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Benutzername: 
MarcoL
Wohnort: 
Füssen

Bewertungen

Insgesamt 197 Bewertungen
Bewertung vom 19.01.2025
Die Glühbirnendiebe
Ró¿ycki, Tomasz

Die Glühbirnendiebe


sehr gut

Ein amüsantes Sammelsurium an Erlebnissen aus einem polnischen Wohnblock aus der Sicht eines Jungen.

Der junge Tadeusz wohnt mit seiner Familie in einem riesigen Wohnblock, mit zig Stockwerken und unzähligen Wohnungen, gegossen aus Beton. Wahre „Meisterleistungen“ der sowjetisch geprägten Ingenieurskunst, errichtet im guten Sinne des verfallenden Kommunismus‘. Sarkasmus off.
Endlose Flure verbinden die Flügel miteinander, für Tadeusz scheinen sie einer Weltreise nahe zu kommen. Besonders der Korridor im Dachboden, von welchem Türen in schier unüberschaubaren Mengen abgehen, und meistens nur Depots sind für Putzeimer oder sonstigen Utensilien.
Die Familie des Jungen lebt ziemlich weit oben. Dreht unten jemand das Wasser auf, so heißt es erst mal Ebbe. Zuwenig Wasserdruck von den genossenschaftlichen Einrichtungen. Oder auch mal zu wenig Strom.
Am Namenstag seines Vaters (der wie immer groß und pompös gefeiert wird, und alle Nachbarn vorbei kommen) möge Tadeusz doch zu Stefan gehen, um den Kaffee mahlen zu lassen, den sie unter abenteuerlichen und mühsamen, stundenlangen Anstehen ergattert haben. Denn man geht nicht einfach so in den Supermarkt und kauft was man möchte. Nein, es gibt Ausgabekarten, das Angebot divers. Mal Toilettenpapier im Überfluss, Lebensmittel auf das Gramm genau rationiert, selten Kaffee, noch seltener Kubanische Bananen. Erst stehen die Kinder an, die dafür sogar schulfrei bekommen, dann nehmen die Mütter, sobald sie den Haushalt erledigt haben, deren Plätze in der Schlange ein. Es sind tagesfüllende, familienzusammenschweißende Tätigkeiten. Die Gedanken treiben nur um ein Thema: bekommen wir überhaupt noch was oder heißt es just genau vor uns: Sorry, alles weg.
Und während Tadeusz über den langen, meist dunklen Korridor geht, denn die Glühbirnen dort haben nie lange bestand und wechseln sehr schnell die Besitzer, erzählt er uns viel über das Leben im Block. Von den Nachbarn, seine Wickel mit anderen Jungen, natürlich von seiner Familie oder den beiden Töchtern von Stefan, Bermuda und Barrakuda mit Namen.

Der ganze Roman ist ein dichtgedrängtes Sammelsurium aus Erinnerungen und Erlebnissen, wie sie nun mal in so einer Anhäufung menschlichen Daseins vorkommen.
Mit Blicken über die Dachkante in Schule und nahe Seen. Außerdem, so Tadeusz, wenn man gute Sicht hat und genau schaut, kann man wirklich sehr weit sehen. Nach Süden zum Beispiel nach Libyen, oder gar noch weiter. Oder in die andere Richtungen über die Stadtgrenzen sehr weit hinaus.

Der Autor packt hier sehr dicht und konzentriert unzählige Erlebnisse und Schilderungen in diesen Roman, gespickt mit leisen Anspielungen auf den Kommunismus, stets mit einem Augenzwinkern und viel Humor, manchmal bitterböse.
Der Roman ist sehr unterhaltsam, benötigt aber auf Grund der hohen Dichte von Berichten viel Konzentration – mit anderen Worten: er liest sich nicht so einfach weg. Manchmal muss man innehalten, verdauen, bis man den mit Informationen gefüllten Kessel leer hat. Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, bleibt ein Bild vom Leben im Wohnsilo hängen, das nicht nur einen dunklen Korridor zeigt mit einem Jungen, der eine Blechdose mit Kaffee in den Händen hat und vor unsichtbaren Verfolgern flüchtet, oder einer zunehmend ausschweifenden Familienfeier mit einer Mutter, sich todesmutig auf einen anderen Balkon schwingt, sondern auch ein Abbild der Gesellschaft, und dieses sich hinter der Netzhaut einbrennt.
Gerne gelesen, viel geschmunzelt. Darum: Leseempfehlung für ein kleines literarisches Abenteuer.

