Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
MarcoL
Wohnort: 
Füssen

Bewertungen

Insgesamt 189 Bewertungen
Bewertung vom 18.12.2024
Kleine Fliegen der Gewissheit
MacCarthy, Molly

Kleine Fliegen der Gewissheit


sehr gut

Ein schön erzählter, autofiktionaler Einblick in die Bloomsbury Group und deren Zeit

Molly McCarthy – eigentlich hieß sie mit Vornamen Mary – war eine Schriftstellerin aus der Bloomsbury Group. Dessen bekannteste Vertreterin Virginia Woolf war eine Cousine von McCarthy.
Das Gesamtwerk von McCarthy ist eher beschaulich. Dieser Roman erschien 1924 und enthält starke autobiografische Züge.
Die Autorin erzählt viel über ihre Kindheit und Jugend. Vom Aufwachsen auf einem großen herrschaftlichen Anwesen, in unmittelbarer Nähe von Schloss Windsor. Über ihre Eltern, und vor allem all den Freiheiten, die sie hatte. Anscheinend hat es sie als Kind übertrieben mit dem „Unaufmerksamsein“ und wurde für ein paar Jahre von ihrer Mutter in ein Kloster gesteckt. Die Bedingungen dort waren das komplette Gegenteil von ihrem Zuhause. Eingepfercht in kaltes Gemäuer, der Zucht und Ordnung der Ordensschwestern ausgesetzt, ständig hungrig und krank.
Als ihr Vater Vize-Schulleiter von Eton wurde, mussten sie übersiedeln. Eine neue, prägende Zeit brach heran. So kam sie in Kontakt mit den verschiedensten Persönlichkeiten.
Es war das Auslaufen des Viktorianischen Zeitalters. Die Gesellschaft war eng in dieses steife Korsett aus strengstem Konservatismus, Bigotterie und Patriarchat verschnürt. In Erinnerungsepisoden erzählt Molly von der Starre des endenden neunzehnten Jahrhunderts und eines unbestimmten Aufbruches in eine neue, turbulentere Zeit, in der auch Frauen vielleicht ein klein wenig mehr öffentliche Achtung fanden als noch ein paar Jahre zuvor.
Dennoch bleiben Wissenschaft und Kunst fest in Männerhand.
Das Buch ist nett und unterhaltsam zu lesen. Manchmal direkt, dann wieder ironisch bekommen wir einen guten Blick auf die damalige Gesellschaft und das Erwachen der klassischen Moderne.
Das Vorwort des Übersetzers, wenn auch ziemlich umständlich formuliert, gibt einen umfassenden Überblick über das Leben der Autorin. Ein Essay über McCarthy von Virginia Woolf rundet das Buch perfekt ab.
Perfekt für Interessierte der damaligen literarischen Strömungen und Freunde von Bloomsbury.

Bewertung vom 15.12.2024
Das Archiv der Herzschläge
Imai Messina, Laura

Das Archiv der Herzschläge


ausgezeichnet

Ein ruhiger, gefühlvoller Roman rund um Freundschaft, das Loslassen und die Bewältigung von Trauer.

Shūichi, 40, hatte es nicht leicht in seinem bisherigen Leben. Er lebte zurückgezogen in Tokio als Autor und Illustrator von Kinderbüchern. Er war mit einem Herzfehler zur Welt gekommen, benötigte eine Operation. Diese ließ er aber erst an sich vornehmen, als sein Leben gefestigt, und er verantwortlich für seine kleine Familie war.
Aber vieles ist vergänglich ... In seinem jetzigen Zustand blickte er zurück, strich sich über seine große Narbe an der Brust, verfolgte seinen Herzschlag, und dachte an viele Dinge aus seiner Kindheit. Doch seine Erinnerungen schienen ihn zu betrügen, denn an das was er sich entsann und das was er glaubte zu wissen passte nicht zusammen. Seine Mutter hatte ihm wohl mit viel Erfolg sein Leben schön geredet. Probleme? Gab es nicht, es war doch alles viel anders, leichter, schöner.
Als dann seine Mutter starb zog er in das kleine Haus seiner Kindheit, krempelte um, mistete aus. Sein Leben war eine Maske, hinter der er sich verbarg. Eines Tages entdeckte er einen kleinen Jungen, der jeden Tag in das Haus einstieg, um ein paar belanglose Dinge zu entwenden. Es war Kenta, ein Junge aus der Nachbarschaft, der viel Zeit mit Shūichis Mutter verbrachte, wie er nach und nach erfuhr.
Zwischen Kenta und Shūichi bildete sich eine Freundschaft, eine zart blühende Knospe, die sich dennoch weigerte, ihre volle Blüte zu entfalten. Shūichi erfuhr dabei viel über seine Mutter und auch über sich selbst. Sein Leben, und vor allem seine Einstellung zum Leben änderten sich. Er wachte aus seiner depressionsähnlichen Eingeschlossenheit in sich selbst auf. Er ließ sein Herz wieder Leben, erlaubt ihm einen anderen Rhythmus und auch die Liebe, die er ausgesperrt hatte, um keine Verluste mehr erleiden zu müssen, darf wieder Einzug halten.

