenden und Nähe zur erweiterten Familie erst wieder auf Beerdigungen zu erfahren.

Nachdenkliches auch über Themen wie Pflegenotstand, das Überleben der Großeltern in Nazideutschland und der unfassbare Rechtsruck in der heutigen Zeit, über den Mauerfall und die verschenkten Gestaltungsmöglichkeiten der Gesellschaft in der Folge, über Fluch und Segen des Berufes, der Umgang miteinander in der Pandemie und etliches mehr.
Grandios an diesem Text ist : Hartmann moralisiert nicht, er stellt sich und seine Ansichten immer wieder in Frage, hat Selbstzweifel (Jeder will an das glauben, was er lebt. Wir alle verdrängen die Fragen, die wehtun, die uns zwingen würden, unser Leben zu ändern.) und schon sich selber nicht (...ich westdeutsches In-Watte-Gepacktes!).

Aber keine Angst - das Buch ist nicht bedeutungsschwanger überfrachtet, es ist vielmehr durchzogen von einem heiteren Grundton mit unzähligen lustigen Episoden aus der eigenen Kindheit oder im Zusammensein mit seinen eigenen Kindern.
Durch die Kindheit seiner Kinder erlebt man wieder die eigene. Und sieht in seinen Eltern die eigene Zukunft.
Die von seinem Vater mitgegebene Lebenskunst, Gefühle zuzulassen und zu zeigen, ermöglichte das Schreiben dieses Textes und ist ein grosses Geschenk an die Leser.

Dies hat auch der Rowohlt Verlag Berlin erkannt, der das kleine Büchlein fein mit einem Lesebändchen ausgestat

Bewertung vom 09.02.2024
Hallo, du Schöne
Napolitano, Ann

Hallo, du Schöne


ausgezeichnet

William Waters, der Junge aus dem Vorort von Boston, durchlebt unter dem Eindruck des frühen Todes seiner größeren Schwester eine Kindheit, die durch die Verbitterung seiner Eltern geprägt ist und in welcher Zuwendung und Herzlichkeit gar nicht erst aufkommen.
Basketball lautet der Ausweg für William, denn zunächst braucht es hierfür nur einen Korb und einen Ball.
Die Einsamkeit wird geringer, als William erstmals gesehen wird im besten Wortsinne, in diesem Falle von gleichaltrigen Mitspielern.
Und auf diese Weise lernt der stille Junge, was es bedeutet, Teil einer Gemeinschaft zu werden und intensiviert zugleich sein Spiel.
Dies kommt ihm zu Gute, als er im Chicago - Collage weiterhin seinem Sport nachgehen kann, nunmehr auch auf beachtliche 2 Meter eins gewachsen.

Zu dieser Zeit tritt die kluge und hübsche Studentin Julia Padavano in sein Leben, die keineswegs aus einem begüterten Hause kommt, aber ihren neuen Freund furchtlos ihren Eltern vorstellt, nachdem er zuvor von ihrer Schwester Sylvie und den beiden Zwillingsschwestern Cecilia und Emeline bei Sport begutachtet wurde.

Es kommt zu einem ersten Zusammentreffen in der Familie von Julia und zu einem Kennenlernen, welches das Leben der jungen Menschen nachhaltig beeinflussen wird.
Julia entwickelte dabei schon immer Pläne, für sich, ihre Schwestern mit denen sie scheinbar untrennbar verbunden ist und nun auch für ihren zukünftigen Mann.
Als Rakete wurde sie deshalb von ihm Vater oft bezeichnet.
Wie sich dies auf das Leben und die Beziehung der beiden jungen Menschen auswirkt und welche Rolle die Schwestern und Familie überhaupt spielen, wird in diesem Roman überwiegend im Zeitraum von 1982 bis in Jahr 2008 erzählt.

Nahezu mystische Zeilen aus einem Hautwerk des amerikanischen Lyrikers Walt Whitman sind dem Buch vorangestellt, sie werden den Ton des Buches begleiten, dessen erster Satz gleichermassen Schicksale der Protagonisten bestimmen werden :
Die ersten sechs Tage seines Lebens war William Waters kein Einzelkind.

