Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Anna625

Bewertungen

Insgesamt 92 Bewertungen
Bewertung vom 01.03.2025
Flusslinien
Hagena, Katharina

Flusslinien


gut

Die 102-jährige Margrit lebt in einer Seniorenresidenz nahe der Elbe. Im Römischen Garten, in den sie sich jeden Tag von ihrem Fahrer Arthur bringen lässt, erinnert sie sich mit Blick auf den Fluss zurück an ihre Jugend und Kindheit, die Kriegsjahre und die Beziehung ihrer Mutter Johanne zu einer anderen Frau. Manchmal denkt sie auch nach über Arthur, der mehr oder weniger heimlich mit einer Metallsonde das Flussufer abläuft, während er auf Margrit wartet, oder über ihre Enkelin Luzie, die gerade die Schule kurz vor dem Abitur abgebrochen hat und Tätowiererin werden möchte. Beide scheinen, genau wie Margrit, ihre eigenen Geheimnisse zu haben und ihre eigenen Traumata zu verarbeiten.

Die Perspektive wechselt regelmäßig zwischen Margrit, Arthur und Luzie, besonders in Margrits Kapiteln kommen sehr viele Rückblenden in die Vergangenheit hinzu. Das war mir beim Lesen etwas zu viel Unbeständigkeit, lieber hätte ich entweder nur Margrits Perspektive inklusive Rückblenden oder die Perspektive aller drei Figuren in der Gegenwart, aber ohne Rückblenden gelesen. Zwar sind alle Stränge gut geschrieben und für sich genommen interessant, insgesamt waren mir das aber einfach zu viele Baustellen gleichzeitig - ich wäre lieber noch tiefer in die Innenwelt der einzelnen Figuren eingetaucht. Wobei das aber sicherlich auch Geschmackssache ist.
Sehr gut gefallen hat mir dafür die Kulisse - ich konnte mir Margrit sehr gut vorstellen, wie sie an einem etwas nebligen Morgen auf den bemoosten Steinstufen am Flussufer sitzt und die Spaziergänger beobachtet.

Schlecht fand ich den Roman nicht, wirklich überzeugen konnte er mich aber auch nicht. Ich bin mir sicher, dass er seine begeisterten Leser*innen finden wird, ich gehöre nur einfach nicht dazu - und das darf ja auch so sein. (Das Cover liebe ich trotzdem sehr.)

Bewertung vom 14.02.2025
Für immer
Lunde, Maja

Für immer


gut

Es scheint ein ganz gewöhnlicher Frühsommertag wie jeder andere zu sein, und doch hat sich rückblickend etwas Entscheidendes ereignet an jenem 6. Juni: Die Zeit ist stehengeblieben. Oder besser: Die Zeit schreitet weiter voran, jedoch nicht für die Menschen. Während Pflanzen und Tiere nach wie vor geboren werden, wachsen und sterben, scheint der Mensch kein Teil der Natur mehr zu sein: Embryos, Neugeborene und überhaupt alle Menschen verbleiben in exakt jenem Entwicklungszustand, in dem sie sich in der Sekunde dieses mysteriösen Ereignisses befanden. Niemand wird mehr geboren und niemand stirbt. Schwangere bleiben schwanger, Krebspatient*innen und eigentlich tödlich Verwundete sterben doch nicht, Rentner*innen blühen angesichts der geschenkten Lebenszeit neu auf, während Entbindungsstationen und Bestattungsinstitute ihre Türen schließen und Beatmungsgeräte ebenso überflüssig werden wie die Nahrungsaufnahme.

Tag um Tag, Woche um Woche folgen so aufeinander, ohne, dass auch nur ein einziger Mensch um eine Millisekunde altert. Während die einen einfach das beste aus dieser unerwartet gewonnenen Lebenszeit machen, beginnen andere sich zu fragen: Ist das eine Verschwörung? Verheimlicht die Regierung etwas? Kann diesem Zustand ein Ende gesetzt werden - individuell, indem man das eigene Leben beendet, oder kollektiv, indem in den Relikten alter indigener Kulturen nach Antworten gesucht wird?

