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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Margarete Noack
Wohnort: 
Berlin
Über mich: 
Gerontosozialtherapeutin / Fachjournalistin

Bewertungen

Insgesamt 13 Bewertungen
12
Bewertung vom 03.08.2015
Die verschwiegene Lust
Daimler, Renate

Die verschwiegene Lust


ausgezeichnet

"Verschwiegene Lust" Gefunden in meiner Schatzkiste
Zum Geburtstag einer 70jährigen fragte ich sie, wie das mit der Liebe im Alter sei. Sie winkte ab: ,,Ach, da hat man mit sich und seinen Krankheiten zu tun!" - Das klang nicht gerade hoffnungsvoll. Und ich dachte, Einsamkeit kann auch krank machen.
Hoffnungsvoll hingegen ist das vor langer Zeit bei Kiepenheuer & Witsch erschienene
Buch ,Verschwiegene Lust" von Renate Daimler.

Die Autorin wollte herausfinden, was Frauen erwartet, wenn sie kalendarisch alt genannt werden und ihr Recht auf Lust auf die geistige Parkbank geschoben wird. Entstanden ist ein Buch. an dem man nicht vorbeischauen sollte. Frauen über Sechzig erzählen von ihrer Liebe und Sexualität.
,,Ich habe viele Antworten gefunden", so die damals 42jährige Journalistin, ,,alles ist möglich: die Fülle, die Dürre, die Resignation und der Mut zur Lust." –
Mut zur Lust
ist Lebenslust, Freude am Dasein, noch nicht abtreten wollen, weil das Leben Spaß macht. weil da noch jemand ist, der die Sinne wachhält. -

Vertreterinnen einer "lustunfähigen Generation" lüften den Schleier. Leben in Fülle quillt hervor, macht sichtbar, was verdrängt wird * die Sehnsucht unserer Mütter, Tanten, Großmütter nach Umarmung.

Stellvertretend für sie steht Judit. 7 I Jahre.
Sie bekennt: ,,Ich unterdrücke meine Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Sexualität. Das fordert eine große Selbstbeherrschung von mir. Das ist ein Punkt des Unglücks in meinem Leben."

Anders ist es bei Marcella, die im Alter von 72 der Leidenschaft begegnete und diese zulassen konnte. ,Mein Körper hat sich auch damals noch als Frau gefühlt, und es gibt immer noch Momente, wo ich als Frau fühle", so die heute 83jährige.
Mit 64 Jahren bringt es Maria auf den Punkt: ,,Wenn ich mit Männern zusammen bin, fühle ich mich nicht alt." -

Ein Gegenüber haben,

Erotik oder Sexualität erleben, sich nicht alt fühlen, ist nicht die Summe von Jahren, sondern Mangel an Nähe. Wie viel Kraft wird verbraucht, um diesen Mangel nicht wahrhaben zu wollen.

Kraft, die dem Leben verlorengeht und von der Jugend eingefordert wird, um
nicht in selbstgemachter Einsamkeit zu versinken. Eine Einsamkeit, die nicht zwangsläufig so sein muss, wenn man die Tür zum anderen offenhält.

,,Verschwiegene Lust"
ist ein Buch vom Durchhalten und Ausbrechen, von Trauer und Hoffnung, von Begegnungen, die sich an kein Lebensalter festmachen lassen.

Dazwischen kurze, meditative Texte von der Autorin. Gedanken, bei denen man ausruhen kann wie auf einem Meilenstein am Rande einer Landstraße. Texte, die den Weg der Erzählerinnen bedenken - eigene
Beobachtungen hinzufügen, Sichtweisen einer damals Zweiundvierzigjährigen.

Es ist ein hoffnungsvolles Buch, weil es offen lässt, wann und wie man der Zuneigung eines anderen Menschen begegnet. Es ist Bereicherung für jene, die in der Altenarbeit tätig sind, und könnte zur Anregung dienen, wenn Seniorenzentren entwickelt werden. Es ist ein guter Weg, um miteinander ins Gespräch zu kommen, um Vorurteile und Barrieren abzubauen, denn alles ist möglich: die Fülle, die Dürre und dass auch wir einmal älter werden.