Bewertung vom 16.01.2025
HEXE
Fagan, Jenni

HEXE


ausgezeichnet

Basierend auf den Hexenprozessen von 1590 in North Berwick schlägt die Autorin gekonnt eine Brücke in die Gegenwart. Der feministische Kampf ist noch längst nicht zu Ende gefochten. Sehr große Leseempfehlung!

Iris, ein Medium, reist am 1. August 2021 zurück in die Vergangenheit. Mittels Séancen und Astralreisen trifft sie auf Geillis Duncan, die am 4. Dezember 1591 durch den Strang in Edinburgh an der High Street hingerichtet wurde.
Iris verwandelt sich in einen Raben, nimmt Kontakt mit der fünfzehnjährigen Geillis auf, und teilt mit ihr die letzten bangen Stunden vor ihrer Hinrichtung.
Der Hintergrund sind die Hexenprozesse von North Berwick, die zwischen 70 und 200 Menschen das Leben gekostet hatten. Es seien alles Hexen gewesen. Sie sind für die absurdesten Sachen (wie damals so üblich) verurteilt worden. Unter schlimmer Folter gesteht man ja schließlich irgendwann alles. Ausgehend für diesen Wahnsinn war ein Hexenprozess in Kopenhagen. Anna Koldings wurde angeklagt, durch Hexerei verhindert zu haben, dass Prinzessin Anna nicht direkt zur Hochzeit mit König Jakob VI. nach Schottland reisen konnte. Der schottische König Jakob VI (ziemlich geistig umnachtet) nahm diese Gedanken mit Freuden auf, und mittels David Seaton wurde eine Verbindung zu Geillis Duncan geschlagen.
Geillis war seit zwei Jahren Hausmädchen bei Seaton – verrichtete alle aufgebürdeten Arbeiten. Sie wurde instrumentalisiert, um die reiche Euphame MacCalzean zu denunzieren, damit deren Ehemann ihr Geld erben kann. Als offiziellen Grund werden den Frauen Hexereien angelastet, so hätten sie doch ebenfalls Stürme über die Nordsee geschickt. Ein Widerrufen des unter Folter herausgepressten Geständnisses brachte nichts mehr, erst recht nicht vor dem Pfarrer, der vor der Hinrichtung voller Ekel mit Geillis in Ausübung seiner Pflicht (und nicht freiwillig) sprach.
Iris will Geillis in ihren letzten Stunden beistehen. Und sie auch nochmals ermutigen, die Wahrheit vor dem geifernden Pöbel bei der Hinrichtung hinauszuposaunen, denn der Kampf um Wahrheit und Gleichstellung wird nicht (nie?) enden.
Auch in 500 Jahren erinnert man sich noch an sie, an ihren mutigen Kampf. Und auch in 500 Jahren kämpfen die Frauen immer noch um Gerechtigkeit. Denn die Männer sind nach wie vor Verhinderer der Gleichstellung.

S. 48: „Vorsicht, was die Motive der Männer angeht. Macht einen Buckel! Es ist ein großes Unglück für eine Frau groß zu sein […] Keine hohen Absätze! Das Klick-Klack-Klick ist ein Morsezeichen für Vergewaltiger. Es bedeutet, dass ihr Urteil nachsichtig sein wird. Oder es gar keines gibt. Wenn sie nicht Stöckelschuhe getragen hätte. Wenn sie nicht durch den Park gegangen wäre. Wenn sie abends doch zu Hause geblieben wäre.“

Das Buch arbeitet sehr gekonnt die historischen Begebenheiten rund um die Hexenprozesse auf, und schlägt eine Brücke in die heutige Zeit. Vieles hat sich nicht geändert. Die Männer sind nach wie vor misogyne Täter, können mehr oder weniger tun und lassen was sie wollen. Bewährt seit Tausenden von Jahren, denn laut Kirche sind ja die Frauen an allem Übel der Welt schuld.

S. 47: „Wie können Frauen die Wahrheit sagen, wo wir doch den Garten Eden zerstört und anfällig für Betrug und Böses sind? […] Nimm ihr das Einzige, was sie hat – ihre Stimme, ihren Geist. Nimm es. Zermahle es zu etwas Pestartigem. […] Macht ist nicht etwas, das Frauen leicht zugestanden wird – wenn überhaupt … ganz zu schweigen davon, diese dann auch auszuüben.
Nicht nach dem Gesetz!
Die Kirche sagt Nein.“

