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Anna625

Bewertungen

Insgesamt 87 Bewertungen
Bewertung vom 19.09.2024
In den Wald
Vaglio Tanet, Maddalena

In den Wald


gut

Der Wald ist ein Ort der Zuflucht. Er ist wild und unbezwingbar, gefährlich und wunderschön. Er ist ursprünglich und erinnert uns an das, was wir mal waren und was wir sind. In ihm können wir, fernab der Zivilisation, Ruhe und vielleicht auch uns selbst finden. Nicht verwunderlich also, dass der Wald für so viele ein Sehnsuchtsort ist und dass die Flucht in ihn auch in der Literatur wiederkehrendes Motiv ist.
Auch Silvia, Protagonistin in Maddalena Vaglio Tanets Debütroman, geht eines Morgens statt zur Arbeit einfach in den Wald. Kurz zuvor hat sie aus der Zeitung erfahren, dass eine ihrer Schülerinnen sich umgebracht hat - sie ist aus dem Fenster ihrer Wohnung in den Wildbach gestürzt. Und Silvia fragt sich, ob sie nicht mehr hätte tun können, mehr hätte tun müssen für dieses junge Mädchen, das zuhause wenig Liebe, dafür umso mehr körperliche Züchtigungen erfahren hat. Die Scham über ihr Zu-wenig-Handeln treibt sie in den Wald, in den Schutz einer alten Hütte, in der sie Tage und Wochen verbringt, nicht mehr sie, eigentlich überhaupt nicht mehr sein will und sich höchstens noch wünscht, eins zu werden mit dem Wald um sie herum. Im Dorf unterdessen bleibt ihr Verschwinden natürlich nicht unbemerkt, und Silvias Verwandte und Bekannte machen sich auf die Suche nach ihr. Doch wie jemanden finden, der gar nicht gefunden werden will?

Ich hatte meine Schwierigkeiten mit dem Roman, die Lektüre hatte Höhen und Tiefen. Gerade zu Beginn erfordert es eine gewisse Konzentration, den Überblick über die vielen Nebenfiguren nicht zu verlieren und die vielen Nebenschauplätze in einen logischen Zusammenhang miteinander zu bringen. Eine geradlinige Handlung darf man hier nicht erwarten, es gibt Zeitsprünge und jede Menge Perspektivwechsel, auf die man sich einlassen können muss. Der Fokus des Romans liegt einerseits sehr stark auf den Ereignissen vor dem Unglück, andererseits auf der Suchaktion der Angehörigen.

Da bin ich wohl mit etwas falschen Erwartungen herangegangen, denn Klappentext und Leseprobe hatten mich eigentlich einen nature-writing-typischeren Roman erwarten lassen, in dem es vor allem um Silvias Eins-Werden mit dem Wald geht, um die Grenzen zwischen Mensch und Tier, Natur und Kultur, und am Rande um eine spannende Suche und die Frage, wo (und wer) Silvia eigentlich ist. Das liefert der Roman dann aber leider nur in Ansätzen, oft auf eher undurchsichtige Art und Weise beschrieben.
Das soll nun alles keinesfalls heißen, dass der Roman per se schlecht ist - es gibt dennoch einige sehr gute Stellen, und wäre ich mit weniger oder anderen Erwartungen herangegangen, hätte er mir vielleicht auch gut gefallen. Vielleicht bin ich das also selbst Schuld? Etwas Frieden schließen ließ mich das Nachwort, in dem die Autorin anmerkt, dass der Roman auf wahren Begebenheiten beruht. Insgesamt jedoch bleibe ich eher enttäuscht zurück, mir hat hier einfach zu viel gefehlt. "In den Wald" ist ein Roman über Trauer und Verlust, Schuld und existenzielle Krisen - und leider weniger über den Wald.