Lundes Gedankenexperiment liest sich in den ersten beiden Dritteln des Romans unglaublich spannend. Durch die verschiedenen Figuren ergeben sich viele verschiedene Blickwinkel auf die Situation, Vor- und Nachteile des plötzlichen Nicht-mehr-Alterns werden gegenübergestellt. Gefühlt hätte der Roman gerne noch 100 oder auch 200 Seiten länger sein können, um die einzelnen Protagonist*innen länger begleiten zu können und vor allem auch, um das Ende etwas runder zu machen. Denn wie beim Lesen befürchtet endet der Roman recht abrupt, die gelieferte Lösung ist eigentlich kaum als solche zu bezeichnen und wird den zuvor aufgeworfenen Fragen in ihrer Komplexität mMn nicht gerecht. Mit dem, was über 300 Seiten mühevoll aufgebaut wurde, geschieht am Ende - nichts. All die offenen Fragen und potentiell tiefgründigen Gedanken verpuffen einfach so, und mit ihnen leider auch ein Großteil des Effekts, den der Roman hätte haben können. Das war dann doch sehr schade und schränkt die (eigentlich große) Lesefreude im letzten Moment ziemlich ein.

Bewertung vom 14.02.2025
Für Polina
Würger, Takis

Für Polina


ausgezeichnet

Hannes und Polina, Polina und Hannes. Von kleinauf sind sie unzertrenntlich, durchstreifen gemeinsam das Moor, nehmen sich vor morschen Birken in Acht, lungern im Sommer auf der Vortreppe der alten Moorvilla mit Blick auf den Rhabarber herum und lauschen den Klängen des Klaviers, die durch die endlosen Gänge hallen. Auf Außenstehende mag es irritierend wirken, wie sie aufwachsen; sie, die Kinder alleinerziehender Mütter, die in ihren Putzjobs kaum genug verdienen, um über die Runden zu kommen; sie, die eine Kindheit fernab des nächsten Dorfes in den heruntergekommenen Gemäuern und der Obhut des etwas exzentrischen Heinrich Hildebrands führen und barfuß die Gegend durchstreifen. Und doch: Ihnen gehört die Welt. Ihr Leben ist Freiheit.

Doch dann geschieht eines Tages das Unfassbare: ein tragischer Unfall, die Morridylle nimmt ein plötzliches Ende. Hannes muss fort, der einst so innige Kontakt zu Polina fasert aus und bricht irgendwann ab. Die Tage ihrer Kindheit bleiben für Hannes stets wärmende Erinnerung, bis ihm irgendwann bewusst wird: Er braucht Polina. Er muss sie finden. Auch, wenn er dazu seine Schatten überwinden und wieder komponieren muss, wie er es als Kind auf dem alten verstimmten Klavier in der Moorvilla getan hat.

Was für ein Roman! Eine kurze Zusammenfassung wie diese kann dem nicht ansatzweise gerecht werden. Die Einfühlsamkeit, mit der Würger jede einzelne seiner Figuren zeichnet und selbst Nebenfiguren, die nur wenige Male auftreten, einen ganz eigenen, vielschichtigen Charakter verleiht, ist zutiefst beeindruckend und lässt Hannes' Welt lebendig und authentisch werden. Das typische CoA-Feeling vermischt sich mit einem stets etwas melancholischen Unterton und den leisen Klängen der Klaviere, die auch nach dem Auszug aus der Villa in Hannes' Leben präsent bleiben.