S. 158: „Lieben, wiederholte er in seinem Kopf, war ein unerträgliches Risiko.“

S.173: „An jenem Tag kehrte das Bedürfnis zu fühlen zu ihm zurück.“

Die Freundschaft zwischen den beiden wurde inniger, und sie fuhren auf die Insel Teshima zum Archiv der Herzen. Es ist ein Museum, in dem Herzschläge von Menschen aus aller Welt gespeichert sind (gibt es tatsächlich). Und Shūichi machte dort eine unglaubliche Entdeckung …

Die in Japan lebende Italienerin Laura Imai Messina schreibt mit diesem Roman eine sehr gefühlvolle Geschichte. Sie kommt ruhig daher, in Wellen ohne große Aufs- und Abs. Es ist ein sanfter Roman, die Sprachführung könnte man als typisch Japanisch bezeichnen, höflich, ohne die LeserInnen zu sehr emotional kompromittieren zu wollen. Dennoch zieht die Story die Leserschaft in ihren Bann.
Trauer und deren Bewältigung stehen stark im Vordergrund, genauso wie das Leben einem immer wieder neue Chancen bietet. Die Vergangenheit, so einschneidend die Erfahrungen auch waren, muss nicht auf Dauer bestimmender Bestand des Lebens bleiben.

Gerne gebe ich eine Leseempfehlung für diesen gefühlvollen Roman und wunderschön gestaltete Buch.

Bewertung vom 10.12.2024
The Hollow Places
Kingfisher, T.

The Hollow Places


sehr gut

Spannender Mix aus Horror und Fantasy, manchmal etwas zu verfahren.

Manchmal bekommt man, in diesem Fall Kara, Mitte 30, die vollendeten Tatsachen präsentiert. Ihr Mann will die Trennung, die trotz gewisser Unstimmigkeiten doch eher unerwartet kommt. Sie muss raus aus dem gemeinsamen Haus, und so viel Meilen wie nur möglich zwischen sich und ihrer Mutter bringen. Ein Wink des Schicksals ergibt sich: ihr Onkel Earl bietet ihr an, bei ihm zu wohnen und zu arbeiten. Wohnung und Arbeit heißt: sein Museum für (sehr) kuriose Dinge aus aller Welt zu hüten. Dafür gibt es ein Hinterzimmer zu bewohnen. DIE Gelegenheit!
Es entwickelt sich gar nicht schlecht, findet im exzentrischen Barista Simon vom Café gegenüber einen guten Kumpel. Alles wunderbar, Earl muss zur Operation ins Krankenhaus, Kara schmeißt den Laden alleine.
Bis da eines Tages ein mysteriöses Loch in einer Wand auftaucht. Zuerst klein, aber dank der Neugier von Kara und Simon bald so groß, dass die beiden hindurchschlüpfen können. Sie entdecken einen Gang, eine Leiche und schließlich eine Tür in eine fremdartige Welt mit viel Wasser. Unzählige Inseln zeichnen sich ab, fast alle sind mit einem Bunker aus Beton versehen, scheinen selbst wieder Zugänge zu anderen Welten zu haben. Wer jetzt sofort an das erste Buch von Narnia denkt: Bingo! Auch Vergleiche mit Alice im Wunderland sind zulässig und legitim.
Ihr Erkundungstrieb weicht bald dem blanken Entsetzen, nicht mehr nach Hause zu finden, zumal sehr eigenartige Kreaturen in der anderen Welt hausen. Und Weiden! Böse Bäume, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen.
Die Story entwickelt sich zu einem Spießrutenlauf, ob das Loch in der Wand wieder verschlossen werden kann, oder sich von selbst schließt und die Beiden in der unwirtlichen Welt gefangen bleiben. Oder lauern gar die Kreaturen nur darauf, Karas Welt in Besitz zu nehmen? Und es stellt sich natürlich durch den ganzen Roman die Frage: warum ist das Loch überhaupt entstanden. Eine Lösung gibt es natürlich, wird aber nicht verraten.
Der Roman ist ein gutes Sammelsurium aus Horror- und Fantasyelementen. Die Sprachführung ist locker, manchmal aber zu ausschweifend. Im Prinzip hätte die ganze Geschichte auch auf die Hälfte gekürzt werden können, der Handlung wäre auch so genüge getan worden. So hangelt man sich durch verschiedene Details aus Karas Leben – und fiebert dann tatsächlich auf eine Fortsetzung des eigentlichen Handlungsfadens hin. Denn eines ist sicher: an Einfallsreichtum mangelt es der Autorin, die hier unter Pseudonym schreibt (bürgerlich Ursula Vernon, mit erfolgreichen Kinderbüchern und Comics), nicht.
Gerne gebe ich eine Leseempfehlung für alle, die gerne mal etwas anderes lesen, und sich von einem interessanten Plot in unbekannte und schaurige Welten entführen lassen möchten.