Bewertung vom 13.09.2024
Aus dem Haus
Böttger, Miriam

Aus dem Haus


weniger gut

Endlich raus aus dem Haus, das sie seit Jahren gefangenhält, das schief in der Landschaft, also, mitten in Kassel, steht, das komplett verbaut ist mit seinen Ecken und Winkeln und seinem unmöglichen Grundriss und überhaupt nur Unglück bringt. Eigentlich also ein Grund zum Feiern, dass man das Haus jetzt endlich loswird und sich etwas neues suchen kann. Und doch... Es war jahrelang ein Zuhause. Es war eben 𝑑𝑎𝑠 𝐻𝑎𝑢𝑠.

Die eigentliche Handlung des Romans beschränkt sich auf Schilderungen des bevorstehenden Umzugs. Anrufe der Ich-Erzählerin an ihre Eltern, um den täglichen Lagebereicht einzuholen. Ausgehend davon werden jedoch zahlreiche Erinnerungen an vergangene Ereignisse beschrieben, Porträts von Familienmitgliedern gezeichnet, Soziogramme unserer Gesellschaft erstellt. Das geschieht gerade zu Beginn mit einem wunderbar trockenen Humor. Mit der Zeit habe ich mich jedoch gefragt, worauf genau die Autorin eigentlich hinauswill, wie sie die ganzen losen Enden zusammenführen, etwas Ganzes daraus machen will. Die Antwort: Will sie nicht. Jedenfalls hatte ich nicht den Eindruck. Die Handlung mäandert umher, und das hätte mich nicht weiter gestört, wenn sie nur irgendwann irgendwo angekommen wäre. Tut sie aber nicht. Das Buch ist gut geschrieben, durchaus anspruchsvoll und fordernd mit seinen teilweise sehr langen Sätzen, nur fehlte mir dabei die Struktur. Vieles bleibt nur vage angedeutet, etwa die Depressionen der Mutter. Da hätte ich mir mehr Hintergrund gewünscht, irgendetwas, das sie und die anderen Figuren greifbarer macht, die so seltsam blass bleiben. Ich hatte mehr erwartet.

Bewertung vom 18.08.2024
Mein drittes Leben
Krien, Daniela

Mein drittes Leben


gut

Linda kann nicht mehr nach dem plötzlichen Tod ihrer 17-jährigen Tochter Sonja. Der Alltag ist trist und grau, nichts scheint mehr Sinn zu ergeben, und auch die Belastbarkeit ihrer Beziehung mit Richard kommt an ihre Grenzen. Irgendwie gelingt es allen, weiterzumachen, nur eben Linda nicht - ihre Welt ist stehengeblieben, ein Ausweg aus der Trauer nicht in Sicht. Als sie die Möglichkeit bekommt, aufs Land zu ziehen, nimmt sie diese Chance wahr; nicht, weil sie glaubt, die Idylle des Dorflebens könne an ihrem Zustand etwas ändern, denn das große, heruntergekommene Haus mit verwildertem Garten verspricht eher Arbeit als Entspannung und liegt auch noch direkt an einer Schnellstraße. Hier ist nichts mit Hühnern und Viehweiden und malerischen Sonnenuntergängen, nichts mit Dorfgemeinschaft. Hier kommen die Leute nur abends zum Schlafen hin und brechen frühmorgens wieder auf in Richtung Stadt. Aber: Hier erinnert sie nichts und niemand an Sonja. Und das ist erstmal alles, was zählt.

Ich sage es, wie es ist: Kriens neuster Roman wird mit Sicherheit seine begeisterten Leser*innen finden - ich gehöre nicht dazu. Und das liegt nichteinmal daran, dass das Buch thematisch wirklich keine leichte Kost und Lindas Trauer über den Verlust ihrer Tochter allgegenwärtig ist; auch nicht an einer mangelnden Tiefe oder der Figurenbeschreibung. Denn all das hat der Roman, und ohne jeden Zweifel ist er einfühlsam geschrieben, zeichnet das authentische Bild einer trauernden Mutter. Dennoch konnte "Mein drittes Leben" mich nicht so abholen, wie ich gerne abgeholt worden wäre; weder in der ersten Hälfte, die sich für mein Empfinden sehr gezogen hat, noch gegen Ende, als dann doch noch eine etwas positivere Stimmung aufkommt. Berühren konnte mich das alles nicht so sehr, ich war eher froh, als sich die Geschichte dem Ende zugeneigt hat. An Kriens vorherige Romane kommt dieser hier mMn nicht heran. Ich schätze Kriens Stil jedoch und warte daher gespannt auf ihr nächstes Buch, das mich hoffentlich wieder etwas mehr überzeugen kann.