So emotional "Für Polina" auch ist, ist der Roman doch kein ausschließlich trauriges Buch in dem Sinne - immer wieder schimmern auch humorvolle Momente durch, bringen die schrulligen Nebenfiguren zum Lächeln. Hannes durch seine Zeit als Kind, Jugendlicher und junger Erwachsener zu begleiten fühlt sich an wie eine Berg-und-Tal-Fahrt: Es gibt Höhen und Tiefen, man freut sich, hofft und leidet mit ihm und durchläuft während des Lesens so ziemlich alle Emotionen, die man sich erdenken kann. Das und Würgers Schreibstil, der stets atmosphärisch, mal poetisch und dann wieder wunderbar leicht ist und und dabei die Leser*innen führt, indem er genau in den richtigen Momenten und im richtigen Maß die Schwere der jeweiligen Situation begreifbar werden lässt, danach jedoch stets auch wieder auffängt, machen "Für Polina" zu einem großartigen Roman. Tiefempfundene Freundschaft, erste Liebe, Musik, Verlust, Trauer und Hoffnung, all das und noch viel mehr ist hier zwischen den Seiten zu finden. "Für Polina" ist einer der Romane, in denen man komplett abtauchen kann und am liebsten nie mehr auftauchen würde, der mitnimmt und auch nach der Lektüre im Gedächtnis bleibt. Ein absolutes Highlight.

Bewertung vom 08.12.2024
Strong Female Character
Brady, Fern

Strong Female Character


sehr gut

Autismus wird gerade bei Frauen immer noch viel zu häufig nicht erkannt. Das liegt nicht nur daran, dass generell wenige Psycholog*innen auf das Thema spezialisiert sind, sondern vor allem auch daran, dass die Diagnosekriterien noch immer stark auf männlichen Autismus zugeschnitten sind. Inselbegabung, Beziehungsunfähigkeit, keinen Blickkontakt halten und keinen Smalltalk führen können, sich für Informatik, Technik und Züge begeistern - zack, fertig ist der stereotypische Autist. Dass es so einfach nicht sein kann, dürfte uns allen spätestens nach einer Sekunde des Nachdenkens klar werden.

Fern Brady erzählt in ihrem Erfahrungsbericht davon, wie es ihr vor und während der recht späten Diagnose ergangen ist. Wie wenig ernst ihre Vermutung genommen wurde ('Du hattest doch schon Beziehungen, wie kannst du da autistisch sein?'), wie befreiend die Diagnose war, und wie steinig der Weg ist, der noch vor ihr liegt. Sie berichtet dabei sehr offen und schonungslos auch von privatesten Erlebnissen, Beziehungskonflikten und psychischen Zusammenbrüchen. Von dysfunktionalen Familienverhältnissen und Gewalterfahrungen und vor allem auch von dem Gefühl, irgendwie anders zu sein, irgendwie nicht klarzukommen in dieser Welt, die so wenig auf Menschen im Autismusspektrum achtgibt. Wie schwierig es ist, als weiblich sozialisierte Person diagnostiziert zu werden und mit welchen Stereotypen und Vorurteilen man anschließend Tag für Tag konfrontiert wird.

Und auch hier wieder: Bradys Buch ist ein persönlicher Einblick, nichts von dem, was sie berichtet, muss automatisch auch auf andere Autist*innen zutreffen. Nichts mit 'Kennst du eine*n, kennst du alle'. In einigen Punkten habe ich mich, die ich selbst Autistin bin, wiederentdeckt, in vielen so überhaupt nicht. Trotzdem tut es unglaublich gut, Bücher wie dieses zu lesen. Zu sehen, da sind andere Menschen, die auch ihre Probleme haben. Die auch schauen müssen, wie sie klarkommen, und zwar jeden einzelnen Tag. Bücher wie dieses hier sind wichtig, nicht nur für Betroffene, sondern auch als Beitrag zur Aufklärung über ein Thema, das nach seiner Ansprache meistens nach 2 Sätzen in peinlichem Schweigen endet.

Es gibt viele Bücher, die sich differenzierter mit dem Thema auseinandersetzen, die einen umfassenderen Überblick bieten und als Einführung sicherlich geeigneter sind als dieses. Aber es ist immer auch wichtig, Betroffene selbst zu Wort kommen zu lassen und sich nicht nur einen Katalog an Merkmalen zusammenzusuchen, so vielfältig der auch sein mag. In diesem Sinne gibt "Strong Female Character" einen schönen, wirklich ehrlichen Einblick und ergänzt meine private "Autismusbibliothek" auf jeden Fall gut. Danke dafür.