Bewertung vom 08.12.2024
Was noch kommt (eBook, ePUB)
Fónyad, Gábor

Was noch kommt (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Ein amüsanter Streifzug durch einen Familienurlaub, gewürzt mit essentiellen Fragen zum Leben.

War das schon alles im Leben? Kommt da noch was? Vierzig, Mitte vierzig. Wohnung, gefestigte Partnerschaft, Kinder. Job auch nicht so schlecht. Ein geregeltes Leben. Was will man(N) denn mehr? Geben sich Alltagsfrust und die Eintönigkeit des Lebens die Hand und klopfen dir auf die Schulter und sagen: Prima gemacht.
Auf amüsante Art und Weise erzählt uns der Autor von zwei Familien, die mit ihren Kindern Urlaub in Südengland machen, nähe Brighton. Warum? Der Ich-Erzähler Max hat dort vor vielen Jahren eine geile Zeit verbracht. An seine Erinnerungen möchte er anknüpfen, nochmals den Flair erleben, das Feeling aufsaugen. Seine Frau Sarah willigte in den Urlaub ein, genauso ihr befreundetes Paar Mona und Stefan samt Söhnchen Theo.
Neben Regen und Strand gibt es auch den ein oder anderen Ausflug. In der Ferienwohnung versucht man, sich mehr oder weniger aus dem Weg zu gehen. Die Abende sind vorgeplant, jeweils zwei Erwachsene gehen in den Pub, was sechs verschiedene Konstellationen abgibt. Die anderen beiden hüten die Kinder.
Neben Windelwechseln und quengelndem Nachwuchs herrscht sogar manchmal so etwas wie Harmonie, und der ein oder andere Ausflug wird dann gar nicht mal so schlecht.
Max erzählt viel von sich, seine Art sich um die Familie zu kümmern ist fast schon übertrieben mustergültig mit Arbeitsteilung, Karenzjahr, usw. Ein Ding, das für Stefan unmöglich wäre. Er sieht sich als „der Macher“, ist handwerklich geschickt (also das komplette Gegenteil von Max) und demnächst würden sie ein Haus renovieren und dort einziehen.
Auch Sarah und Mona sind unterschiedlich. Während sich Sarah kaum ein Blatt vor den Mund nimmt und ihren Max auch vor versammelter Mannschaft spüren lässt, was ihr nicht passt, ist Mona die eher ruhige Frau, die abwägt, diplomatisch agiert. Und Mona und Max scheinen gut miteinander auszukommen.
Und so kristallisiert sich nach und nach heraus, wo die Sehnsüchte der jeweiligen Personen liegen, was sie noch machen möchten, was in ihrem Leben noch kommen könnte (oder auch nicht). Es wird zum einem zukunftsweisenden Urlaub für alle Beteiligte. Was passiert: bitte selber lesen.
Detailverliebt, mit Esprit und dezentem Humor geht Gábor Fónyad an diesen Roman heran. Feinfühlig portraitiert er die ProtagonistInnen, man erkennt sich in der einen oder anderen Situation wieder. Die große Frage, ob ab einem bestimmten Alter schon der große Haken unter das Schauspiel namens „Leben“ gesetzt werden kann, versucht er mit dieser Urlaubsgeschichte zu erörtern. Wie sind die Menschen: langweilig sesshaft oder aufgeweckt genug für Neues? Und wer bleibt dann auf der Strecke? Oder ist es wirklich nur die viel zitierte Midlife-Crises? Gekonnt und amüsant umgesetzt, bleibt es dennoch an uns selber, diese Frage zu beantworten.
Gerne gebe ich eine Leseempfehlung für diesen Roman, der mich nicht nur gut unterhalten, sondern auch zum Nachdenken angeregt hat.
Das Coverbild skizziert das „Upside Down“ Haus, eines der Ausflugsziele im Roman, und auch ein wenig Sinnbild für den Inhalt, wenn das Nachdenken über das bisherige Leben so manches auf den Kopf stellen mag.