Margarete Noack

Bewertung vom 08.03.2014
Da geht noch was
Westermann, Christine

Da geht noch was


ausgezeichnet

"Da geht noch was“

Als ein Freund, mir Christine Westermanns Buch „Da geht noch was“ auf den Tisch legte, sagte er: „Lies mal. Du hast doch erzählt, dass sie vor Jahren im Nachtradio das Thema Älterwerden moderierte. Skeptisch klang sie, als sie die Hörer um ihre Meinung dazu aufrief.“

„Stimmt", erinnerte ich mich. „Tiefer können Gedanken gar nicht hängen. Sie muss so um die 50 gewesen sein. Ich kam gerade vom Spätdienst, voller Zukunftsträume, trotz schwerer Arbeit in einem Pflegeheim, die ständige Nähe zum Abschied. Wir sind derselbe Jahrgang.“

Eine selbstbewusste, schöne Frau schaut vom Cover auf mich, so als riefe sie mir zu: „Da geht noch was!“ Ich lächele, ein gutes Poster für ein Seniorenheim. „He Leute, gebt nicht auf: Da geht noch was …!“

Neugierig wiege ich das schmale 191-Seiten-Buch in meinen Händen, gut zu lesen von Schrift und Aufteilung. Man kann ja mal reinschauen, denke ich, lese, lege weg, lese weiter …

Das Buch

Es ist ein ehrliches Buch, ein Buch über das Älterwerden einer Frau, deren Leben sich in der Öffentlichkeit abspielt.

Man kann es überfliegen wie eine Zeitung, deren Inhalt vermutlich nichts neues zu bieten hat, man könnte sich auch hineinvertiefen, anhalten, reflektieren, wie der Blick in einen Spiegel. Dann aber sind 191 Seiten, aufgeteilt in 33 Fragmente, tagebuchähnlich, aufschlussreich, inhaltsschwerer.

Was unterscheidet eine Promifrau vom Älterwerden anderer?

Manches scheint für den Leser, der aus einer anderen Welt kommt, ziemlich fremd, eher langweilig. Doch wer sich Zeit lässt, entdeckt Vertrautes, das nicht zu leugnen geht.

Sie erzählt von Zufällen, von einer jungen Liebe im Alter, wie diese Schwung ins Leben bringt: „Warum sich ein neuer Mensch anfühlt, als sei man wieder lebendig.“ (S. 15)

Sie stellt Fragen, die irgendwann auf jeden zukommen können.

Auch das Erschrecken über den Blickwinkel fremder Menschen

auf ihre Person lässt sie nicht aus, z.B. wenn ein Taxifahrer, dem sie vom Einbruch in ihre Wohnung erzählt, sie eine alte Frau nennt:

„Die haben gedacht, eine alte Frau, die hat bestimmt Gold zu Hause rumliegen.“ (S. 22)

Sie reflektiert es, erlebt Ähnliches nochmals auf einem Basar in Istanbul.

Zitronengelb waren die Turnschuhe, in die sie sich verliebte. Ernüchterung tritt ein als sie sich anhören muss:

„In ihrem Alter tragen Frauen keine Turnschuhe mehr, sie tragen Business-Schuhe.“ (S. 23)

Das Fernsehen bietet ihr an, eine Auszeit mit Kamerateam zu nehmen. Sie hat die Wahl. Sie sagt zu und gerät in ein Wechselbad der Gefühle. Sie erfährt viel über Achtsamkeit und fragt am Ende des Buches:

Wie viel Zeit bleibt mir noch?

Wie lange werde ich noch all das umsetzen können, was ich jetzt durch Achtsamkeit neu begreife? (S. 191)

Ja, es ist ein ehrliches Buch, weder abgehoben noch fern der Realität, eben ein Buch über das Älterwerden einer Frau, die den Mut hat, darüber öffentlich zu sprechen, wie damals, als sie im Rundfunk ihre Skepsis mit den Hörern und Hörerinnen teilte.

© Margarete Noack

9 von 13 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.01.2014
Anziehungskraft
Kretschmer, Guido Maria

Anziehungskraft


ausgezeichnet

Ein Liebesbrief an die Frauen!
Guido Maria Kretschmer „Anziehungskraft, Stil kennt keine Größe“

Bücher werden jederzeit gerne verschenkt. Eines davon ist in der 7. Auflage noch immer ungebrochen an vorderster Stelle der Beliebtheit.
Es ist ein Geschenk an die Frauen, ein Liebesbrief voller Zärtlichkeit und Charme, ein Buch, das nicht nur so dahin geworfen wurde, um den überquellenden Modemarkt um ein weiteres zu vermehren