Bewertung vom 25.11.2024
Als wir im Schnee Blumen pflückten
Harnesk, Tina

Als wir im Schnee Blumen pflückten


gut

Biera und Mariddja leben allein in einer Hütte hoch oben im Norden Schwedens. Beide sind sie alt, und Mariddja hat gerade erst erfahren, dass sie nicht mehr lange zu leben hat. Vor Biera will sie das jedoch geheimhalten, da er längst dement ist und sie ihm nicht auch noch ihre eigene Krankheit zumuten kann. Hilfe wollen die beiden auf keinen Fall - sie werden bleiben, wo sie immer waren. Und sie kommen ja auch gut zurecht, findet Mariddja. Trotzdem freut sie sich sehr, als sie eines Tages in der Telofonistin in Bieras Smartphone eine etwas freche, aber sehr nette Gesprächspartnerin entdeckt. Mariddja beginnt, fast täglich mit Siré (in der der*die Leser*in unschwer "Siri" erkennen wird) zu telefonieren, und es kommt zu einigen sehr skurrilen Situationen. Für Mariddja wird Siré schnell zur Komplizin, denn bevor sie stirbt, hat Mariddja noch einen letzten, großen Wunsch: Sie will ihren Neffen wiederfinden, der als kleiner Junge lange bei ihr und Biera aufgewachsen ist und dann abrupt aus ihrem Leben verschwand. Parallel gibt es einen zweiten Erzählstrang, in dem ein junges Paar ins Dorf zieht, das fortan in der Gesundheitszentrale arbeiten wird, und das bald auch auf die schwierige Lage von Mariddja und Biera aufmerksam wird.

Die Lektüre lässt etwas zwiegespalten zurück. Mariddjas und Bieras Geschichte ist herzerwärmend erzählt und macht auf sehr feinfühlige Art und Weise aufmerksam auf die Situation vieler älterer Meschen, die zunehmend vereinsamen und sich weigern, Hilfe anzunehmen, weil sie "doch bis jetzt auch immer klargekommen" sind. Dabei ist die Grundstimmung zwar durchaus eine nachdenkliche und auch ein wenig traurig, immer wieder aber auch von humorvollen Szenen durchsetzt. Die Balance dazwischen gelingt dem Roman wunderbar.
Schade ist hingegen, dass die Verflechtung beider Handlungsstränge recht lang auf sich warten lässt, obwohl sie für halbwegs aufmerksame Leser*innen schnell zu erahnen ist. Zwar ist die erste Buchhälfte unterhaltsam zu lesen, tritt von der Handlung her jedoch eher auf der Stelle; ein wenig Durchhaltevermögen ist also schon gefragt.
Alles in allem mit ein paar Abzügen ein ganz schöner Roman.

Bewertung vom 19.09.2024
In den Wald
Vaglio Tanet, Maddalena

In den Wald


gut

Der Wald ist ein Ort der Zuflucht. Er ist wild und unbezwingbar, gefährlich und wunderschön. Er ist ursprünglich und erinnert uns an das, was wir mal waren und was wir sind. In ihm können wir, fernab der Zivilisation, Ruhe und vielleicht auch uns selbst finden. Nicht verwunderlich also, dass der Wald für so viele ein Sehnsuchtsort ist und dass die Flucht in ihn auch in der Literatur wiederkehrendes Motiv ist.
Auch Silvia, Protagonistin in Maddalena Vaglio Tanets Debütroman, geht eines Morgens statt zur Arbeit einfach in den Wald. Kurz zuvor hat sie aus der Zeitung erfahren, dass eine ihrer Schülerinnen sich umgebracht hat - sie ist aus dem Fenster ihrer Wohnung in den Wildbach gestürzt. Und Silvia fragt sich, ob sie nicht mehr hätte tun können, mehr hätte tun müssen für dieses junge Mädchen, das zuhause wenig Liebe, dafür umso mehr körperliche Züchtigungen erfahren hat. Die Scham über ihr Zu-wenig-Handeln treibt sie in den Wald, in den Schutz einer alten Hütte, in der sie Tage und Wochen verbringt, nicht mehr sie, eigentlich überhaupt nicht mehr sein will und sich höchstens noch wünscht, eins zu werden mit dem Wald um sie herum. Im Dorf unterdessen bleibt ihr Verschwinden natürlich nicht unbemerkt, und Silvias Verwandte und Bekannte machen sich auf die Suche nach ihr. Doch wie jemanden finden, der gar nicht gefunden werden will?