Der Kampf der Obrigkeit, des Adels, des Klerus‘, Frauen zu unterdrücken, ist seit Äonen ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft. Die Autorin schafft es mit diesem gerade mal 140 Seiten starken, sehr augenfreundlich gesetztem Buch, auf viele Missstände hinzuweisen. Sie verknüpft diese sehr gut mit den historischen Ansätzen, lässt abwechselnd Geillis und Iris zu Wort kommen.
Die Hexenverfolgungen mögen abgenommen haben, aber sie leben auch heute noch in einer anderen Art und Weise weiter. Das Buch ist ein feministischer Aufschrei um Gerechtigkeit.
Eine Triggerwarnung möchte ich noch ausgeben: Die beschriebenen Folterszenen, oder die multiplen Vergewaltigungen von Geillis, sind harter Tobak.
Aber die Realität ist nicht wirklich besser.
Für diesen Roman gebe ich eine sehr große Leseempfehlung! Lest es! Besonders ihr Männer, die immer noch glauben, Frauen seien Freiwild und minderwertige Menschen.

Bewertung vom 12.01.2025
Übung
Brown, Rosalind

Übung


ausgezeichnet

Klug inszenierter Zwiespalt zwischen Prokrastination und den aufgelegten Pflichten, wunderbar in die literarische Welt eingepackt.

Annabel ist 21 Jahre jung, studiert in Oxford Englische Literaturwissenschaften, und muss einen Essay über Shakespeares Sonette zu schreiben.
Es ist ein Sonntag im Januar des Jahres 2009, bis zum nächsten Morgen sollte ihre Arbeit beendet sein. Die Zeit drückt, rückt vor. Aber noch ist ja etwas vom Tag übrig. Prokrastination in Bestform. So vieles gäbe es zu tun (oder nicht), an so viele Dinge zu denken, wie zum Beispiel an ihren Freund, einen Arzt, 15 Jahre älter als sie. Und was sie das nächste Wochenende wohl machen sollen.
Der ganze Roman spielt an diesem einen Tag. Wir begleiten Annabel bei all ihren Vorrichtungen des Tages, sei es das Aufbrühen von Tee, oder auch die Vorgänge der körperlichen Ausscheidungen. Ich habe noch nie erlebt, wie poetisch das beschrieben werden kann.
Die Protagonistin schleppt sich durch den kalten Wintertag, geht spazieren, trägt ihre Aufgabe vor sich her. Sie nimmt uns mit in ihren Gedanken rund um die Welt von Sonette im Allgemeinen und Speziellen, huldigt natürlich das Genie von Shakespeare. Und, wie darf es auch anders sein, versucht sie, Parallelen aus der Welt der Sonette zu ihrem eigenen Leben, insbesondere Liebesleben, zu suchen. Oftmals mit dabei: ihre Fernbeziehung, ihr Lover, die Gedanken an den Sex mit ihm, die aufkeimende Lust gepaart mit dem Drang, diese selbst zu stillen.
Nur am Rande streifen ein paar Kommilitoninnen ihren Tag, zeugen in doppelter Weise von der Einsamkeit der Gedanken.
Der Roman wird zu einem bis ins kleinste Detail beschriebenen, reflektierenden Mix aus der gestellten Aufgabe und den Ablenkungen des Tages. Sie spielt in ihrem Kopf so oft es geht fiktive Szenen zwischen zwei Männern durch. Dem GELEHRTEN und dem VERFÜHRER. Annäherungsversuche, Abweisungen. Werden sie zusammen das Unausweichliche tun? Oder nicht? Scheu? Scham? Vernunft? Laisser-faire? Die Gedankenspiele sind eine wunderbare Metapher, die die Autorin geschickt einbaut, um den inneren Zwist von Annabel darzustellen. Den Verlockungen des Nichts-Tuns nachgehen oder doch Vernunft annehmen.
Wer jetzt auch noch an Virginia Woolf und ihrem Mr. Dalloway denkt, dessen Geschichte auch nur an einem Tag stattfindet und von Gedankenspielen durchtränkt ist, liegt richtig. Auch Woolfs Werk spielt im Roman neben der tragenden Hommage an Shakespeare eine Rolle.
So komplex das sich nun alles anhören mag, so schnell verschlingt man diesen Roman. Die Sprache ist wunderbar gehalten, semi-poetisch, in einem rasanten Erzählstil, der kaum Zeit zum Atmen lässt. Rosalind Browns Sprache entwickelt einen besonderen Sog. So schnell kann man gar nicht umblättern, als das man wissen möchte, wie sich der Tag von Annabel entwickelt. Und ob sie es dann noch schafft, den Essay zu verfassen oder nicht.
Detailreich, den Spiegel vorsetzend, denn wie oft ertappen wir uns selbst beim Müßiggang und lassen die Zeit beim süßen Nichtstun verrauschen.
Wunderbar geschrieben, ohne Tabus, herrlich übersetzt. Ein kleines literarisches Juwel! Absolute Leseempfehlung.

