Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Hamaru
Wohnort: 
Nürtingen

Bewertungen

Insgesamt 31 Bewertungen
Bewertung vom 15.11.2024
Reichskanzlerplatz
Bossong, Nora

Reichskanzlerplatz


weniger gut

Wer Corinna Harfouch als Magda Goebbels in "Der Untergang" gesehen hat, wird die gnadenlose Kälte der ersten Frau im Dritten Reich nicht so schnell vergessen. Bei Nora Bossong ist sie eine unglückliche Ehefrau des Unternehmers Günther Quandt und danach von Joseph Goebbels, die am Ende ihrem Liebhaber im Sanatorium ihr Leid klagt. Dieser Hans Kesselbach hat Magda benutzt, um seine homosexuellen Neigungen zu kaschieren und aus Angst vor der Entdeckung wird er zum unauffälligen Mitläufer im diplomatischen Dienst. Erst als er vor den Greuel der SS nicht mehr die Augen verschließen kann, versucht er sich in die Schweiz abzusetzen. Aber der Zug kommt nur bis Gotha. Am Ende besucht Hans den Friedhof seines Jugendfreunds Hellmut und der Schluss bleibt so vage, wie vieles in diesem Buch. Aber vielleicht soll diese Vagheit ein bewusstes Stilmittel in diesem Roman sein, der vieles anreißt, aber nicht zu Ende führt.

Bewertung vom 11.11.2024
Das größere Glück
Powers, Richard

Das größere Glück


ausgezeichnet

Selbstreferentielle Aussagen des Autors, die die Künstlichkeit des Fiktionalen betonen, können beim Leser oft eine gewisse Ent-Täuschung bewirken, was den Plot und die Figuren betrifft. Für den Autor und Naturwissenschaftler Richard Powers gehören solche Überlegungen jedoch zur Wahrheit fiktiven Schreibens. Trotzdem oder vielleicht gerade darum zieht der Roman über das Mädchen mit dem Glücks-Gen, das für eine schöne neue Welt missbraucht werden soll, den Leser in seinen Bann. Schonungslos zeigt Powers, wie ein Medienhype und ein heißlaufendes Internet einen glücklichen Menschen fast zerstören können. Auch wer noch nichts von Allelen gehört hat und nicht alle Details einer Gen-Sequenzierung versteht, wird diesen Roman so schnell nicht vergessen.

Bewertung vom 04.11.2024
Die Bagage
Helfer, Monika

Die Bagage


ausgezeichnet

Monika Helfers erster Roman aus ihrer Familientrilogie über ihre schöne Großmutter Maria ist ein ergreifendes Zeitdokument über eine Familie, die am Rande eines Bergdorfes lebt und dort nur die Bagage genannt wird. Der Vater wird zu Beginn des 1. Weltkrieges eingezogen und seine Frau ist mit vier Kindern auf sich alleingestellt. Der Bürgermeister stellt ihr nach, die Frauen im Dorf verreißen sich das Maul als Maria schwanger ist und der Pfarrer exkommuniziert die vermeintliche Sünderin. Monika Helfer erzählt diese Geschichte lakonisch und in Sprüngen, immer wieder die Frage reflektierend, wie lange eine solche Familientradition nachwirkt.

Bewertung vom 31.10.2024
Löwenherz
Helfer, Monika

Löwenherz


ausgezeichnet

Monika Helfer schreibt in " Löwenherz" über ihren Bruder Richard, Glückskind, Liebling des Vaters, Schriftsetzer, Maler, Träumer und "Schmähtandler", einer "der zwanghaft Geschichten erfindet und so tut, als seien sie wahr". Die Geschichte über ihn und das bei ihm "abgestellte" Mädchen namens Putzi und den Hund Schamasch ist so ergreifend, dass man diesen schmalen Band nicht mehr aus der Hand legt. Immer wieder reflektiert die Autorin ihr Schreiben kritisch, was im Spannungsverhältnis dazu steht, dass sie sich sehr wohl auch als Schmähtandlerin charakterisiert.

Bewertung vom 29.10.2024
Atomstation
Laxness, Halldór

Atomstation


sehr gut

Da, wo heute Millionen Islandtouristen landen, auf dem Flughafen Keflavik, sollte 1946 zu Beginn des kalten Krieges ein Militärstützpunkt der Amerikaner errichtet werden. Laxness schildert in diesem Roman, der zwischen Surrealismus und Island- Sage changiert, den Kampf um den Verkauf des Landes aus der Sicht des ungebildeten, aber selbstbewussten Dienstmädchens Ugla. Problematisch an einer solchen Ich- Erzählerin ist es, wenn sie Sätze äußerst, die weit über die immer wieder betonte Unbildung hinausgehen. So heißt es über ein ihr anvertrautes Mädchen: "Manchmal schien mir, als ob in ihren Augen alles vegetative Leben kämpfte, vom kleinsten Geschöpf.... bis dorthin, wo dich der Gott mit seinen brennenden, lüsternen Mörderaugen aus der Tiefe ansieht." Trotz dieser Kritik ist dieser Roman, für den Laxness 1955 den Literaturnobelpreis erhielt, heute so aktuell wie zu seiner Entstehungszeit.