Ich hatte meine Schwierigkeiten mit dem Roman, die Lektüre hatte Höhen und Tiefen. Gerade zu Beginn erfordert es eine gewisse Konzentration, den Überblick über die vielen Nebenfiguren nicht zu verlieren und die vielen Nebenschauplätze in einen logischen Zusammenhang miteinander zu bringen. Eine geradlinige Handlung darf man hier nicht erwarten, es gibt Zeitsprünge und jede Menge Perspektivwechsel, auf die man sich einlassen können muss. Der Fokus des Romans liegt einerseits sehr stark auf den Ereignissen vor dem Unglück, andererseits auf der Suchaktion der Angehörigen.

Da bin ich wohl mit etwas falschen Erwartungen herangegangen, denn Klappentext und Leseprobe hatten mich eigentlich einen nature-writing-typischeren Roman erwarten lassen, in dem es vor allem um Silvias Eins-Werden mit dem Wald geht, um die Grenzen zwischen Mensch und Tier, Natur und Kultur, und am Rande um eine spannende Suche und die Frage, wo (und wer) Silvia eigentlich ist. Das liefert der Roman dann aber leider nur in Ansätzen, oft auf eher undurchsichtige Art und Weise beschrieben.
Das soll nun alles keinesfalls heißen, dass der Roman per se schlecht ist - es gibt dennoch einige sehr gute Stellen, und wäre ich mit weniger oder anderen Erwartungen herangegangen, hätte er mir vielleicht auch gut gefallen. Vielleicht bin ich das also selbst Schuld? Etwas Frieden schließen ließ mich das Nachwort, in dem die Autorin anmerkt, dass der Roman auf wahren Begebenheiten beruht. Insgesamt jedoch bleibe ich eher enttäuscht zurück, mir hat hier einfach zu viel gefehlt. "In den Wald" ist ein Roman über Trauer und Verlust, Schuld und existenzielle Krisen - und leider weniger über den Wald.

Bewertung vom 13.09.2024
Aus dem Haus
Böttger, Miriam

Aus dem Haus


weniger gut

Endlich raus aus dem Haus, das sie seit Jahren gefangenhält, das schief in der Landschaft, also, mitten in Kassel, steht, das komplett verbaut ist mit seinen Ecken und Winkeln und seinem unmöglichen Grundriss und überhaupt nur Unglück bringt. Eigentlich also ein Grund zum Feiern, dass man das Haus jetzt endlich loswird und sich etwas neues suchen kann. Und doch... Es war jahrelang ein Zuhause. Es war eben 𝑑𝑎𝑠 𝐻𝑎𝑢𝑠.

Die eigentliche Handlung des Romans beschränkt sich auf Schilderungen des bevorstehenden Umzugs. Anrufe der Ich-Erzählerin an ihre Eltern, um den täglichen Lagebereicht einzuholen. Ausgehend davon werden jedoch zahlreiche Erinnerungen an vergangene Ereignisse beschrieben, Porträts von Familienmitgliedern gezeichnet, Soziogramme unserer Gesellschaft erstellt. Das geschieht gerade zu Beginn mit einem wunderbar trockenen Humor. Mit der Zeit habe ich mich jedoch gefragt, worauf genau die Autorin eigentlich hinauswill, wie sie die ganzen losen Enden zusammenführen, etwas Ganzes daraus machen will. Die Antwort: Will sie nicht. Jedenfalls hatte ich nicht den Eindruck. Die Handlung mäandert umher, und das hätte mich nicht weiter gestört, wenn sie nur irgendwann irgendwo angekommen wäre. Tut sie aber nicht. Das Buch ist gut geschrieben, durchaus anspruchsvoll und fordernd mit seinen teilweise sehr langen Sätzen, nur fehlte mir dabei die Struktur. Vieles bleibt nur vage angedeutet, etwa die Depressionen der Mutter. Da hätte ich mir mehr Hintergrund gewünscht, irgendetwas, das sie und die anderen Figuren greifbarer macht, die so seltsam blass bleiben. Ich hatte mehr erwartet.