Charlie, Ehemann von Rose und Vater der Schwestern ist ein kenntnisreicher Verehrer von Whitman und vielleicht sogar ein Seelenverwandter.
Erst als er unerwartet stirbt, wird zumindest seinen Kindern klar, wie angesehen ihr Vater in Pilsen, einem Arbeiterviertel voller Immigranten, gewesen war.
Und was sie mit ihm alles noch hätten besprechen können und wie sehr er auch ohne grosse Worte und Gesten seinen Schwiegersohn, der nicht ein Gedicht in seinem Leben bislang gelesen hatte, verstand und warum er sein Leben so oft mit dem Alkohol gelindert hat.
Er ist es auch, der seine Mädchen titelgebend begrüsste, Hallo, Du Schöne, Worte, die das Leben des Vaters überdauern werden.
Seine Seele jedenfalls wird über alle Zeit in den Gedanken der Mädchen bleiben, mehr als ihre Mutter Rose, die zwar nicht stirbt, aber deren katholischer Starrsinn zu einer Entfremdung führen wird.
Charlie war zu Lebzeiten immer als Versager gesehen worden, doch Jahrzehnte nach einem oder liebet ihn seine Tochter noch immer so sehr, dass er für William der erfolgreichste Mann war, den er je kennengelernt hatte, heisst es an einer Stelle des Romans.

Dies sind die Rahmenbedingungen der Handlung, die sich gleichwohl um William und seine Beziehung zu Julia und ihren Schwestern rankt.
William spürt ein für ihn lange Zeit unerreichbares Glück mit Julia und er tut alles dafür, ihre Liebe zu erwidern.
Noch hat er Erfolge im Basketball, doch durch Knieverletzungen ist das Betreiben seines geliebten Sports gefährdet und beschädigt wohlmöglich auch sein Selbstvertrauen.

Der Roman wird in übersichtlichen Kapiteln über William, Julia und der bücherliebenden Sylvie erzählt, gegen Ende kommt noch eine weitere erwachsene Person hinzu.
Jede der Schwestern entwickelt ihre eigene Geschichte und nicht alle Vorhersagen von Julia, der Ältesten, werden eintreten.

Es wird Irrtümer geben, Verwerfungen, Fehleinschätzungen, harte Entscheidungen, Geheimnisse, unbequeme Wahrheiten, trügerische Sicherheiten, Zerbrochenheit und zudem bahnen sich scheinbare Unmöglichkeiten Raum.

Die Geschichte jedenfalls entwickelt sich wie ein Sog.

Und wer sich darauf einlässt, in das Beziehungsgeflecht der Familie einzutauchen, wird hierfür überbordernd belohnt werden.

Denn der kluge Roman handelt von Liebe, auch innerhalb der Familie, obschon der strapazierte Satz Blut ist dicker als Wasser nie auftauchen wird.

Aber die Empathie seiner Protagonisten erzeugen beim Lesen neben all der finsteren Traurigkeit auch ein tiefes wärmendes Gefühl, dass die Kälte der Gegenwart förmlich schmelzen lässt, melancholisch und nie sentimental.
Es ist auch ein Roman über Freunde und wie wichtig und kostbar gar Freundschaften überhaupt sind, zuweilen gar überlebenswichtig.
Und er beschäftigt sich klug mit der Frage, wie wichtig die berufliche Karriere im Leben eines Menschen wohl sein mag und ob wir einander verzeihen können (und wann es dafür zu spät ist).

Bewertung vom 20.11.2023
All dies könnte anders sein
Thankam Mathews, Sarah

All dies könnte anders sein


sehr gut

Der literarische Bücherherbst beinhaltet auch das bemerkenswerte Debüt der indisch- amerikanischen Autorin Sarah Thankram Mathews mit ihrem Roman All This Could Be Different, erschienen in der deutschen Übersetzung von Yasemin Dincer unter dem Titel Alles könnte anders sein in der Verlagsgruppe HarperCollins.

Der jungen Sneha gelingt es, sich nach einem Studium der Germanistik in einer brachenfremden amerikanischen Arbeitswelt zu etablieren, was vielen ihrer Freunde versagt bleibt.

Das Arbeitsleben, diktiert von merkwürdigen Verhaltensanforderungen ihres Chefs, ist schon anstrengend genug.
In ihrer Freizeit versucht die junge zerbrechliche Frau, sich über ihre Sehsüchte und Gefühle bis hin zu ihrer sexuellen Orientierung im Klaren zu werden.