„Nichts Neues, alles schon gelesen“, meinte ein Kritiker.
Recht hat er, fast jede Zeitschrift enthält monatlich, nach Trend die aktuellsten Modetipps für Frauen, inzwischen auch für die ungeformten, dicken, kleinen, zu groß geratenen. Plötzlich tragen alle Rot oder Lila oder genau das was ihnen nicht steht, weil es keine Auswahl mehr gibt, nur das was angesagt ist, rücksichtslos.
Anders bei Guido Maria Kretschmer; Sein Buch bedient weder Trend, noch genormte Größe. Er zwingt nicht auf, was viele Frauen gar nicht tragen können, aus Gründen die jeder kennt und dennoch ignoriert, um dazu zu gehören.
Guido M Kretschmer setzt dem etwas entgegen. Er holt das Silber aus der verstaubten Kommode und führt die Frauen aller Schichten und Größe an die wirkliche Anziehungskraft der Kleidung, die unbestritten die Persönlichkeit der Einzelnen unterstreicht und selbst dem Alter Ausstrahlung verleiht.
Stil kennt keine Größen, so lautet der Untertitel.
Jeder kann es probieren und mit Geduld wird Frau erleben wie andere Menschen ihre Haltung verändern, wenn sie ihnen begegnet, unabhängig vom Alter und den kleinen Webfehlern der Natur, die uns einmalig machen.

Ein Liebesbrief für die Frauen?
Selbst hier heißt es nachzudenken was einen Liebesbrief ausmacht.
Liebende machen den anderen nicht mit derben Worten klein. Zärtlich suchen sie Bilder, die das Herz öffnen und den Kopf anheben. Liebesbriefe sind voll Wärme und Fantasie, voller Geschichten und Anekdoten, die das Miteinander unterstreichen. Guido Maria Kretschmer zeigt es uns.
Bereits am Inhaltsverzeichnis kann man es erkennen. Aus dem Bereich der Poesie und Literatur, verleiht der Autor den einzelnen Frauentypen liebevolle Namen, die jedoch die vorhandene Realität nicht verschleiern. So machen der Kugelfisch oder die kleine Runde, die kleine Elfe oder das Erdmännchen neugierig was sich dahinter verbergen könnte.
Gemeinsam schaut er mit der Leserin in den Kleiderschrank, gibt Einblick in Warenkunde und der Kaufrausch bleibt auch nicht ausgeschlossen.
Jede kann sich wiederfinden ohne sich gleich verändern zu müssen. Das Buch schenkt Weitblick und Zuversicht für ratlose Frauen, die ihren Körper gern anders im Spiegel sehen möchten.

Ein Edles Buch auch vom Designe mit Zeichnungen vom Autor. Jedes Bild versetzt in eine Zeit, die vergangen scheint und doch so schön anzusehen ist.
Nur eines hätte ich gern verändert gesehen. Die Schrift kommt edel aber blass rüber. Wer nicht so gut sieht, kann es nicht bei jedem Licht lesen.
Aber vielleicht wäre das ein Stilbruch, der die Stimmung eines Liebesbriefes vor der Zeit auflösen könnte.
© Margarete Noack

24 von 29 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.11.2013
Das 4. Lebensalter
Gronemeyer, Reimer

Das 4. Lebensalter


ausgezeichnet

Bücher, die mich bewegen, machen es mir schwer, darüber zu schreiben.

Sie sind jedoch geduldig, fließen in mich ein bis zu dem Tag, wo sie Aufmerksamkeit fordern.
Sie setzen auf einen Dialog mit meinen Erfahrungen. Und wenn sie mich eingefangen haben, tauchen sie immer wieder auf. Manchmal in einem Satz, manchmal in einer Bemerkung, manchmal in einem Schicksal oder wenn ich über etwas stolpere, das gar nicht in meine Erfahrungen passt.

Dann drängt es mich, Mittler zwischen Buch und Leser zu werden.

Was so blass vom Cover daherkommt, hat es in sich. Endlich ein Autor, der gegen den Strom schwimmt, der sich mit seinen Erfahrungen und Wissen dem Tsunami, in wenigen Jahren multipliziere sich die Diagnose Demenz auf das Zigfache, entgegenstellt, in die Tiefe geht und auf vieles aufmerksam macht, was sonst, wenn überhaupt, nur im Nebensatz gesagt wird.

Demenz ist also keine Krankheit?
Das könnte den Krankenkassen gefallen und viele, die an der Krankheit verdienen, erschrecken, die Angehörigen aber, die unter der Last der Betreuung leiden, empören.
Die einen würden gerne der Überschrift zujubeln, die anderen wiegeln ab, indem sie sagen: Die Experten sehen das aber anders.

Doch Reimer Gronemeyer ist viel zu wach und stellt sich gleich zu Beginn auf solche Äußerungen ein. Er macht sich "klein", indem er in seinem Vorwort den Teppich für sein brisantes Buch auslegt und einlenkend fragt:

"Und was verstehe ich eigentlich von dem Thema? Ich habe keine Erfahrung mit der Pflege dementer Menschen. Muss ich deshalb den Mund halten?"