Bewertung vom 15.07.2024
Mitternachtsschwimmer
Maguire, Roisin

Mitternachtsschwimmer


ausgezeichnet

Eskapistische Romane sind gerade in Mode. Oder vielleicht häufen sie sich auch aktuell einfach nur in meinem persönlichen Leseverhalten? Roisin Maguires Roman jedenfalls reiht sich wunderbar unter seinesgleichen ein, oder, vielleicht treffender: sticht deutlich daraus hervor. Nicht einmal wegen der Story an sich, denn die ist eigentlich recht klassisch: Ein schwerer Schicksalsschlag führt nicht nur Evans Beziehung bis an ihre Grenzen, sondern auch ihn ins kleine Küstendörfchen Ballybrady. Hier mietet er sich in ein windschiefes Airbnb ein und lungert auf dem Sofa herum. Bis er seiner Vermieterin Grace begegnet, die wahrhaftig eine Erscheinung für sich ist - unförmiger, riesiger Poncho, ruppig und fluchend, nachts nackt im Meer schwimmend, und das bei den Temperaturen!

Und da wären wir auch schon am Kern der Faszination angelangt, die "Mitternachtsschwimmer" ausübt: die Figuren. Evan, sein kleiner Sohn Luca, der später hinzukommt, allen voran Grace und auch so manche Nebenfigur ziehen einen beim Lesen schnell in den Bann. Da fällt es kaum auf, dass man am Anfang der Geschichte nicht recht weiß, wohin sich das entwickeln soll - ehe man sich's versieht ist man mittendrin und will am liebsten auch gar nicht mehr raus.
Die Nähe zur Natur, die rauen Küstenlinien, das Meeresrauschen, der Geruch nach Fisch und Salz und die Gezeitentümpel voller wimmelden Lebens, aber auch die Eigentümlichkeit der Dorfbewohner*innen, insbesondere die Exzentrik Graces, lassen einen ganz tief eintauchen in diesen Roman. Kein Wunder, dass Evan, der eigentlich nur ein paar Tage dem Alltag entfliehen wollte, Woche um Woche in Ballybrady verbringt und gar nicht merkt, wie die Zeit verfliegt!

Wirkt der Roman auch am Anfang unnahbar und abweisend - passenderweise exakt wie seine Protagonistin -, offenbart sich sehr schnell eine ganz andere Seite. Die Figuren tasten sich vorsichtig aneinander an, und als Leser*in fühlt man sich bald schon als Teil dieser zarten Freundschaft, die sich da entspinnt.
Einfühlsam und wild, zart und ruppig ist Maguires Roman. Und dabei jetzt schon ein Jahreshighlight für mich. Ganz große Empfehlung!

Bewertung vom 03.07.2024
Die Sache mit Rachel
O'Donoghue, Caroline

Die Sache mit Rachel


sehr gut

Mit Anfang 30 blickt Rachel zurück auf ihre frühen 20er. Damals hat sie neben dem Literatur-Studium unterbezahlt in einem Buchladen gejobbt, in dem sie auch James kennenlernt. Die beiden werden schnell beste Freunde und gehen gemeinsam durch dick und dünn; dass es in der gemeinsamen Wohnung etwas chaotisch zugeht und vor allem meistens ziemlich kalt ist, spielt keine Rolle - sie sind jung, die ganze Welt steht ihnen offen. Als Rachel und James gemeinsam eine Lesung mit Rachels Literaturprofessor Dr. Fred Byrne organisieren, in den sie schon seit einer ganzen Weile mehr oder weniger heimlich verliebt ist, kommt alles ganz anders als geplant. Denn es ist nicht Rachel, die Dr. Byrne näherkommt - sondern James.