Bewertung vom 09.01.2025
Cold Case Ötzi
Rohrer, Josef

Cold Case Ötzi


ausgezeichnet

Wurde Ötzi ermordet? Ein sehr spannendes Sachbuch über den Mann aus dem Eis.

Alexander Horn - Profiler, Oliver Peschel - Rechtsmediziner, Andreas Putzer – Archäologe, und der Autor schließen sich für drei Tage in einer abgeschiedenen, hochalpinen Hütte ein um den Mordfall Ötzi zu beleuchten.
Ich kann mich noch gut an die Bilder erinnern, als die mumifizierte Leiche 1991 am Gletscher auf über 3000 Meter Seehöhe gefunden wurde. Die ersten Mutmaßungen und dann die große Sensation – über 5000 Jahre alt. Muss die Geschichte neu geschrieben werden? Und wer war der Unbekannte? Die Leiche und all die Fundstücke wurden auf das genaueste untersucht, um Antworten auf die vielen Fragen zu finden, hauptsächlich aus archäologischer Sicht. Erst zehn Jahre später, 2001, wurde eine Pfeilspitze in Ötzis Schulter entdeckt, die zweifelsfrei als Teil einer Tatwaffe, die seinen Tod verursachte, identifiziert werden konnte. Das warf ein neues Licht auf den Mann aus dem Eis.
Die drei Wissenschaftler setzten sich nun akribisch mit dem Fall auseinander. Mit dem Mordfall, denn davon wird mittlerweile ausgegangen. Oder war es doch ein Jagdunfall.
Nach 5200 Jahren kann das natürlich nicht mehr vollständig geklärt werden. Und dennoch, was Forensik und Archäologie mittlerweile alles zu Tage fördern, ist mehr als erstaunlich. Unter anderem anhand von wenigen Pollen, die im Magen, an Kleidung, etc. gefunden wurden, ließ sich ein recht gutes Bild von Ötzi und der ganzen Gegend zeichnen. So konnte mit ziemlicher Sicherheit sein soziales Umfeld beschrieben werden, seine ursprüngliche Herkunft aus einem anderen Tal, usw.
Das Buch liest sich weg wie nichts, ist spannend wie ein Krimi. Erstaunliche Erkenntnisse werden uns präsentiert, nach und nach aufgearbeitet. Und vor allem: sehr flüssig geschrieben. Viele Skizzen und Fotos ergänzen alles perfekt. Das Buch gibt sehr interessante Einblicke auf die Arbeit der Forensik und Rechtsmedizin, und auch darauf, wie verzwickte Kriminalfälle in der Praxis aufgerollt werden.
Ein Sachbuch, das, ich wiederhole mich, spannender ist als so mancher Krimi, den ich gelesen habe.
Sehr gerne gebe ich eine Leseempfehlung für dieses informative Buch.

Bewertung vom 07.01.2025
Bruckners Affe
Peschka, Karin

Bruckners Affe


ausgezeichnet

Ein herrlich verfasstes Meisterstück über Anton Bruckner! Sehr lesenswert!

Während seines Begräbnisses steigt der Komponist Anton Bruckner aus seinem Sarg. Etwas verwirrt, hastet er nach Hause, muss er doch unbedingt noch seine letzte Symphonie, die Neunte, fertigstellen. Verdutzt lässt er die Trauernden hinter sich, darunter seinen ärgster Kritiker Eduard Hanslick und seine Majestät Kaiser Franz Josef I. Sie scheinen alle empört, wohingegen seine Haushälterin Kathi die Einzige zu sein scheint, die sich freut und Bruckner nicht nur umsorgt, sondern auch versucht, ihm den Kritiker und sogar den Kaiser vom Hals zu halten. Denn die meinen, Bruckner solle sich dem Unausweichlichen stellen und zurück in seinen Sarg steigen.
In den weiteren Akten dieses herrlichen Stückes, das als Stationentheater konzipiert ist und das Publikum mit einbezieht, tauchen der mittlere und der jüngere Bruckner auf. Schlüsselszenen aus seinem Leben – Kindheit, Jugend. Aus den Sichtweisen als Erwachsener, Aushilfslehrer und Organist schafft es die Autorin die innere Zerrissenheit Bruckners darzustellen. Seine Position am Rande der gehobenen Gesellschaft; und vor allem über seine Musik, die ihm innewohnt, die unbedingt raus muss, und sei es bei etwas improvisierten Orgelspielen während der Gottesdienste. Kurzum: Seine Genialität stand ihm selbst im Weg.
Seine Begegnung mit einem Affen, gefangen gehalten und zur Schau gestellt im Stift Wilhering, ist eine Kernszene dieses Theaterstückes. Sie soll Bruckner zu Teilen seiner ersten Symphonie inspiriert haben.
Mit Witz und Wortspiel zaubert hier Karin Peschka ein Werk, das mit wenigen Worten sehr eindringlich Anton Bruckner beschreibt. Allein die Szene, als Haushälterin Kathi allen so richtig die Meinung sagt, ist genial.
Die Dialoge sind im Dialekt geschrieben, was ich als äußerst passend finde und dem Ganzen den letzten Schliff gibt wie die perfekte Prise Salz.
Ein Essay der Autorin rundet dieses kleine Werk wunderbar ab. Der österreichische Komponist Anton Bruckner ist somit kein Fremder mehr – er steht oder sitzt nun da an seinem Pult und wandelt seine von Musik durchtränkten Gedanken in Noten um.
Herrlich zu lesen! Riesenkompliment an die Autorin und ganz große Leseempfehlung . Ich hoffe, eines Tages die Aufführung dieses Stückes erleben zu dürfen.