Bewertung vom 05.12.2024
Der Rabe, der mich liebte (eBook, ePUB)
Sakin, Abdelaziz Baraka

Der Rabe, der mich liebte (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Eine bewegende Geschichte von zwei Flüchtlingen aus dem Sudan! Wertvoll!

Diese Geschichte über Flucht und der Hoffnung auf ein besseres Leben beginnt damit, dass Al-Nur, einer der Ich-ErzählerInnen des Romans, nach zwei Jahren seinen alten Freund und Fluchtbegleiter Adam Saad Saadan zufällig in Graz wiedertrifft. Doch Adam, der von allen Adam-Ingliz genannt wurde, war kaum wieder zu erkennen. Verwahrlost, offensichtlich dem Wahnsinn nahe, scheint er Al-Nur nicht zu erkennen, und bettelt ihn an. Al-Nur versucht ihm helfen, doch nach kurzen Begegnungen verschwindet Ingliz wieder.
Von diesem Zeitpunkt an wird die Geschichte aufgerollt. Beide stammen aus dem Sudan und machten sich zu Fuß über den „Ameisenweg“ auf nach Europa. Über Graz gelangten sie bis nach Calais – in den sogenannten „Dschungel“, ein Flüchtlingslager. Die dort Gestrandeten leben in erbärmlichen Verhältnissen, allein die Hoffnung haltet sie aufrecht, es nach Großbritannien zu schaffen, sei es mit einem windigen Boot oder auf der Achse eines LKWs. Manchen gelang es, andere sind verschollen. Adam möchte nicht auf dem Festland bleiben. Er träumt davon, ein Professor in Oxford zu werden. Daher rührt auch sein Spitzname Ingliz. Vor dem Meer hatte er Angst, gleichfalls vor der LKW-Achse. Er beschloss, die Flucht mit einem Heißluftballon zu versuchen. Er möchte fliegen, wie seine Kumpane, die Raben. Mit ihnen scheint sich seine Seele verbunden zu haben. Nun, der Fluchtversuch änderte so manches …
In eindrücklichen Bildern erzählt der Autor, in seiner Heimat Sudan verfolgt, über die Flucht, die Zeit in den Lagern und von den unbändigen Wünschen auf ein besseres Leben. Adams Schicksal ist berührend, zeigt es doch auf, woran Menschen letztendlich scheitern können, oder ganz im Gegenteil, was ihnen Flügel verleiht.
Al-Nur fühlt sich Adam verpflichtet.

S. 102: „Adam Ingliz und ich haben alles geteilt, sogar Hunger und Durst, Angst und Geduld. Alle haben mich im Stich gelassen, als ich mir […] den Fuß verknackst habe und die Polizei hinter uns her war. […] und er hat mich auf dem Rücken über unwegsame Pfade getragen, bis wir gerettet waren.“

Im Dschungel von Calais erzählen sich die Asylsuchenden, die Adam kannten, Anekdoten über ihn.
Viele Menschen säumten den Weg der beiden Flüchtlinge, darunter hilfsbereite Seelen voller Empathie, wie die junge Frau Evelina, die Adam helfen wollte, und von ihm „Mama“ genannt wurde.