"Die Sache mit Rachel" ist eine klassische Coming-of-Age-Geschichte, die sich besonders in der ersten Hälfte regelrecht verschlingen lässt. Einmal kurz das Buch aufgeschlagen, und plötzlich sind 2 Stunden vergangen. Gegen Ende verliert das Ganze dann leider etwas an Fahrt und droht mehrmals, ins Belanglose abzudriften - sehr schade, denn das Tempo des Anfangs war klasse. Trotzdem kann man problemlos eintauchen in Rachels und James' Geschichte und möchte den Roman am liebsten am Stück verschlingen. Es geht um die klassischen Fragen und Themen des Erwachsenwerdens, um die Ausbildung der eigenen Identität, um Liebe, Geldnot, Angst vor der Zukunft, Hinter-Sich-Lassen der Kindheit und um Freundschaft. Trotz der ein oder anderen Länge hätte ich den Roman noch eine ganze Weile weiterlesen können, denn er ist wunderbar einfühlsam geschrieben und porträtiert sehr authentisch das Leben zweier junger Menschen, die zwar nicht immer sympathisch in ihren Entscheidungen sein mögen, mit denen man aber trotzdem sehr gut mitfühlen kann.
Ein schöner Roman mit ein paar kleineren Schwächen, der sich super zum Abtauchen eignet!

Bewertung vom 12.06.2024
Die Stimme der Kraken
Nayler, Ray

Die Stimme der Kraken


sehr gut

Rund um das Archipel Con Dao wurde ein Fangverbot verhängt. Schiffe, die dies ignorieren, laufen Gefahr, abgeschossen zu werden, denn vor kurzem wurde in den Gewässern nahe der Insel eine außergewöhnliche Krake entdeckt - eine Tatsache, die der Großkonzern Dianima lieber geheimhalten möchte und das Fangverbot daher mit dem Plädoyer für mehr Naturschutz begründet. Nur sehr wenige Personen haben Zutritt zur Insel: unter ihnen der beste Android, der je gebaut wurde, eine skrupellose Sicherheitsbeamtin und die Meeresbiologin Dr. Ha Nguyen. Der Fokus des Romans liegt mal auf ihnen und ihrer Forschungsarbeit, mal auf Hacker Rustem und mal bei Eiko, der mit einer handvoll anderer Menschen als Sklave auf einem KI-gesteuerten Fangschiff festgehalten wird.

Klingt düster? Ist es auch. Der Roman ist eine Mischung aus Sci-Fi und Dystopie, im Zentrum steht die Frage danach, was intelligentes Leben ist und was dessen Existenz für den Menschen bedeutet. Die Technik in der Welt, die hier gezeichnet wird, ist unserer weit voraus; beispielsweise gibt es Androiden, die als eine Art "imaginärer Freund" bzw. Partnerersatz fungieren und individuell angefertigt werden, und die in ihrem Verhalten und Denken (Denken??) so echt wirken, dass kaum jemand mal ihre Grenzen offenlegt. Drohnen, die mit einem Menschen verbunden sind und von diesem durch bloße Gedanken oder minimale Muskelanspannungen äußerst präzise ferngesteuert werden können. Schiffe, die eine Art eigenes Bewusstsein haben und selbst entscheiden, wo gefischt werden soll; die sogar aus Eigeninitiative heraus ihre Besatzung - bestehend aus menschlichen Sklaven, versteht sich - einfach so töten können.

Dann wäre da noch jener eine Android, der sich durch nichts von einem Menschen unterscheidet. Der jeden Turing-Test spielend besteht. Dessen Gefühle so echt sind, dass er selbst an sie glaubt. Bei dem man sich unweigerlich zu fragen beginnt: Wo verläuft die Grenze zwischen Mensch und Maschine? Was definiert einen Menschen, wenn auch eine Maschine dazu in der Lage sein kann, wie ein Mensch zu denken, zu empfinden, zu sprechen? Wenn sie Humor hat und tiefe Trauer empfinden kann, wenn sie Freundschaften schließen und verletzt werden kann? Wenn ihre Haut sich warm anfühlt? Was ist dann noch der Unterschied, wo ist die Grenze, was macht uns als Menschen aus?