Bewertung vom 05.01.2025
Zerrissene Sonne
D'Amérique, Jean

Zerrissene Sonne


ausgezeichnet

Eine Zwölfjährige in einem armuts- und kriminalitätsdurchtränkten Land. Sehr lesenswert!

Die zwölfjährige Tête Félée, was so viel wie Spinnerin bedeutet, wächst in den Slums von Port-au-Prince auf Haiti auf. Die allgegenwärtige Armut ist zum Greifen, die Lebensumstände so, wie wir es uns nicht im Entferntesten vorstellen können. Um an Wasser zu kommen, muss Tête Félée von ihrer Hütte, in der sie mit ihrer Mutter und Stiefvater lebt, fünfhundert Meter zum nächsten Brunnen pilgern. Der Kampf um einen Eimer Wasser geht oftmals über Stunden.

S.20: „Mich wie gestern vier Stunden lang mit Wortgefechten und Körperscharmützeln abgegeben, um an einen Eimer Wasser ranzukommen […]“

Das Slumleben scheint von den Erwachsenen gewollt zu sein. Ihre Mutter, genannt Fleur d’Orange, arbeitet als Nobelprostituierte, und ihr Stiefvater ist die rechte Hand des Gangster-Bosses mit dem Namen Metall-Engel. Am Geld scheint es nicht zu liegen.

Tête Félée möchte lernen, bemüht sich in der Schule, auch wenn: „Die Schule ist mit Abstand eine der dreckigsten Abwegigkeiten, in die sich unsere Welten zum Zweck der Erleuchtung allzu sehr verbissen haben.“
Dennoch zieht es sie dorthin, nicht zuletzt wegen ihrer Schulkameradin Silence, die Tochter ihres Lehrers, in die sie sich verliebt hat.
Neben dem Schülerinnendasein gibt es nur noch das raue Leben. Ihr Stiefvater, den sie dennoch Papa nennt, spannt sie für so manche Gaunereien ein. Die Kriminalität wird von den Kindern in den Slums mit der Muttermilch aufgesogen. Doch die Dinge entwickeln sich selten so, wie man es sie für sich vorhersieht oder wünscht.
Tête Félée möchte weg, hat Haiti satt.

S.48: „Raus aus diesem Land mit seinen lockersitzenden Kugeln. Raus aus diesem Land der zwölfjährigen Gangster. Runter von dieser Insel mit ihren unendlichen Schwindelliedern.“

S.59: „Was die Polizisten angeht, so waren sie, wie immer in diesem Land, damit beschäftigt, ihrem Beruf nicht gerecht zu werden.“

Mehr kann ich nicht verraten, denn alles andere wäre gespoilert. Und es passiert in diesem gerade mal 115 Seiten starken Roman noch jede Menge. Schlimme, brutale Sachen. Schmerzvolles für Körper und Seele. ↓↓↓ (weiter im Kommentar)

Die Autorin erzählt eindrücklich und ungeschönt, nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Der sprichwörtliche Kampf ums Überleben nimmt sich selbst beim Wort.
Und trotz der vielen verstörenden Bilder erzeugt die Autorin mit ihrer Erzählkraft einen unglaublichen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Der Inhalt wird zu einem Mix aus jugendlicher Unschuld, bitterem Sarkasmus und der brutalen Härte, die der Alltag bereithält, eingepackt in eine Sprache, die sich einer Poesie nicht entziehen kann.
In diesen wenigen Seiten des Romans steckt ein Großteil des Lebens von Haiti, wie wir es auf Hochglanzprospekten niemals finden werden. Knapp und prägnant eröffnet uns Jean d’Amerique das wahre, bittere, armuts- und kriminalitätsdurchtränkte Land.