S.46: „Was können fünf Euro mit einem Menschen machen? Er hatte sie mir aus den Händen gerissen und war verschwunden. Was, wenn es zehn Euro gewesen wären oder tausend oder eine Million? Plötzlich überkam mich Trauer über ein so ungerechtes Schicksal. Dass ein so schöner und starker Mann zu einem Bettler wird, der sich dermaßen über eine so geringen Geldbetrag freut, während andere Millionen besitzen, ständig schlechte Laune haben und schließlich aufgrund von Stress und psychischem Druck sterben, weil sie sich in einem ständigen Kampf um noch mehr Geld und Privilegien befinden.“

Es ist ein wunderbares Buch über die Macht von Freundschaft und über die wahren Werte im Leben. Es ist ein Buch über innige Wünsche, und letztendlich auch über das Scheitern und das ganze Drama und Elend der Flüchtlinge. Aber es zieht einen nicht hinunter, sondern der Autor versteht es, eine positive Grundstimmung aufrecht zu erhalten, einem Abenteuer gleich mit vielen Botschaften zwischen den Zeilen.
Die Raben waren Adams Heil, er fütterte sie, sprach mit ihnen. Sie verstanden ihn wohl. Eine Hommage an E.A. Poe – Nimmermehr - Nevermore – das Absolutum, das Unausweichliche!

Ganz große Leseemempfehlung für diesen bewegenden Roman! Kauft ihn! Lest ihn! Er tut uns gut!

Bewertung vom 01.12.2024
Styx
Bauer, Jürgen

Styx


ausgezeichnet

Ein Hund, ein Garten – ein Neubeginn einer talentierten Frau. Literarisch einmalig!

Irgendwann wird es „Madame Partitur“ zu viel. Sie zieht die Reißleine, auch wenn das einen freien Fall bedeuten könnte.
Sie ist Souffleuse in einem Opernhaus. Sie landete dort, obwohl großes Potential in ihr innewohnt. Sie hätte es leicht geschafft, Opernregisseurin zu werden. Aber stattdessen machte sie ihrem Mann Platz. Ein umstrittener Künstler, nicht alle waren mit ihm d‘accord.
Sie kann die Partituren auswendig, ganz im Gegensatz zu den Sängerinnen. Und eines Tages hat sie es satt, dauernd nur für andere da zu sein. Für ihren mittlerweile verstorbenen Mann, in dessen Schatten sie lebte, und ihn bis zu seinem Tod pflegte und betreute. Oder eben jene minderbegabte Sopranistin, welche sie im Stich lässt, als dieser die Worte nicht mehr einfallen. Madame Partitur bleibt stumm, hilft nicht mehr. Sie verschwindet aufs Land in ihre Hütte mit dem großen Garten. Ein Paradies, das ihr Mann akribisch geschaffen hatte.
Die Pandemie hat das Land im Würgegriff, die Opernhäuser werden geschlossen. Die Zukunft ist ungewiss, so auch die Verlängerung ihres Vertrages.
Im Garten bleibt sie nicht lange alleine. Zuerst läuft ihr ein Hund zu, den sie kurzerhand Styx nennt. Und bald taucht ungefragt ein Gärtner auf. Dieser bringt das überwuchernde Idyll wieder in Form. Und auch Madame Partitur erfährt einen Wechsel. Es wird ein Neuanfang in vielerlei Hinsicht, trotz dem Festhalten an Vergangenem. Die Erinnerungen mögen sich nicht immer als wahr darstellen, vermischen sich mit ihren Gefühlen und bieten uns LeserInnen einen wunderbaren Mix aus Realem und Phantastischem.
Loslassen, die Kraft zu verändern, der Mut auf ein neues Leben. Dazwischen die Liebe zur Oper, zum Garten. All das verwebt Jürgen Bauer mit viel Insiderwissen zu einem herrlichen literarischen Potpourri, raffiniert inszeniert, mit einer wohl gewürzten Prise an Humor und Streitbarkeit der Protagonistin.
Natürlich ist auch der gewählte Name „Styx“ des zugelaufenen Hundes Programm. So auch wie der Garten selbst, als Sterben und Neubeginn im Wechsel.
Die Geschichte entwickelt einen Sog, dem man sich nicht mehr entziehen kann.
Ganz große Leseempfehlung!

Bewertung vom 29.11.2024
Das Haus der Bücher und Schatten
Meyer, Kai

Das Haus der Bücher und Schatten


ausgezeichnet

Ein spannungsgeladener Thriller aus dem Graphischen Viertel in Leipzig!