Bewertung vom 23.10.2024
Das Blutbuchenfest
Mosebach, Martin

Das Blutbuchenfest


ausgezeichnet

Es ist das typische Mosebach Personal: Ein Kotzbrocken namens Rotzoff, ein Schöngeist namens Wereschnikow, ein ätherisches Wesen namens Winnie, diverse Damen aus der Frankfurter High Society und ein blasser, namenloser Ich-Erzähler. Nur die bosnische Putzfrau Ivana, tough und unbestechlich, fällt aus dem Rahmen. Sie putzt bei allen Protagonisten und ist somit die Klammer in diesem Roman, der zu Beginn der 1990er Jahre spielt und unaufhaltsam zu seinem Höhepunkt zusteuert, als parallel ein aus dem Ruder laufendes Fest und der Beginn des Krieges in Bosnien erzählt wird. Mosebach ist wie immer ein begnadeter Erzähler, der die verschiedenen Charaktere auf das genaueste analysiert. Dass er es liebt, altertümliche Fremdwörter einzubauen, sich nicht an die neue Rechtschreibung hält - die Gattinnen der Entrepreneure sitzen auf dem Sopha - er mittels Parenthesen immer wieder den Erzählfluss unterbricht, sei ihm verziehen. Kurzum man genießt diese kluge Buch, das sich wohltuend von der Betroffenheitsprosa zeitgenössischer Literat*innen abhebt.

Bewertung vom 11.10.2024
Am Meer
Strout, Elizabeth

Am Meer


ausgezeichnet

Lucy Barton ist Elizabeth Strouts alter ego und man ertappt sich immer wieder, die Ich-Erzählerin mit der Autorin gleichzusetzen, weil beide erfolgreiche Schriftstellerinnen sind und aus Maine stammen. Wie Tagebuchaufzeichnungen aus der dunklen Corona-Zeit, in einer scheinbar einfachen Sprache gehalten, kommen dem Leser die kurzen Kapitel aus Strouts Roman vor und zuerst denkt man, dass " Am Meer" nicht an die wunderbaren Olive Kitteridge- Romane heranreicht. Aber Lucys Ratlosigkeit und Verzweiflung eröffnen einen empathischen Blick auf die gespaltene amerikanische Gesellschaft, jenseits des üblichen Schwarz- Weiß-Denkens. Nur warum der Verlag glaubte , das Cover mit dem Bild einer heilen Urlaubsidylle gestalten zu müssen, erschließt sich nicht.

Bewertung vom 08.10.2024
Krass
Mosebach, Martin

Krass


ausgezeichnet

Krass - nomen est omen - ist diese Hauptfigur, eine menschenverschlingende, unersättliche und durch und durch amoralische Person. Und wenn man gerade leichte Zweifel anmelden will, ob es solche Menschen gibt und ob all dies Zufälle überhaupt realistisch sind, dann wird man wieder von Mosebachs Erzählkunst und überbordender Phantasie als kleinmütiger Bedenkenträger entlarvt.

Bewertung vom 28.09.2024
Was davor geschah
Mosebach, Martin

Was davor geschah


ausgezeichnet

Auch wenn am Ende nicht ganz klar wird, wer nun die junge Frau ist, die von dem Ich-Erzähler wissen will, "was davor", vor ihrer Beziehung "geschah", ist dieser Roman ein Genuss. Wie Mosebach die Mitglieder der Frankfurter High-Society seziert, wie er Figuren wie den alten Schmidt-Flex oder einen Joseph Salam entwirft, wie er den Zufall immer neue überraschende Volten schlagen lässt, das ist große Erzählkunst. Einige Personenkonstellationen aus " Taube und Wildente" sind schon in diesem Roman aus dem Jahr 2010 angelegt, z.B. das anscheinend so perfekte Ehepaar, das sich plötzlich in einem Rosenkrieg befindet. Mosebach zeigt sich hier als Meister des Gesellschaftsromans, den ich leider erst jetzt entdeckt habe.

Bewertung vom 20.09.2024
Taube und Wildente
Mosebach, Martin

Taube und Wildente


ausgezeichnet

Martin Mosebach erzählt in "Taube und Wildente" von einem Rosenkrieg im Bildungsbürgermilieu, ohne Geschrei und Gewalt, der so subtil, aber deshalb umso bösartiger ist. Mosebach seziert die Psychologie seiner Figuren in der erlebten Rede bis in die feinsten Verästelungen und erinnert dabei an seinen Namensvetter vom Bodensee in dessen besten Zeiten. In einem fulminanten Schluss lässt er das Paar sich wieder näher kommen, weit entfernt von einem Happy end.