Es klingt wie eine Rechtfertigung, wenn er weiter schreibt: "Ich habe allerdings ein wenig Erfahrung im Umgang mit Menschen, die hilfsbedürftig sind. Das hat mich dankbar gemacht und empfindsam für das Geschenk, das ein unbeschädigtes Leben nun einmal ist …"

Hier aber kommt er nur denen entgegen, die meinen, Erfahrungswissen sei kein Wissen. Im Alter würde man eh alles durcheinanderbringen. Das aber multipliziert die negative Haltung sogenannter Experten.

Doch zum Glück aller, die neugierig genug sind, schrieb Gronemeyer sein vorliegendes Buch weiter.
So erzählt er gleich zu Beginn von einem Erlebnis, das nachdenklich stimmt und der Hysterie ein Fragezeichen hintenan setzt. Eine Alltagsgeschichte, die ihm widerfahren ist, in der ein Fremder, der nicht wissen konnte, dass da gerade ein Professor von einer Vorlesung kam, ihn auf das Äußere reduziert, dienend allen Klischees von grauen Haaren. Für den Fremden war er ein grauer Kopf, der sich gerade bemühte, der modernen Technik in Eile Herr zu werden. Vielleicht ein Verwirrter?

Doch bereits hier erfährt der skeptische Leser, dass es dem Autor nicht um die Aberkennung der Schwere einer nachgewiesenen Diagnose von Demenz geht, sondern um einen anderen Umgang miteinander, einen Zugang, der in den Medien zu oft versperrt bleibt.


Er schreibt auf S. 21: "Wir leben nicht mehr in dem Dorf, in dem jeder weiß, wohin die verwirrte Frau im Nachthemd gehört, die gerade am Fenster vorbeigeht. Diese verlorene Nachtbarschaftlichkeit muss ersetzt werden durch …"
Und er erinnert sich nachfolgend an eine Situation mit einer verwirrten Frau, die ihn ratlos und beschämt zurückgelassen hat.

Immer wieder auch in den folgenden Kapiteln bezieht sich der Soziologe, auf die reichen Erfahrungen seines Lebens, verbunden mit Erkenntnissen aus der Wissenschaft, und fordert den Leser auf, sensibler mit diesem Thema und den betroffenen und Angehörigen umzugehen. Er weist einfühlsam und klar darauf hin, dass wir Menschen einander brauchen, um würdig das 4. Lebensalter erleben zu können.

"Das 4. Lebensalter, Demenz, ist keine Krankheit" könnte uns dabei helfen, nicht immer nur auf Experten zu setzen, sondern unseren eigenen Kopf einzuschalten. Vielleicht hilft das ja auch gegen eine eigene Demenz oder die Angst davor.
Neue Bahnen im Kopf zu aktivieren, hat noch nie jemanden geschadet.
Margarete Noack

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.10.2013
Selber schuld!
Bonelli, Raphael M.

Selber schuld!


ausgezeichnet

„Selber Schuld!“
Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen
Raphael Bonelli

Nachdem 18 Experten aus Psychologie, Psychotherapie, Philosophie, Sexualwissenschaft, Theologie und Soziologie, Ihre Statements wegweisend zur Lektüre des Wiener, Psychiater, Neurowissenschaftler und Psychotherapeuten Raphael Bonelli abgegeben haben, war ich zunächst irritiert.
Irgendwie klingt alles nach einem gemütlichen Beisammensein von Experten, die das Werk eines jungen Kollegen wohlwollend bewerten. Bemerkungen wie, „genussvoll, klug, witzig, gelehrt, tiefschürfend, ohne erhobenen Zeigefinger, dafür mit liebevollem Schmunzeln, Wegweiser durch den Gefühlsdschungel“, füllen die ersten 13 Seiten. Ich frage mich: „Sollte der Leser positiv beeindruckt werden? Bonellis Buch hat das nicht nötig!

Der Inhalt gliedert sich in 3 Teile, zerlegt in 9 Kapitel. Ähnlich wie in der Einleitung „ Die Unschuld auf der Couch“ kündigt sich jeder Abschnitt mit lockender Überschrift an.
Ein bisschen Querlesen macht gar nichts. Es kommt der Punkt, wo man es genau wissen will.
Dann entfaltet sich das Buch in seiner wunderbaren Vielfalt.