Dies ist nun der dritte Band in welchem uns der Autor in das ehemalige Graphische Viertel von Leipzig entführt. Diesmal ins Jahr 1933; - der Aufmarsch der Nazis ist in vollem Gange. Für Juden, Kommunisten und Andersdenkende beginnt eine furchtbare Zeit. Auch die Polizei ist bereits infiltriert, Ermittlungen und eine gerechte Strafverfolgung werden ziemlich erschwert. Außerdem muss sehr aufgepasst werden, was und wie gesprochen wird. Die Partei hat ihre Ohren überall.
Als Nebenschauplatz und letztendlich Motiv für die begangenen Morde, die Kommissar Cornelius Frey aufklären soll, dient ein tief im Baltikum entlegenes Landgut von Deutsch-Balten. 1913 reisen Paula und ihr Verlobter Jonathan dorthin. Beide arbeiten im Lektorat eines Verlages, der unbedingt wieder einen Erfolg benötigt. Diesen Erfolg soll der Autor Aschenbrand bringen, der auf jenem Landgut in Livland, welches vollgepfercht mit Büchern ist, lebt. Seine ersten beiden Bücher verkauften sich gut. Paula soll ihn ein wenig zur Eile anspornen und sein neuestes Manuskript mit nach Leipzig bringen. Eine Idylle, doch der Schein trügt. Manche Dinge entwickeln sich dann nicht ganz so … es wird spannend und atmosphärisch.
Frey, der als Nachtwächter in der Bücherstadt arbeitete, wird wieder (nachdem er verjagt wurde) in den Polizeidienst eingegliedert. Er soll den Mord an seinem ehemaligen Kollegen Zirner und einer jungen Frau aufklären. Seine Recherchen führen ihn in eine okkulte Welt. Sind die Medien, die den Kontakt zu Toten herstellen, um die damals allseits in gehobenen Kreisen beliebten Séancen zu bedienen, der Schlüssel? Oder liegt die Wahrheit ganz wo anders?
Dieser historische Thriller ist ein Verwirrspiel aller ersten Güte. Während die LeserInnen mit Genuss und Bedacht an die Wahrheit herangeführt werden, häppchenweise Informationen bekommen aus den Jahren 1913 und 1933 (die erzählerische Gegenwart), müht sich Cornelius Frey mit seinem Umfeld ab. Mächtige Russen stellen ihm ein Bein genauso wie der eigene Staatsapparat. Nicht alle wollen Frey in seiner wiedergewonnenen Rolle als Kommissar sehen.
Der Roman ist äußerst spannend, seine Figuren sehr lebensecht gezeichnet. Kai Meyer lässt das Graphische Viertel mit all den Buchbetrieben, engen Gassen, Rattern und Stampfen der Pressen, dem Dampf und Nebel auferstehen. Wie ein Reiseführer entdecken wir jenes 1943 zerstörte Viertel der Stadt neu. Und zwischen der Handlung verpackt der Autor die gesellschaftspolitischen Themen der damaligen Zeit perfekt. Ganz große Leseempfehlung.

Die Vorgängerromane von Meyer mit den Titeln „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ sowie „Die Bibliothek im Nebel“, die alle im Graphischen Viertel in Leipzig spielen, sind ebenfalls sehr zu empfehlen. Jeder Roman enthält eine eigenständige Handlung, eine Lesereihenfolge ist somit nicht erforderlich.

Bewertung vom 27.11.2024
Die kurze und schreckliche Regentschaft von Phil
Saunders, George

Die kurze und schreckliche Regentschaft von Phil


ausgezeichnet

Eine treffende Parabel auf unsere machthungrige Gesellschaft, wunderbar erzählt.

Phil war ein Monster. Grausam bis in die Haarspitzen nutzte er seine Vormachtstellung in Außerhorner aus, scharte dooftreue Vasallen um sich, um die Bewohner von Innerhorner zu unterdrücken. Denn Innerhornen war geschrumpft, von einem Tag auf den anderen. Das Land wurde so klein, es hatte nur mehr eine Person darin Platz. Die anderen mussten in der Kurzzeitaufenthaltszone von Außenhornen ihr Aushalten finden.
Phil spielte sich auf, stellte sich an die Spitze, und forderte deswegen Steuern. Zuerst das Geld, danach Baum und Fluss, Erde, Lebensgrundlage, letztendlich das Leben. Phil lebte seinen Wahn aus, wurde unterstützt, hatte seine Wasserträger, und konnte auch den einfältigen Präsidenten um den Finger wickeln.
Das Unrecht tropfte aus allen Poren, Phil verstand es die Tropfen aufzufangen und zu trinken.
Die Story ist brutal, zugegeben. Aber nicht minder brutal als das Leben an sich. Die Schlagzeilen überrollen uns tagtäglich mit den Machtgehaben diverser alter weißer Männer rund um den Globus. Es gibt Phils an jeder Ecke.
Phil ist ein Populist, ein Vielredner. Seine Worte, seine Sprache sind seine eigentliche Waffe. Das Verbreiten von Lügen und Fake-News ist Programm – und wer jetzt Parallelen zu unserer realen Welt entdeckt: richtig!
Wir werden weltweit von Populisten reGIERt.
Die handelnden Personen in Saunders Roman sind Mischwesen aus Mensch, Maschine, Pflanze. Es mag zuerst ein wenig verstörend wirken, aber auch das ist natürlich pure Absicht. Denn der Mensch macht sich alles untertan in seinem Hunger nach Macht. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Phil ab und wann sein Gehirn verliert …
Die Erzählung ist äußerst spannend, und auch beklemmend. Die Gemeinheiten spitzen sich zu, die Vergleiche mit unserer globalen Gesellschaft drängen sich auf. Man möchte wissen, wie es weitergeht. Kapitel für Kapitel – ist gespannt darauf, wohin das alles führen wird. Ein interessantes Nachwort des Autors rundet den Roman perfekt ab.
Lest es! Es lohnt sich! Große Leseempfehlung