Bewertung vom 18.08.2024
Mein drittes Leben
Krien, Daniela

Mein drittes Leben


gut

Linda kann nicht mehr nach dem plötzlichen Tod ihrer 17-jährigen Tochter Sonja. Der Alltag ist trist und grau, nichts scheint mehr Sinn zu ergeben, und auch die Belastbarkeit ihrer Beziehung mit Richard kommt an ihre Grenzen. Irgendwie gelingt es allen, weiterzumachen, nur eben Linda nicht - ihre Welt ist stehengeblieben, ein Ausweg aus der Trauer nicht in Sicht. Als sie die Möglichkeit bekommt, aufs Land zu ziehen, nimmt sie diese Chance wahr; nicht, weil sie glaubt, die Idylle des Dorflebens könne an ihrem Zustand etwas ändern, denn das große, heruntergekommene Haus mit verwildertem Garten verspricht eher Arbeit als Entspannung und liegt auch noch direkt an einer Schnellstraße. Hier ist nichts mit Hühnern und Viehweiden und malerischen Sonnenuntergängen, nichts mit Dorfgemeinschaft. Hier kommen die Leute nur abends zum Schlafen hin und brechen frühmorgens wieder auf in Richtung Stadt. Aber: Hier erinnert sie nichts und niemand an Sonja. Und das ist erstmal alles, was zählt.

Ich sage es, wie es ist: Kriens neuster Roman wird mit Sicherheit seine begeisterten Leser*innen finden - ich gehöre nicht dazu. Und das liegt nichteinmal daran, dass das Buch thematisch wirklich keine leichte Kost und Lindas Trauer über den Verlust ihrer Tochter allgegenwärtig ist; auch nicht an einer mangelnden Tiefe oder der Figurenbeschreibung. Denn all das hat der Roman, und ohne jeden Zweifel ist er einfühlsam geschrieben, zeichnet das authentische Bild einer trauernden Mutter. Dennoch konnte "Mein drittes Leben" mich nicht so abholen, wie ich gerne abgeholt worden wäre; weder in der ersten Hälfte, die sich für mein Empfinden sehr gezogen hat, noch gegen Ende, als dann doch noch eine etwas positivere Stimmung aufkommt. Berühren konnte mich das alles nicht so sehr, ich war eher froh, als sich die Geschichte dem Ende zugeneigt hat. An Kriens vorherige Romane kommt dieser hier mMn nicht heran. Ich schätze Kriens Stil jedoch und warte daher gespannt auf ihr nächstes Buch, das mich hoffentlich wieder etwas mehr überzeugen kann.

Bewertung vom 15.07.2024
Mitternachtsschwimmer
Maguire, Roisin

Mitternachtsschwimmer


ausgezeichnet

Eskapistische Romane sind gerade in Mode. Oder vielleicht häufen sie sich auch aktuell einfach nur in meinem persönlichen Leseverhalten? Roisin Maguires Roman jedenfalls reiht sich wunderbar unter seinesgleichen ein, oder, vielleicht treffender: sticht deutlich daraus hervor. Nicht einmal wegen der Story an sich, denn die ist eigentlich recht klassisch: Ein schwerer Schicksalsschlag führt nicht nur Evans Beziehung bis an ihre Grenzen, sondern auch ihn ins kleine Küstendörfchen Ballybrady. Hier mietet er sich in ein windschiefes Airbnb ein und lungert auf dem Sofa herum. Bis er seiner Vermieterin Grace begegnet, die wahrhaftig eine Erscheinung für sich ist - unförmiger, riesiger Poncho, ruppig und fluchend, nachts nackt im Meer schwimmend, und das bei den Temperaturen!