In unserer Zeit, in der Hilfesuchende kurz gehalten werden, weil alles der Diktatur der Ökonomie unterworfen wird, erzählt Raphael Bonelli Beispiele aus seiner Praxis, verbindet sie mit den neuesten Erkenntnissen der Neurowissenschaft, nicht ohne vergangene Theorien, die heute von einem anderen Standpunkt weniger stigmatisierend sind, zu erwähnen. Er baut eine Brücke, die selbst dem Verzagten, auf Therapie wartenden, ermutig sie zu überqueren, allein im Kämmerlein, ohne schwierige Sitzungen, die nicht immer das Ziel der Veränderung einer undurchsichtigen Situation hervorrufen, Klienten zu Psychohopper machen.

Bonelli macht Mut in den angebotenen Fallbeispielen den eigenen wunden Punkt herauszufinden. Manchmal ist er dort versteckt, wo wir über den beschriebenen „Deppen“ am meisten Lachen können. Vielleicht schaut man gerade da in einen Spiegel, erkennt sich selbst. Da ist es gut weiterzulesen, um zu erfahren was die Neurowissenschaft dazu erforscht hat.
Doch nicht nur die Wissenschaft kommt zu Wort. Bonelli beweist mit treffend ausgesuchten Werken der Weltliteratur, dass das eigene Problem nicht das einzige Drama dieses Lebens ist. Immer wieder suchen Menschen durch die Jahrhunderte hindurch nach Lösungen für ihren Leidensdruck.
Raphael Bonelli zeigt wie eng alles miteinander verbunden ist. Er bildet, erweitert Wissen und macht sogar Psychotherapiegegner neugierig.

Das Buch ist ein Mosaik, das die Farben des Lebens zusammenfügt. Es ist kein Ersatz für notwendige Therapie, aber es macht gelassen, wenn eine empfohlen wird. Es befreit aus der Umklammerung einer Opferrolle, öffnet den Blick für den nächsten Schritt.
„Selber schuld!“ist, wer es nicht liest, das Buch, dass für Gesprächsstoff sorgt, auch innerhalb der Familie hilfreich sein kann, erschienen bei Pattloch 2013 für 19.99 €, weniger als eine Therapiestunde kostet.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.07.2012
Letzte Tage mit meinem Vater
Toledano, Phillip

Letzte Tage mit meinem Vater


ausgezeichnet

„Letzte Tage mit meinem Vater“

Mit wenigen Worten und außergewöhnlichen Fotos lässt Phillip Toledano, der Sohn, den Leser an den letzten Lebenstagen seines 97-jährigen Vaters teilhaben.

„Er leidet nicht an Alzheimer, doch er hat kein Kurzzeitgedächtnis mehr und ist oft verwirrt“, so der Sohn über seinen Vater. Der plötzliche Tod der Mutter, lässt den Sohn näher an ihn herantreten.

Ich denke:
Mit 97 muss der Speicherplatz von den Ereignissen des Lebens randvoll sein. Nichts kann mehr gehen, schon gar nicht etwas, das schmerzt. Wie soll man denn mit dieser Wahrheit umgehen, dieser unumkehrbaren? Mit dem Tod, der den Vater nicht unberührt lassen kann? Dem Sohn aber bietet es die Chance einer Annäherung an den Prozess des Älterwerdens.

„Da meine Eltern mich so spät bekamen, war mein Dad eigentlich schon in Rente, als ich erwachsen wurde, so erzählt Phillip Toledano, und berichtet weiter:
„Doch mein ehrgeiziger, getriebener Vater sah sich selbst ganz und gar nicht als Rentner, sondern als jemand, der an seiner nächsten Karriere bastelte: ein Künstler zu werden.
Ich habe so viele Erinnerungen an ihn, wie er eine Oper hört, zeichnet, malt und bildhauert.“

Wie sehr diese Erinnerungen kreative Spuren hinterlassen haben zeigt dieses sensible, einmalige Fotobuch. Es berührt,
wenn der Sohn an anderer Stelle erzählt:
„Ich bat meinen Vater, in den Spiegel zu schauen, als ich ihn fotografierte. Sie müssen wissen, dass mein Vater in jungen Jahren sehr attraktiv war …“

Ich denke:
Wie soll man denn mit dieser Wahrheit umgehen, dieser unumkehrbaren, mit der Veränderung des Körpers, wenn man sich gerne im Spiegel gesehen hat? Da muss man doch erschrecken, wenn nichts mehr ist, wie es war.

Keinesfalls aber muss der Leser erschrecken, denn die Porträts und Momentaufnahmen zeigen eine Persönlichkeit voller Fassetten, Bewegungen der Seele, die der Herbst des Lebens mit sich bringt, Verwandlung, Lebendigkeit reich an Gefühlen.