Und dann haben wir: eine Krakenart, die möglicherweise gerade den nächsten Evolutionsschritt bewältigt hat. Die beginnt, zu kommunizieren. Die eine Sprache entwickelt. Die Erlerntes an ihre Nachfahren weitergibt. Die Kunst schafft, die eine Kultur aufbaut. Die mit einem Mal unser Monopol auf Herrschaft infragestellt.

Obwohl der Roman also dystopische Sci-Fi ist, ist er zugleich auch zutiefst philosophisch. Von der ein oder anderen Länge abgesehen, war ich sehr angetan von dieser Geschichte, die einerseits düster und beängstigend, stellenweise beinahe beklemmend ist, andererseits aber auch faszinierend, spannend und überraschend tiefgründig. Zwar entsteht zu keiner der Haupt- oder Nebenfiguren ein engeres Verhältnis (vielleicht auch einfach, weil der Roman ein sehr breites Themengebiet abdeckt; die Charaktere leiden darunter ein wenig, vermutlich hätte das Buch etwa doppelt so dick sein müssen), trotzdem liest es sich ausgesprochen gut. Die Hintergründe der Welt, in der die Geschichte spielt, bleiben zu großen Teilen im Dunkeln; das hätte gerne noch etwas ausführlicher beschrieben werden können. Wie gesagt hätte das Buch dann aber wohl auch spürbar dicker sein müssen, von daher ist das wohl akzeptabel. Eine spannende Lektüre ist "Die Stimme der Kraken" auch so allemal - gerade angesichts der sich heute immer schneller entwickelnden Technik und auch der Frage danach, wer wir als Menschen sind, sein wollen, sein können, und weshalb genau wir eigentlich davon überzeugt sind, die "Krone der Schöpfung" zu sein.

Bewertung vom 01.06.2024
Das andere Tal
Howard, Scott Alexander

Das andere Tal


ausgezeichnet

Die Welt hat Grenzen, denn jenseits des Tals gibt es nichts - der Zaun ist gut bewacht, die Flucht nahezu unmöglich. Es gibt keine anderen Kontinente oder Länder oder auch nur fremde Städte, die sich besuchen ließen. Und doch stimmt das so nicht ganz, denn an den Rändern des Tals fällt man nicht ins Nichts, endet das Universum nicht einfach plötzlich, im Gegenteil: Es erstreckt sich bis ins Unendliche nach Osten und nach Westen. Würde man, könnte man, entlang dieser Achse reisen, dann käme man immer und immer wieder ins selbe Tal, dieselbe Stadt am See im Wald - nur jedes Mal 20 Jahre mehr in der Zukunft oder der Vergangenheit. Wie Perlen an einer endlos langen Kette reihen sich so die Täler aneinander, und in jedem leben dieselben Menschen (oder deren Urahnen oder Nachkommen).

Doch, wie gesagt: Der Zaun ist gut bewacht, und wer ihn überqueren will, muss einen Antrag stellen und hoffen, dass dieser bewilligt wird. Besuche in anderen Tälern sind in seltenen Fällen erlaubt, etwa, um Verstorbene noch einmal zu sehen. Doch sie sind immer eine Gefahr, und zwar für alle, denn was, wenn man etwa in der Vergangenheit erkannt wird oder absichtlich oder unabsichtlich den Lauf der Dinge ändert, sodass plötzlich Gegenwart und Zukunft ausgelöscht und durch neue Realitäten ersetzt werden?