Und da wären wir auch schon am Kern der Faszination angelangt, die "Mitternachtsschwimmer" ausübt: die Figuren. Evan, sein kleiner Sohn Luca, der später hinzukommt, allen voran Grace und auch so manche Nebenfigur ziehen einen beim Lesen schnell in den Bann. Da fällt es kaum auf, dass man am Anfang der Geschichte nicht recht weiß, wohin sich das entwickeln soll - ehe man sich's versieht ist man mittendrin und will am liebsten auch gar nicht mehr raus.
Die Nähe zur Natur, die rauen Küstenlinien, das Meeresrauschen, der Geruch nach Fisch und Salz und die Gezeitentümpel voller wimmelden Lebens, aber auch die Eigentümlichkeit der Dorfbewohner*innen, insbesondere die Exzentrik Graces, lassen einen ganz tief eintauchen in diesen Roman. Kein Wunder, dass Evan, der eigentlich nur ein paar Tage dem Alltag entfliehen wollte, Woche um Woche in Ballybrady verbringt und gar nicht merkt, wie die Zeit verfliegt!

Wirkt der Roman auch am Anfang unnahbar und abweisend - passenderweise exakt wie seine Protagonistin -, offenbart sich sehr schnell eine ganz andere Seite. Die Figuren tasten sich vorsichtig aneinander an, und als Leser*in fühlt man sich bald schon als Teil dieser zarten Freundschaft, die sich da entspinnt.
Einfühlsam und wild, zart und ruppig ist Maguires Roman. Und dabei jetzt schon ein Jahreshighlight für mich. Ganz große Empfehlung!

Bewertung vom 03.07.2024
Die Sache mit Rachel
O'Donoghue, Caroline

Die Sache mit Rachel


sehr gut

Mit Anfang 30 blickt Rachel zurück auf ihre frühen 20er. Damals hat sie neben dem Literatur-Studium unterbezahlt in einem Buchladen gejobbt, in dem sie auch James kennenlernt. Die beiden werden schnell beste Freunde und gehen gemeinsam durch dick und dünn; dass es in der gemeinsamen Wohnung etwas chaotisch zugeht und vor allem meistens ziemlich kalt ist, spielt keine Rolle - sie sind jung, die ganze Welt steht ihnen offen. Als Rachel und James gemeinsam eine Lesung mit Rachels Literaturprofessor Dr. Fred Byrne organisieren, in den sie schon seit einer ganzen Weile mehr oder weniger heimlich verliebt ist, kommt alles ganz anders als geplant. Denn es ist nicht Rachel, die Dr. Byrne näherkommt - sondern James.

"Die Sache mit Rachel" ist eine klassische Coming-of-Age-Geschichte, die sich besonders in der ersten Hälfte regelrecht verschlingen lässt. Einmal kurz das Buch aufgeschlagen, und plötzlich sind 2 Stunden vergangen. Gegen Ende verliert das Ganze dann leider etwas an Fahrt und droht mehrmals, ins Belanglose abzudriften - sehr schade, denn das Tempo des Anfangs war klasse. Trotzdem kann man problemlos eintauchen in Rachels und James' Geschichte und möchte den Roman am liebsten am Stück verschlingen. Es geht um die klassischen Fragen und Themen des Erwachsenwerdens, um die Ausbildung der eigenen Identität, um Liebe, Geldnot, Angst vor der Zukunft, Hinter-Sich-Lassen der Kindheit und um Freundschaft. Trotz der ein oder anderen Länge hätte ich den Roman noch eine ganze Weile weiterlesen können, denn er ist wunderbar einfühlsam geschrieben und porträtiert sehr authentisch das Leben zweier junger Menschen, die zwar nicht immer sympathisch in ihren Entscheidungen sein mögen, mit denen man aber trotzdem sehr gut mitfühlen kann.
Ein schöner Roman mit ein paar kleineren Schwächen, der sich super zum Abtauchen eignet!