Bewertung vom 17.11.2024
Der Wolf auf meiner Couch
Kneifl, Edith

Der Wolf auf meiner Couch


sehr gut

Ein Krimi in Wien, Psychoanalytiker mit Herz und dubiose Starärzte

Arthur Lang, Psychoanalytiker, kehrt nach fünfundzwanzig Jahren in Berlin zurück in seine Heimatstadt Wien. Der Grund: die Beerdigung seines verhassten Vaters. Denn dieser hatte ihm damals seine Verlobte ausgespannt und geehelicht. Arthur fand das nicht besonders komisch, und verließ Wien um in Berlin eine Praxis zu führen. Zurück in der Donaumetropole konnte er sich recht schnell einen neuen Patientenstamm aufbauen. Er lebte sein Leben, eher eigenbrötlerisch, denn die Sache mit den Frauen … naja … eben traumatisiert. Nebenbei hatte er immer noch Kontakt zu seinem Studienfreund Oswald, der mittlerweile ein erfolgreicher Arzt geworden war und seine PatientInnen aus den gehobenen Schichten stammten.
Es sind auch diese Berührungspunkte, und eine Patientin, die Oswald an Arthur vermittelte, die so einige Dinge ans Tageslicht brachten. Unter anderem Einbruch, Diebstahl. Und Mord – nicht zu knapp. Mit dabei auch Arthurs Ex.
Sehr genau beschreibt uns Edith Kneifl den Schauplatz, besonders aber das Seelenleben vom Ich-Erzähler Arthur. Da bleibt nichts verdeckt. Obwohl promoviert in der Psychologie könnte er in gewissen Bereichen sich selbst der beste Kunde sein – vor allem was seine Angst und Zurückhaltung von Beziehungen anbelangt, gepaart mit der Sehnsucht nach seiner angebeteten Bardame; oder das gestörte Verhältnis zu seinem Vater. Meines Erachtens war dies im Roman ein wenig too much – hätte durch aus gestrafft werden können um mehr Fokus auf die eigenen Kriminalfälle zu legen. Denn das Buch nennt sich ja Krimi.
Wie auch immer – die charakterlich unterschiedlichen ProtagonistInnen fügen sich im Laufe der 360 Seiten zu einem fest verknoteten Netz der Handlung zusammen. Besonders der pensionierte Kriminalpolizist, äußerst trinkfest und nicht minder schmuddelig, ist wie ein Keil in der Schickemicki-society aus Möchtegernsnobs. Zeigt aber immerhin Herz …
Ein Motiv für das alles benötigt es auch noch: hier setzt die Autorin ihre Finger in das wuchernde Geschwür des Medikamentenmissbrauchs. Mehr wird nicht verraten.
Fazit: ein äußerst klug aufgebauter Krimi, der sein Augenmerk mehr auf die Personen rund um Starärzte und die zwangsläufig anhaftende Gesellschaft richtet, als auf Ermittlungen. Die passieren nebenher, verlieren aber nicht an Spannung. Wie oben schon erwähnt, das erste „Justieren“ von Arthurs Part im Roman hätte meiner Meinung nach gerne etwas kürzer ausfallen dürfen, auch wenn sich alles gut zusammenfügt und man ihn dann besser zu kennen glaubt als sich selbst.
Und so ganz nebenbei bekommt man auch einen kleinen Auffrischungskurs in die Geographie von Wien.
Gerne gelesen und eine Leseempfehlung für alle, die Krimis etwas anders haben möchten als eine pure Räuberpistole.