Odile steht fast am Ende ihrer Schulzeit. Für sie entscheidet sich nun, welchen Lebensweg sie weiter gehen wird, und sie bewirbt sich mehr aus dem Ehrgeiz ihrer Mutter heraus denn aus eigenem Antrieb für eine Ausbildung beim Conseil. Und tatsächlich, Odile hat Glück und darf das strenge Auswahlverfahren antreten. Jede Woche werden Teilnehmer*innen ausgesiebt, während sie alle um eines kämpfen: bis zum Ende ausgebildet zu werden, um in alle Geheimnisse der Täler eingeweiht zu werden und fortan die Entscheidung darüber treffen zu dürfen, wessen Reiseanträge genehmigt werden.

Und Odile hat Talent, es läuft gut für sie. Dann jedoch kommt es zu einem Zwischenfall: Sie begegnet den Eltern ihres Schulfreundes Edme. Nicht etwa jenen der Gegenwart, sondern jenen der Zukunft. Und das kann nur eines bedeuten: Edme wird sterben.
"Das andere Tal" ist eine Mischung aus Jugendbuch und Dystopie, Coming of Age und Zeitreiseroman. Odile muss sich mit den klassischen Teenager-Problemen herumschlagen: Mobbing und Außenseitertum, sich langsam offenbarenden Gefühlen, der Frage nach dem, was die Zukunft bereithält. Das liest sich wunderbar, ist jedoch noch lange nicht alles. Denn nach und nach wird offensichtlich, dass diese so normal, ja beinahe idyllisch anmutende Welt so toll dann doch nicht ist: Grenzpatrouillen, Wachtürme und bewaffnete Gendarmen überall, wenn man nur genau genug hinschaut (was die meisten aber lieber nicht tun). Keine Gnade für jene, die kein Glück mit ihrer Ausbildungswahl hatten oder jene, die sich den Gesetzen entgegenstellen. Und zwischen alledem Odile, die weiß, dass die Grenzen zu Vergangenheit und Zukunft in greifbarer Nähe liegen; Odile, die weiß, dass der Junge, in den sie sich gerade verliebt, sterben wird.
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Howards Roman ist ein Gedankenexperiment, das die Frage danach stellt, was wäre, wenn ebendiese Grenzen zu Vergangenheit und Zukunft überwindbar wären. Dabei ist der Roman sehr nachdenklich und manchmal auch sehr verwirrend, und man muss beim Lesen sehr mitdenken, welche Ereignisse zeitlich wie durch andere bedingt sind und was kausal auseinander folgt oder eben nicht. Ob das tatsächlich an allen Stellen immer ganz logisch war, kann ich nicht mit abschließender Gewissheit sagen, aber eines war es auf jeden Fall: spannend. Und das nicht im Sinne dessen, dass sich auf jeder Seite die Ereignisse überschlagen, denn eigentlich ist der Roman die meiste Zeit über recht ruhig, etwa, wenn wir Odile dabei begleiten, wie sie im Wald sitzt und ihre Aussicht mit dem Messer auf einer Holzplatte verewigt. "Spannend" war für mich eher der nachdenkliche, philosophische, zum Mitdenken anregende Aspekt des Romans, und letztendlich ist es genau diese Mischung, die interessante Welt, das Sich-Selbst-Gedanken-Machen und das Ruhige, in Kombination mit der schönen Sprache, die mir an diesem Roman unglaublich viel Spaß gemacht hat.
Nach einem solchen Debütroman bleiben nur zwei Dinge zu sagen: 1. Leseempfehlung, und 2.: Ich bin sehr gespannt, was da noch so kommt!

Bewertung vom 19.04.2024
Was das Meer verspricht
Blöchl, Alexandra

Was das Meer verspricht


sehr gut

Landflucht gibt es auch auf Inseln, und so ist Vidas Bruder Zander nur einer von vielen, die nach dem Abitur die kleine norddeutsche Insel hinter sich lassen und sich ein Leben in der Stadt aufbauen. Vida stattdessen bleibt mit ihren Eltern zurück, ihre Rolle ist mit dem Fortgang des Bruders geklärt - irgendwer muss immerhin den kleinen Laden übernehmen. Nicht nur, weil es ohnehin schon kaum mehr Bewohner gibt und der Laden einen wichtigen Versorgungspunkt darstellt, sondern auch, weil die Arbeit der Eltern fortgeführt werden soll. Das war von Anfang an klar für Vida, nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, ihre Zukunft zu hinterfragen; wäre da nicht eines Tages Marie aufgetaucht, denn einsame Orte mögen zwar viele Menschen vertreiben, ziehen andere jedoch wie magisch an.