…und wieder erzählt der Sohn:

„Zwar malt er nicht mehr, doch er hat noch ein gutes Auge. Er bewunderte den Sonnenaufgang und sagte, er könnte eine ganze Gemäldeserie zu diesen wundervollen Farben anfertigen …
Der Drang ist noch da. Auch wenn der Körper nicht mehr mitspielt.“

Vom Essen, vom zu langen auf-der-Toilette-sitzen, vom Sterben und der Sehnsucht, alles sollte wie früher sein, vom Zeugnis der Liebe zwischen Vater und Sohn, als Tagebuch wird es erzählt. Momentaufnahmen eines Lebens an der Schwelle des Unumkehrbaren, des Sterbens.

Immer aber ist auch der Verlust der Mutter präsent. Zurückgehaltene Trauer wenn der Sohn über seinen Schmerz schreibt:

„Ich habe mich lange davor gedrückt, doch heute habe ich den Wandschrank meiner Mutter ausgeräumt.
Ich weiß dass es seltsam klingt, doch manchmal wenn mein Vater ein Nickerchen macht, gehe ich ins Schlafzimmer, öffne ihren Kleiderschrank und schließe die Augen.
Ich atme tief ein. Jeder Atemzug eine Erinnerung.“

Der Abschied vom Vater naht, die Worte und Fotos werden, wie eine Melodie leiser, eindringlicher, geben Raum für eigene Gedanken, wenn der Sohn festhält:

„Wenn wir uns unterhalten, verstummt mein Vater manchmal und seufzt und schließt die Augen.
Dann weiß ich, dass er Bescheid weiß.
Über meine Mutter.
Über alles.“

Das Foto zeigt einen Mann, dessen Antlitz Ruhe ausstrahlt.
Eine Seite später - den trauernden Sohn:

„Mein Dad ist gestern gestorben.“

Was aber bleibt?
Ein leerer Sessel, eine einsame Zahnbürste – ein Zettel mit einem Liebesgedicht an Helene, die vorausgegangene Ehefrau.

Man muss das Buch in den Händen halten, sich von den wenigen Worten inspirieren lassen, eintauchen in Fotos, die den Blick von Klischees befreien.

Wer da glaubt, dieses Zeugnis vom Älterwerden in dieListe von Demenzbüchern aufnehmen, empfehlen zu müssen, sollte inne halten, den Spuren eines fast 100 jährigen Lebens auf dieser so wankelmütigen Welt folgen.
Wer sich das Buch schenkt, wird reich beschenkt!

8 von 8 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.08.2011
Der Geschmack von Blau
Krahe, Susanne

Der Geschmack von Blau


ausgezeichnet

Zwischen Poesie und Tretminen

Es gibt Bücher, die uns lehren auszuhalten, durchzuhalten, um am Ende neue
Impulse für das eigene Leben zu empfangen.
Eines davon ist Susanne Krahes Autobiografie
„Der Geschmack von Blau“
Was ich weiß, seit ich nichts mehr sehe.

Auf 264 Seiten, reflektiert die Autorin ihr Leben. Ein Leben, das von Krankengeschichten bestimmt wird. Geballt treten sie auf: erblinden mit 30, eine Folge von Diabetes, dann Nierenversagen, Transplantation.

Die einst nach außen strebende Susanne beginnt nun ihren Ehrgeiz nach innen zu wenden. Zahlreiche Bücher, Hörspiele, Vorträge, zeugen davon.
Im Angesicht von Leid ein Dennoch zu
finden, das macht die Autorin einer Journalistin, die auf der Suche
nach Überlebenskünstlern ist, mit einem Augenzwinkern deutlich.

Seite 11:
„Zwei Möglichkeiten blieben mir: mich aufzuhängen oder zu überleben:
Zum Aufhängen fehlte mir der Mut.“

Es ist die Ehrlichkeit, die Klarheit der Sprache, die mich fasziniert, die mich vom Buch nicht los lässt.
Weder Selbstmitleid noch Heldentum erniedrigen oder erhöhen das Buch.
Das würde die kraftvolle Sprache der Autorin gar nicht zulassen.
Trauer, Zorn, Freude sind Gefühle die den Leser berühren. Doch sie lassen ihn nicht dahinschmelzen, halten ihn wach, machen ihn aufmerksam – wach auch für die Gedanken einer Theologin auf Gottessuche.

„Hast du nie mit deinem Gott gehadert?“ So beginnt die Autorin
Kapitel 3 „Gottessuche“ S.110

Wen die Frage, warum Gott Leid zulässt, aufwühlt, der erfährt, dass es wohl eine Vollendung des göttlichen Werkes gibt, von der auch Christenmenschen nichts wissen, vielleicht aber erahnen könnten, durch ihren Glauben.