Dabei begleitet sie der Leser in vier untergliederten Kapiteln vom ICH zum WIR.

Und blickt in die Abgründe der amerikanischen Gesellschaft, in der die indischen Eltern der jungen Frau scheiterten und in der ihre Tochter für immer eine Immigrantin bleiben wird.
Sie erlebt Demütigungen und Schikanen in ihrem Job oder durch die Verwalterin ihrer Wohnung und macht dabei mehr durch, als Nächte.
Darüber wird sie selbst zuweilen hart, ungerecht, ziel- und zügellos und beschwört Situationen herauf, durch die sie selbst in existentielle und lebensbedrohliche Krisen gerät.

Und ihr wahre grosse Liebe, mit der sie mehr als erotische Exzesse verbindet, droht an einer Lüge zu zerbrechen.

Es ist auch ein Roman über die alte Erkenntnis, wie wichtig es ist, Freunde zu haben und sie zu behalten und darüber, wie gut es tut, in den verständnisvollen Schoss der Eltern zurückfallen zu können.

Der Roman endet mit einer Hochzeit, mehr soll hier nicht verraten werden.

Dies alles ist versehen mit vielen klugen Gedanken und verfasst in einer eher nüchternen Sprache, die zuweilen wie ein Sog auf den Leser wirkt, klar und gelegentlich skurril, doch es ist kein heiterer Roman, dafür sorgten die Umstände der zu Ende gehenden Ära von Barak Obama und letztlich ihre Protagonisten schon selbst.

Bewertung vom 11.09.2023
Eigentum
Haas, Wolf

Eigentum


ausgezeichnet

Vom österreichischen Autor Wolf Haas, 1960 im Salzburger Land geboren, erschien im Carl Hanser - Verlag nun ein (weiteres ?) autobiografisches Werk mit dem zunächst eigentümlich anmutenden Titel Eigentum.

Beschrieben wird in Rückblicken das schwere und von Armut gezeichnete Leben seiner Mutter, deren Lebenstage gezählt sind, so erschließt sich auch die Namensgebung des Buches, denn Eigentum im Kontext mit Wohlstand gab es für die Bauernfamilie in den Zeiten der Weltwirtschaftskrise gerade nicht.

Muss dies denn sein : Ein weiterer Roman über die Familie eines prominenten Schriftstellers ?

Klares JA, wenn der Autor Haas heisst und in der Lage ist, sarkastisch und dennoch liebevoll auf seine Mutter und damit verbunden auf sein eigenes Leben zurückzublicken.

Marianne Haas, Jahrgang 1923, Tochter eines Wagnermeisters (hat nichts mit Musik zu tun), ist eigenwillig, eigenartig, selbstbestimmt und auf ihre Art schrullig-liebenswert, sie zählt sich die Welt irgendwie zusammen, wie es an einer Stelle des Buches beschrieben wird.
Beim Begräbnis zählt die Wirtin die Anzahl der Beleidigungen durch sie einfach nur numerisch auf.
Wen wundert es, zehn Kinder zu Hause beim Wagnermeister, kein Geld, kein Platz,
sparen sparen sparen klagt Marianne, die eigenständig nur mit Mar. unterzeichnet und zur Meisterin des rhetorischen Trias geworden ist : den ganzen Tag nur waschen putzen bügeln. Kochen stricken nähen. Arbeit Arbeit Arbeit.

Weltwirtschaftskrise, das Ersparte dahin.
Und dann der zweite Weltkrieg, Arbeitsdienst, Kriegshilfsdienst.

Das prägt ein Leben, die Mutter konnte Englisch und Französisch, gab später erfolgreich Nachhilfeunterricht, hatte ihren Traum vom eigenen Grundstück (Eigentum) längst aufgeben müssen, doch sie konnte nicht mit Leuten.

Wolf Haas verwebt das Schicksal seiner Mutter - eingebunden in die Familie - großartig mit den Begegnungen in den letzten Lebenstagen.
Mal lässt er die Mutter selbst erzählen in ihrem wunderbar eigenständigen Duktus, mal berichtet er, auch mit einer liebenswerten eigenen Ironie : Lass weg, Haas.