Und Magie und Marie scheinen überhaupt nah zusammenzuhängen, was nicht nur an dem merkwürdigen Meerjungfrauenkostüm liegt, mit dem Marie zum Entsetzen der Inselbewohner (die keine 10 Seepferdchen ins Wasser bekommen würden) selbst im Winter das Meer unsicher macht; sie übt außerdem schon bald eine merkwürdige Faszination auf Vida aus. Vida, die gute, brave, niemals aufbegehrende, niemals hinterfragende Vida, die mit einem Mal erahnt, dass es da vielleicht doch noch mehr gibt als das ihr vorherbestimmte Inselleben an der Seite ihres Verlobten Jannis. So schnell sich ihre Gefühle für Marie vertiefen, so rasant steuert die Beziehung der beiden jungen Frauen jedoch auch schon auf ihr Ende zu.

Von Anfang an ist klar, dass Vida und Marie keine gemeinsame Zukunft haben können, lässt sich doch häufig eine gewisse Bitterkeit und Melancholie aus Vidas rückblickender Erzählung herauslesen. Trotzdem kommt schnell Spannung auf und es fällt leicht, sich mitziehen zu lassen von Blöchls einfühlsamem Schreibstil. Man fühlt sich Vida nah, deren Leben innerhalb der nichtmal 300 Seiten mehr als einmal aus den Fugen gerät. Ihr Verliebtsein, die Leidenschaft, das Glück, der Schmerz - all das ist wunderbar nahbar beschrieben und lässt Vidas Entwicklung gespannt verfolgen. Ein sehr schöner Roman!

Bewertung vom 13.04.2024
Sommerhaus am See
Poissant, David James

Sommerhaus am See


sehr gut

Ach ja, lockerleichte Sommerlektüre! ...Oder? Nein, eher weniger.
Nicht nur, dass Familientreffen selten Entspannung bedeuten und Lisa und Richard bei ihren Söhnen für Unmut sorgen, weil sie vorhaben, das alte Sommerhaus zu verkaufen und sich stattdessen am Meer zur Ruhe zu setzen; direkt am ersten Tag ertrinkt auch noch ein kleiner Junge im See und trübt damit die Aussicht auf ein paar schöne Tage endgültig. Und als würde das alles noch nicht reichen, offenbart sich nach und nach, wie wacklig dieses ganze Gebilde eines heilen Familienlebens ist, das Lisa und Richard, Thad und Michael und deren Partner*innen Jake und Diane hier für ein paar Tage aufrechterhalten wollen. Denn jede*r einzelne von ihnen hat irgendetwas vor irgendwem zu verbergen, aber das wird mit jeder Minute schwieriger, die sie gemeinsam im Sommerhaus und in der näheren Umgebung verbringen - die Luft knistert vor Anspannung, die Nerven aller liegen blank.

Poissant gelingt es meisterhaft, unter der glänzenden Oberfläche wie beiläufig immer wieder dunkle Schatten auftauchen zu lassen. Erst noch als Macken und Eigenheiten getarnt offenbaren sich so nach und nach die Abgründe der einzelnen Figuren, während die Risse in ihrem Heile-Welt-am-See-Konstrukt immer tiefer werden. Alkoholprobleme, Drogen, heimliche und nicht ganz so heimliche Affären, tote Kinder und solche, die noch unterwegs sind - hier kommt so einiges ans Licht, das bisher gut verborgen geglaubt war. Keine der sechs Figuren kommt ohne ihr eigenes, persönliches Drama daher. Ob ihr soziales Gefüge gerade deshalb realistisch ist oder ob das nicht schon fast ein bisschen zu viel des Guten ist, lässt sich schwer sagen; es sorgt auf jeden Fall für einiges Tempo und viel mehr Tiefgang als erwartet. Die mit jedem Kapitel wechselnden Perspektiven, die alle Figuren zu Wort kommen lassen, sind erfrischend, verhindern jedoch zugleich, dass man einer bestimmten der Figuren näher kommt als den anderen. Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung gehen hier eng miteinander einher, der Fokus liegt trotz Innensicht nicht auf einer bestimmten Person, sondern ihrem Umgang und Leben miteinander - und das gelingt wirklich gut.