Bewertung vom 14.11.2024
Was wissen sie vom Freisein
Ardone, Viola

Was wissen sie vom Freisein


ausgezeichnet

Der Kampf um mehr Frauenrechte in Italien! Literarisch genial umgesetzt!

Würde man das Buch ohne das Wissen lesen, wo die Geschichte spielt, könnte man irrtümlich auf den Gedanken kommen, wir befänden uns im tiefsten Islam. In einem Land, in welchem junge Mädchen, die gerade die biologische Schwelle zur Frau überschritten haben, von ihren Eltern weggesperrt und verschachert werden wie ein Stück Vieh. Diese nur in Begleitung Erwachsener oder des Bruders das Haus verlassen dürfen. Den jungen Frauen wird ein paar Tage vor der Hochzeit ihr „Auserwählter“ präsentiert. Aber die Handlung spielt nicht in einem vom radikalen Islam geführten Staat, sondern im hochkatholischen Sizilien im Jahre 1960. Wenn ein junger Mann meint, er will unbedingt ein Mädchen ehelichen, es ihm aber nicht versprochen wird, dann vergewaltigt er es einfach. Verspricht danach die Ehe und er geht straffrei. Das Gesetz war in Italien bis 1981 auf Seite der Triebtäter und Verbrecher. Einzige Ausflucht: der Ehrenmord. Das Leben der Frau war trotzdem zerstört.
S.11: „Die Frau ist eine Vase: Wer sie zerbricht, der nimmt sie, sagt meine Mutter immer. Ich wäre lieber ein Junge geworden …“
Dieser sehr ergreifende Roman handelt von Olivia, die in Sizilien auf dem Land aufwächst und den oben beschrieben strengen Regeln unterworfen ist. Ihre Mutter ist streng, keift den ganzen Tag nur herum, versucht das eng geschnürte Korsett an Verhaltensmustern aufrecht zu erhalten, obwohl sie selber in ihrer Jugend ein Freigeist war. Nur selten zeigt sie ihre Zuneigung. Ihr Vater ist da anders, diplomatischer, hält zu seiner Tochter, fragt sie, was sie möchte, setzt sich für sie ein.
Doch das ganze tratschende Umfeld macht Familienentscheidungen nicht einfach, schnell wird man zum Außenseiter. Abtrünnig, nur weil man ein klein wenig anders ist, anders denkt. UND: sich vor allem für die Rechte anderer Frauen einsetzt: ABER: Was wissen sie schon vom Freisein? – besser könnte der Titel des Romans nicht lauten.
Lieber nichts ändern, es war ja schon immer so. Wir haben es auch überlebt. Und Liebe? Zuwas?
Das Patriarchat wird als gegeben angenommen.

S.60: „Worte waren Waffen. Und nicht nur Fremdwörter, sondern auch die ganz gewöhnlichen Wörter aus dem Mund der Einfältigen“

S.85: „Ich sitze in einer Ecke und knabbere nervös an den Fingernägeln, während sie über mich reden wie über ein Stück Vieh, das zur Paarung geführt wird.“

Olivia droht im Sumpf der Patriarchen zu versinken wie ihre Schwester, die vom Ehemann geprügelt und weggesperrt wird. Aber mit Hilfe ihrer einzigen Freundin Liliana, Tochter des Kommunisten Calò, schafft sie es, ihr Haupt erhoben zu tragen.
Viola Ardone hat mit diesem Roman ein einfühlsames wie wütend machendes Buch verfasst, das den Finger tief in die große Wunde namens Patriarchat legt und dort drinnen herumwühlt. Es ist quasi eine Geschichte über die Entwicklung der Rechte der Frauen. Über den Kampf ein paar weniger, mutigen Frauen, sich vom Zwang der Gesellschaft zu befreien für das Wohl aller. Die Sprache ist direkt, schnörkellos. Man kann sich sehr gut in die Lage der Ich-Erzählerin Olivia hineinversetzen, leidet und kämpft mit ihr.
Mich hat das Buch nachhaltig beeindruckt und ist ein weiteres Mahnmal im Kampf gegen das Patriarchat und frauenfeindliche Strukturen. Für mich ein Jahreshighlight und gerne gebe ich eine absolute Leseempfehlung.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.