Und da ist auch der Besuch der amerikanischen Freundin. Kapitel 2.
Beeindruckend diese Begegnung nach langen Jahren.
Die Autorin erzählt
wie sie fühlt was ihr von den Augen nicht mehr gesagt werden kann.

„ Mary fühlt sich weicher und wärmer an als früher. Ich hoffe dass
auch meine Schroffheiten sich abgeschliffen haben.“ (S.21)

Ihre Schroffheit. Noch einmal ganz am Ende des III . Teil leuchtet
sie auf, wenn sie Oma Brille beschreibt, die an einem Schlaganfall
erkrankt war und dem Kind, Susanne, eher komisch erschien.
Doch genau hier wird ein Wandel der Autorin deutlich. Plötzlich versteht sie
das ständige Weinen der Oma. Die schroffen Worte werden
zum Spiegel einer unwissenden Welt, die nicht versteht was sie sieht.

Wer nun glaubt, dass er sich nicht zumuten will, als Leser in eine Krankengeschichte einzutauchen, dem empfehle ich das Buch dennoch. Nicht um sein eigenes Leid daran zu messen, nicht um das eigene Leid als leichter zu erkennen, sondern weil die Autorin unerwartet an seine Seite tritt, als Freundin, die etwas mitzuteilen hat.

Sorgsam, geht sie mit der Sprache um, auch wenn so manche Tretmine den Leser erschrecken könnte, etwa durch die detaillierten Ausführungen zu ihrer Erblindung, dem hilflosen Versuch der Ärzte sie operativ davor zu bewahren,

Sie erkennt wenn das Thema gewechselt werden muss, um es auf eine bereichernde Weise zu vertiefen. Sie eröffnet Blickwinkel die staunen lassen, so ihre veränderte Einstellung zur Transplantation, die Veränderung
ihres Denkens, wenn aus der Zuschauerin eine Betroffene wird, wenn sie beobachtend erzählt wie ebenso betroffene Patienten wenig Solidarität füreinander entwickeln können.

Spannend wird es wenn die Theologin Ihre Erkrankungen, im Bezug zur
Bibel, zu Jesus stellt.
„So viele Blindengeschichten gab es in der Bibel. Warum mussten die
eigentlich immer mit einer Heilung der kaputten Augen enden?“
( Seite.225)

Gehen wir noch einmal zurück zu Kapitel 2, das vom Besuch der amerikanischen Freundin erzählt.
Susanne hatte Angst vor der Begegnung.

„Nach zwei, drei Tagen kommt eine Bemerkung, die mich erleichtert: Ich lache viel öfter als früher, stellte Mary fest. „Wirklich?“ Ich nehme das als Kompliment. „Kein Wunder“, gebe ich zu. „Ich bin glücklicher als früher.“ (S.21)

9 von 10 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.05.2011
Zwei alte Frauen
Wallis, Velma

Zwei alte Frauen


ausgezeichnet

Nur wer sich aufgibt ist verloren!
Zwei alte Frauen ist nicht nur ein Buch, sondern Lebenshilfe und Erinnerung. Erinnerung? Woran? Daran, dass wir uns nicht verunsichern lassen sollen, nur weil das kalendarische Lebensalter zugenommen hat und die Gesellschaft mit angstmachenden Prognosen Lähmungen setzen will. Angst vor Verfall, Angst vor Einsamkeit, Angst vor Pflegebedürftigkeit. Alles das ist möglich. Doch gerade da setzt die Geschichte an. Sich nicht fügen sondern sich erinnern wieviele Fähigkeiten in uns verschüttet sind, wieviel Hilfe aus uns selber wachsen kann. Ein wunderbares Buch, dass zwei von zwei Frauen erzählt die von ihrem Stamm, alt und krank zurückgelassen werden, damit die Jungen überleben können. Der Leser erlebt den Kampf und das Erwachen aus ihrer Lethargie, wie sie sich plötzlich auf sich selbst besinnen, aufstehen und am Ende überleben.
Ein wunderbares Buch.
margarete noack

7 von 7 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.05.2011
Der alte König in seinem Exil
Geiger, Arno

Der alte König in seinem Exil


ausgezeichnet

Ich war neugierig genug das Buch in die Hand zu nehmen. Es zeigt einen alten Mann, der seinen Weg durch wuchernde Blätter geht, langsam ein wenig verloren, suchend, wie Robinson Crusoe, ohne die Kraft der Jugend, ohne einen Freund.
Schaut man zu lange darauf spürt man den Druck des aufstrebenden Grüns, wie es den Wanderer einschließen will. Der Mann scheint es nicht zu bemerken. Unbeirrt läuft er weiter. Ich denke: Jemand sollte ihm den Weg frei machen, damit er nicht verloren gehen kann.