Bewertung vom 02.04.2024
Geordnete Verhältnisse
Lux, Lana

Geordnete Verhältnisse


sehr gut

Philipps Leben dreht sich vor allem um eines: Ihn selbst. Als Kind hatte er es nicht leicht, die Mutter alkoholkrank, der Vater weg, und dann auch noch diese Sache mit dem Einnässen; seinen Weg musste Philipp immer alleine finden. Menschen mag er nicht besonders, die sind zu laut, zu unordentlich. Er hat Geld, und das hat er sich hart verdient, er kann sowas eben. Andere haben sich ihm anzupassen, immerhin weiß er es wirklich besser als sie und will ihnen nur helfen - das wird auch Faina irgendwann schon noch merken! Faina, die wie Philipp rote Haare hat, Faina, die in ihrer Kindheit mit den Eltern zugezogen ist. Sie ist jüdisch-ukrainischer Herkunft, damals wie heute stets knapp bei Kasse und lange Jahre Philipps beste Freundin gewesen.
Ihre Einsamkeit, ihr Anders-Sein hat die beiden in der Schulzeit zusammengeschweißt, denn Philipp wollte unbedingt einen echten, einen besten, oder überhaupt erstmal einen Freund, und als dann eines Tages Faina auftauchte, war klar: Sie ist es. Und es war ganz schön harte Arbeit für Philipp, aus Faina den Menschen zu machen, der sie heute ist! Allein, ihr die deutsche Sprache beizubringen und wie man sich hier verhält, was man hier einfach nicht macht. Er hat sie cool gemacht, das war ziemlich eindeutig sein Verdienst. Und wie dankt sie ihm das? Indem sie einfach verschwindet, dabei war dieser Streit so schlimm doch jetzt wirklich nicht. Aber sie wird schon wieder angekrochen kommen, ganz sicher. Wie könnte sie auch nicht?

Mit Faina und Philipp prallen zwei Welten aufeinander. Was zunächst noch als Freundschaft durchgehen könnte, spitzt sich im Laufe der Jahre zu einem Konflikt zu, der eskaliert, als Faina irgendwann beginnt ihr eigenes Leben zu leben. Längst ist sie nicht mehr auf Philipps Hilfe angewiesen - oder will es zumindest nicht mehr sein. Denn als sie sich zielsicher in einen Sumpf aus Schulden manövriert hat, wird ihr klar, dass ihr da nur eine Person wieder hinaushelfen kann: Philipp. Als er sie höhnisch grinsend tatsächlich wieder aufnimmt, ist von außen klar ersichtlich, was Faina selbst nicht sieht: Seiner Kontrolle, seinen Manipulationen entkommt sie nicht.

Lana Lux' Roman hat es in sich. Immer schneller wird man hineingezogen in die Spirale aus toxischer Männlichkeit und häuslicher Gewalt, sieht anders als die Protagonistin, dass das alles kaum ein gutes Ende nehmen kann - und liest die letzten Kapitel dennoch atemlos. Während sich Philipps Obsession immer weiter manifestiert, würde man Faina am liebsten schütteln, ihr sagen: Renn weg!, ist als Leser*in aber genauso machtlos wie Faina und so viele andere Frauen mit ihr. Die thematische Schwere, die atmosphörische Dichte, das sprachliche Geschick - "Geordnete Verhältnisse" ist ein Pageturner, der erschreckt und mitnimmt. Große Leseempfehlung!