Ganz große Leseempfehlung für diesen Roman, der teilweise schockieren mag, aber unbedingt gelesen werden will, ja muss.

Bewertung vom 02.01.2025
Der beste Tag seit langem
Volkmann, Jana

Der beste Tag seit langem


ausgezeichnet

Herrlich erzählter Roman gegen das Ausbeuten von Tieren. Leseempfehlung!

Tiere werden tagtäglich von der selbsternannten Krönung der Schöpfung namens Mensch zur Arbeit gezwungen, versklavt, ausgebeutet, gemetzelt.
Was, wenn man den Tieren den Ungehorsam beibringen könnte. Die Arbeit verweigern. Fiakerpferden zum Beispiel.
Denn so ein Pferd wollte nicht mehr, und ist Maja und ihrer Nichte Cordelia schlichtweg zugelaufen. Zumindest trabte das anscheinend herrenlose und arbeitsverweigernde Tier den beiden nach, lebte fortan in einem Garten einer Siedlung am Rande Wiens. Die beiden kümmerten sich um Isidora, wie sie das Pferd nannten. Sie versuchten ein Geheimnis daraus zu machen, denn die Nachbarschaft, ein alt eingesessenes Rechtsanwaltsgeschlecht, hatte so ihren Ruf. Diese Vorurteile zerbröckelten rasch, auch dort herrschte große Tierliebe.
Etwas abseits von Maya entwickelt sich unter dem Beisein von Cordelia eine neue Szene von Tierschützern. Sie möchten den Tieren den Ungehorsam beibringen, zum Streik „erziehen“.

Jana Volkmann legt mit ihrem Roman sehr gezielt die Finger auf die offene Wunde unserer Gesellschaft. Die Lebewesen sind „nur“ eine Sache in unserer kapitalistischen Welt. Ein Ding zur Befriedigung unseres Verlangens. Das Überfallen der Natur mit allen möglichen Mitteln, das Unterjochen aller Spezies. Das ist das zentrale Thema des Romans.
Volkmann gelingt das große Kunststück, diese Themen in einen wirklich leicht und unterhaltsam zu lesenden Roman zu packen. Ihre Worte kommen oft mit gut verstecktem Humor daher, haben dann aber auch wieder die nötige Strenge, um mit erhobenem Zeigefinger die Missstände aufzudecken.
Die Autorin schafft es mühelos, ihre Leserschaft zum Nachdenken zu bewegen. Muss es immer noch so sein, wie es immer schon war, oder ist es nicht wirklich an der Zeit, umzudenken. Weg nicht nur vom Kapitalismus, sondern auch fort von dem allgemein durchtränkten Gedanken, alles beherrschen zu müssen.
Sehr gerne gebe ich eine große Leseempfehlung für diesen tollen, sehr flüssig zu lesenden Roman.

Bewertung vom 28.12.2024
Die Schlangen werden dich holen
Malfatto, Emilienne

Die Schlangen werden dich holen


ausgezeichnet

Ein Abbild der kolumbianischen Gesellschaft. Ein sehr lesenswerter Berichtsroman.