Arno Geigers Buch „ Der alte König in seinem Exil“,
ein Bestseller. Leicht liest es sich, leicht und originell, sind die Dialoge zwischen Vater und Sohn, jeweils am Beginn eines Abschnitts der 188 Seiten, oder im biographisch, erzählten Text eingestreut. Leicht kommt es daher und wird wohl darum gern angenommen, gelobt. Es ist Lebensgeschichte des an Demenz erkrankten Vaters.

Demenz, eine Bedrohung, die ein Markenzeichen des „zu lange lebenden Menschen“ geworden ist, die eine Sozialindustrie entstehen lässt und dem Arbeitsmarkt dient.
Demenz, ein Aufruf an den Leser das eigene Leben zu reflektieren!
Arno Geiger ließ sich Zeit, um das Bild seines Vaters zu zeichnen, ein Vater, der dem Leben nie auswich, sondern zupacken konnte, zupacken als würde es immer so weiter gehen, kraftvoll im Alleingang neben seiner jungen Frau, der Mutter seiner Kinder.
Familie war ihm wichtig. Er brauchte sie für seine Geborgenheit. Wie viele andere, der vom 2. Weltkrieg Traumatisierten, hatte er in der Erinnerung an Ausgeliefertsein und Ohnmacht, das Gefühl für Geborgenheit und Vertrauen verloren.
„Meinen Eltern, so Arno Geiger ( S. 81), war vor der Hochzeit nicht in den Sinn gekommen, was passiert, wenn zwei unterschiedliche Vorstellungen vom Glück aufeinandertreffen. Die Zutaten vom möglichen Glück brachten beide mit. Doch bei näherer Betrachtung...“
Später auf S. 88 / 89:
„Wenn jemand wissen wollte: „Wo ist Papa?“ /Hieß es meistens: / „Vermutlich in der Werkstatt.“ /
„Was tüftelt er wieder aus?“ / „Irgendeinen Blödsinn.“

Sie fühlten sich trotz des Vaters Abwesenheit, wenn auch nur in seiner Werkstatt, gestört.
Dann gesteht der Sohn:
„Sogar meine anfänglichen Gefühle, als der Vater krank wurde, folgten diesem Muster – ich dachte, ich möchte nicht, dass sich der Vater mittels einer Krankheit in die Abwesenheit zurückzieht und gleichzeitig aus der Abwesenheit heraus mein Leben beeinträchtigt...“
S. 89

Geiger beschreibt es als ein anfängliches Gefühl, das sich ihm aufdrängte. Was aber, wenn es nicht erforschtes Wissen ist? Mit Tilman Jens, der in seinem Buch „Demenz“ seine Gedanken öffnete, ging man sehr empört um.
Arno Geigers Buch entgeht dieser Kritik. Sein Buch über den Vater, ist eine biografische Skizze, die an den Kreislauf des Lebens erinnert, an Kommen und Gehen, vom aneinander vorbeisehen.
Die junge Frau verlässt den Vater.
„Nach vielen Jahren der Trennung und der Selbständigkeit hat ihm seine Frau die missglückte Ehe verziehen.“ S.186
Durch die Diagnose, Demenz, wird der Vater gezwungen seine Selbstbehauptung aufzugeben, sich anzupassen, um vielleicht Frieden zu finden.
Er bleibt ein einsamer König, der mit seinem Überlebensmuster im Altenheim angekommen ist.

„Im Altenheim“, so der Sohn,“ ist nicht mehr viel zu erwarten - kleine Annehmlichkeiten -lachende Gesichter - herumstreichende Katzen- ein gelungener Scherz - . Mir gefällt es, dass die Menschen, die hier wohnen, aus der Leistungsgesellschaft befreit sind. S.187
So also ist das Paradies für das Alter, frage ich mich nachdenklich.
Wer die neu gefundene Zuneigung eines Sohnes zu seinem Vater spüren will, sollte an einer Lesung Arno Geigers teilnehmen.
Jede noch so gut gemeinte Rezension verblasst, wenn der Sohn selbst von seinem Vater erzählt.
„Der alte König in seinem Exil“, eine Geschichte vom Sohn, vom Zeithaben, Zuhören, wenn der andere seine Geschichte erzählt und sie so vor dem Verlorengehen bewahrt wird.
© Margarete Noack

17 von 17 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

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