Berührend auch die Hilflosigkeit beider im Umgang am Telefon in den letzten Lebensjahren zum Beispiel, doch die Mutter hat aus Sorge um das Wohlergehen ihrer Söhne immer auf ein Telefon bestanden.

Und als Haas eine Frage an seine Mutter hat und sie anruft, meldet sich am Telefon sein Bruder aus dem Altersheim mit der Todesnachricht.
Wie sehr Haas seiner Mutter verbunden war, belegt insbesondere der ungemein traurige letzte Satz des Romans.

Ein Zeitkolorit und ein Beleg dafür, wie die Eltern uns prägen - sehr lesenswert.

Bewertung vom 11.09.2023
Kleine Probleme
Pollatschek, Nele

Kleine Probleme


sehr gut

Von Nele Pollatscheck, die zuletzt mit ihrem Buch über England bewiesen hat, dass sie erfrischend und pointiert schreiben kann, erschien nunmehr ihr zweiter Roman Kleine Probleme bei Galiani–Berlin.

Der 49jährige erfolglose Schriftsteller Lars, Partner von Johanna und Vater zweier Kinder, sitzt zum Jahresende verlassen und verlottert im verwaisten Haus und versucht, sein Leben wieder so zu ordnen, dass
er vor sich selbst und vor allem vor seiner Familie bestehen kann.
Er hat mühsam eine Erledigungsliste mit 13 Punkten erstellt und geringe Motivation, all seine mit diesen ausstehenden Aufgaben verbundenen Probleme noch zeitnah zu lösen.
Und natürlich gibt es immer gute Gründe, Dinge zu verschieben oder hintenan zu stellen oder sich einfach gute Erklärungen einfallen zu lassen, warum die fristgerechte Abgabe einer unerträglichen Steuererklärung
quasi scheitern muss, wer kennt das nicht.

Und Lars macht es sich dabei nicht leicht - und Nele Pollatscheck dem Leser leider auch nicht.
Der Roman beinhaltet eine Menge Spass, etwa wenn Johanna sagt, dass ihr beim Putzen immer die besten Ideen kommen und bei Lars kommen diese beim Fernsehen, daraus folge die entsprechende
Aufteilung.
Und das Sinnieren über Übermut und Untermut und Mittelmut macht beim Lesen ebenso Vergnügen, wie die mit Kapitalismuskritik verbundene Beschreibung einer Aufbauanleitung eines Bettes
eines grossen schwedischen Möbelhauses, welches sich auf Korea reimt, aber eben nicht sehr gut.

Der Leser findet sich wieder im Wirrwarr der Strichmännchen und Schraubenzeichnungen und Nummern, obschon uns Gott doch das Geschenk der Sprache gegeben hat und mit dieser hantiert Pollatscheck
in vielerlei klugen Exkursen zu einer Menge von Problemen unserer Zeit.

Anstrengender aber wird es da schon beim Nachvollziehen des Zusammenbaus, da den einzelnen Teilen Namen wie Pleumel, Nieze oder Plodden verpasst werden und diese nun irgendwie zusammenfinden müssen.

Und Sätze wie …dass man nicht ernsthaft putzen kann, ohne über Chaos nachzudenken, und dass man dann auch sofort beim zweiten Hauptsatz der Thermodynamik ist, bei der Irreversibilität der Entropie, beim
lauwarmen Rauschen der Materie, bei elektrischen Schafen und der Apokalypse … durchziehen das Werk immer wieder, ohne Sprachfluss und Handlung zu befördern.

Die Spannung des Romans (der auch eine Erzählung sein könnte) indes entsteht aus der Frage, wie mag es wohl ausgehen, mit Lars und all seinen Vorsätzen, die förmlich nach Scheitern schreien,
aber dadurch im Alltag wohl doch keine so grossen Wunden hinterlassen würden.

Und so beantwortet Nele Pollatscheck an eines Stelle exemplarisch selbst den Charakter ihres Buches :

Es ist alles zu viel. Die Steuer und das Klima, der Krieg und Spam und Postdienst und Afrika und das die Kinder fast erwachsen sind. Dass man endlich mit dem Rauchen aufhören muss. Dass man trotzdem sterben wird.
… Das ist alles zu viel, und es ist alles zu wenig.

12