Warum musste Maritza sterben? Dieser Frage geht die Autorin und Journalistin Emilienne Malfatto mit detektivischem Gespür nach. War Maritza zur falschen Zeit am falschen Ort? Wie so oft in Kolumbien, wenn man zwischen die Fronten des Drogenkrieges gerät? Oder war sie als Sozial-Aktivistin ein Dorn im Auge der Regierung? War es ein Mord aus Habgier und Neid, obwohl Maritza kaum etwas besaß außer einer Parzelle Land?
Malfatto führt uns tief in den Dschungel Kolumbiens – ein Dschungel aus Korruption und unterschiedlichen Machtinteressen. Das Land ist reich an fruchtbarem Boden, hat eine üppige Vegetation. Kaffeesträucher, die dort so gut gedeihen, werden ausgerissen, um Platz zu machen für den Anbau von Marihuana und Kokain. Die Gegenden sind fest in einem mafiosen Clan. Daran reiben sich Paramilitärs, und auch die Regierung. Immer wieder werden von den Guerillas die Berghänge durchstreift, die Opfer unter den Zivilisten sind zahlreich. 200000.
Die Autorin beleuchtet das Umfeld von Maritza. Sie forscht nach, spricht mit Zeitzeugen, Bekannten und den Kindern der Getöteten. Nach und nach offenbart sie uns das Leben der Frau, von der Kindheit an bis zum Tag ihres Todes am 5. Januar 2019 in ihrem zweiundsechzigsten Lebensjahr. Mutter von sechs Kindern. Es war der fünfte Mord an einer sozialen Aktivistin binnen fünf Tagen. Das Motiv scheint vorerst klar, denn der Regierung und Polizei ist es einerlei. Es scheint sie nicht zu interessieren. Die Familie, total verängstigt, kümmert sich um das Nötigste und um ein Begräbnis. Steckt dennoch mehr dahinter?
Was auf den ersten Blick wie eine Tatsachenrecherche anmutet, ist in Wahrheit ein überzeugender Berichts-Roman, der den ganzen Sumpf der Korruption beleuchtet. Ein Thriller wäre nicht spannender. Oder schockierender. Denn hier werden tagtägliche Begebenheiten erzählt, bar jeder Fiktion.
Die Sprache ist eindrücklich, fließend, ein richtiger Genuss. Trotz der Schwere des Inhalts bewahrt sich der Text seine eigene Leichtigkeit, um die Kost einigermaßen gut verdauen zu können.
Maritzas ganzes Leben war ein Kampf. Ein Wechsel zwischen bitterster Armut, einer trostlosen Kindheit, und auch wieder Lichtblicke, wenn sie ihre eigene Finca bewirtschaften konnte. Zusammen mit ihrem Ehemann Alvaro war das Leben erträglicher. Aber ihm ereilte schon früh dasselbe Schicksal, als die Guerillas an deren Türe klopften, ein wenig die Gastfreundschaft auskosteten, besonnen miteinander redeten. Nur um dann Alvaro höflich aus dem eigenen Haus zu bitten. Die Schüsse prägten sich in den Ohrenzeugen ein.
Malfatto beschreibt eine Gesellschaft zwischen armer Landbevölkerung, reichen Patriarchen, korrupter Regierung und touristenverseuchten Stränden, die wir uns nicht annähernd vorstellen können. Kampf und Leid der Bevölkerung. Opfer zwischen den Mühlsteinen, ausgebeutet wie eh und je.
Lest das Buch! Schaut über den eigenen Tellerrand und denkt an die unzähligen armen Seelen, wenn ihre ein Tasse kolumbianischen Kaffee trinkt.
Ganz große Leseempfehlung für diesen preisgekrönten Roman.

PS: Der Titel des Buches erklärt sich im Roman! Kann hier nicht verraten werden.

Bewertung vom 18.12.2024
Kleine Fliegen der Gewissheit
MacCarthy, Molly

Kleine Fliegen der Gewissheit


sehr gut

Ein schön erzählter, autofiktionaler Einblick in die Bloomsbury Group und deren Zeit

Molly McCarthy – eigentlich hieß sie mit Vornamen Mary – war eine Schriftstellerin aus der Bloomsbury Group. Dessen bekannteste Vertreterin Virginia Woolf war eine Cousine von McCarthy.
Das Gesamtwerk von McCarthy ist eher beschaulich. Dieser Roman erschien 1924 und enthält starke autobiografische Züge.
Die Autorin erzählt viel über ihre Kindheit und Jugend. Vom Aufwachsen auf einem großen herrschaftlichen Anwesen, in unmittelbarer Nähe von Schloss Windsor. Über ihre Eltern, und vor allem all den Freiheiten, die sie hatte. Anscheinend hat es sie als Kind übertrieben mit dem „Unaufmerksamsein“ und wurde für ein paar Jahre von ihrer Mutter in ein Kloster gesteckt. Die Bedingungen dort waren das komplette Gegenteil von ihrem Zuhause. Eingepfercht in kaltes Gemäuer, der Zucht und Ordnung der Ordensschwestern ausgesetzt, ständig hungrig und krank.
Als ihr Vater Vize-Schulleiter von Eton wurde, mussten sie übersiedeln. Eine neue, prägende Zeit brach heran. So kam sie in Kontakt mit den verschiedensten Persönlichkeiten.
Es war das Auslaufen des Viktorianischen Zeitalters. Die Gesellschaft war eng in dieses steife Korsett aus strengstem Konservatismus, Bigotterie und Patriarchat verschnürt. In Erinnerungsepisoden erzählt Molly von der Starre des endenden neunzehnten Jahrhunderts und eines unbestimmten Aufbruches in eine neue, turbulentere Zeit, in der auch Frauen vielleicht ein klein wenig mehr öffentliche Achtung fanden als noch ein paar Jahre zuvor.
Dennoch bleiben Wissenschaft und Kunst fest in Männerhand.
Das Buch ist nett und unterhaltsam zu lesen. Manchmal direkt, dann wieder ironisch bekommen wir einen guten Blick auf die damalige Gesellschaft und das Erwachen der klassischen Moderne.
Das Vorwort des Übersetzers, wenn auch ziemlich umständlich formuliert, gibt einen umfassenden Überblick über das Leben der Autorin. Ein Essay über McCarthy von Virginia Woolf rundet das Buch perfekt ab.
Perfekt für Interessierte der damaligen literarischen Strömungen und Freunde von Bloomsbury.

Bewertung vom 15.12.2024
Das Archiv der Herzschläge
Imai Messina, Laura

Das Archiv der Herzschläge


ausgezeichnet

Ein ruhiger, gefühlvoller Roman rund um Freundschaft, das Loslassen und die Bewältigung von Trauer.

Shūichi, 40, hatte es nicht leicht in seinem bisherigen Leben. Er lebte zurückgezogen in Tokio als Autor und Illustrator von Kinderbüchern. Er war mit einem Herzfehler zur Welt gekommen, benötigte eine Operation. Diese ließ er aber erst an sich vornehmen, als sein Leben gefestigt, und er verantwortlich für seine kleine Familie war.
Aber vieles ist vergänglich ... In seinem jetzigen Zustand blickte er zurück, strich sich über seine große Narbe an der Brust, verfolgte seinen Herzschlag, und dachte an viele Dinge aus seiner Kindheit. Doch seine Erinnerungen schienen ihn zu betrügen, denn an das was er sich entsann und das was er glaubte zu wissen passte nicht zusammen. Seine Mutter hatte ihm wohl mit viel Erfolg sein Leben schön geredet. Probleme? Gab es nicht, es war doch alles viel anders, leichter, schöner.
Als dann seine Mutter starb zog er in das kleine Haus seiner Kindheit, krempelte um, mistete aus. Sein Leben war eine Maske, hinter der er sich verbarg. Eines Tages entdeckte er einen kleinen Jungen, der jeden Tag in das Haus einstieg, um ein paar belanglose Dinge zu entwenden. Es war Kenta, ein Junge aus der Nachbarschaft, der viel Zeit mit Shūichis Mutter verbrachte, wie er nach und nach erfuhr.
Zwischen Kenta und Shūichi bildete sich eine Freundschaft, eine zart blühende Knospe, die sich dennoch weigerte, ihre volle Blüte zu entfalten. Shūichi erfuhr dabei viel über seine Mutter und auch über sich selbst. Sein Leben, und vor allem seine Einstellung zum Leben änderten sich. Er wachte aus seiner depressionsähnlichen Eingeschlossenheit in sich selbst auf. Er ließ sein Herz wieder Leben, erlaubt ihm einen anderen Rhythmus und auch die Liebe, die er ausgesperrt hatte, um keine Verluste mehr erleiden zu müssen, darf wieder Einzug halten.

S. 158: „Lieben, wiederholte er in seinem Kopf, war ein unerträgliches Risiko.“

S.173: „An jenem Tag kehrte das Bedürfnis zu fühlen zu ihm zurück.“

Die Freundschaft zwischen den beiden wurde inniger, und sie fuhren auf die Insel Teshima zum Archiv der Herzen. Es ist ein Museum, in dem Herzschläge von Menschen aus aller Welt gespeichert sind (gibt es tatsächlich). Und Shūichi machte dort eine unglaubliche Entdeckung …

Die in Japan lebende Italienerin Laura Imai Messina schreibt mit diesem Roman eine sehr gefühlvolle Geschichte. Sie kommt ruhig daher, in Wellen ohne große Aufs- und Abs. Es ist ein sanfter Roman, die Sprachführung könnte man als typisch Japanisch bezeichnen, höflich, ohne die LeserInnen zu sehr emotional kompromittieren zu wollen. Dennoch zieht die Story die Leserschaft in ihren Bann.
Trauer und deren Bewältigung stehen stark im Vordergrund, genauso wie das Leben einem immer wieder neue Chancen bietet. Die Vergangenheit, so einschneidend die Erfahrungen auch waren, muss nicht auf Dauer bestimmender Bestand des Lebens bleiben.

Gerne gebe ich eine Leseempfehlung für diesen gefühlvollen Roman und wunderschön gestaltete Buch.