Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
dozzeline
Wohnort: 
Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 24 Bewertungen
Bewertung vom 25.05.2024
Und alle so still
Fallwickl, Mareike

Und alle so still


ausgezeichnet

„Schau uns an, wir sind jung. Wir haben so viele Möglichkeiten, aber keine fühlt sich richtig an. Alles ist kaputt und zerfahren und kompliziert. Was ist das für eine scheiß Welt, Nuri?“

Drei ungleiche Charaktere: Nuri ist 19 Jahre alt, ohne Schulabschluss, und möchte endlich ein unabhängiges Leben fernab seiner Eltern führen. Doch trotz Nebenjobs rund um die Uhr und kaum zwei Stunden Schlaf am Tag schafft er es nicht über die Runden. Elin, Anfang 20, ist als Influencerin erfolgreich, findet in ihrem eigenen Leben jedoch keinerlei Orientierung. Und schließlich Ruth, Mitte 50, deren absoluter Lebensmittelpunkt als Pflegefachkraft das Krankenhaus zu sein scheint und die das Wohl ihrer Patient*innen immer über das eigene stellen würde.
Doch dann liegen plötzlich Frauen auf der Straße und weigern sich aufzustehen. Zuerst nur vor dem Krankenhaus, dann in der ganzen Stadt. Sie gehen nicht mehr zur Arbeit, kümmern sich nicht mehr um die Kinder, erledigen keine Haushaltsaufgaben mehr. Auch in Ruths Klinik erscheinen zunehmend weniger Pflegerinnen und Ärztinnen zum Dienst und innerhalb weniger Tage kippt das System.

Ich liebe Mareike Fallwickls Bücher. Seit mir „Dunkelgrün fast Schwarz“ während des ersten Lockdowns in die Hände gefallen ist, habe ich sie alle verschlungen. Ihre Erzählweise ist wahnsinnig dicht, die Charaktere sind immer greifbar und sie scheut sich definitiv nicht, den Finger in die Wunde zu legen.
Aber der neue Roman ist für mich nochmal anders besonders. Ich habe während der Pandemie als Assistenzärztin auf einer Intensivstation gearbeitet und die Klinik kurz danach ganz verlassen. Insbesondere Ruths Schilderungen gingen mir so nahe, dass ich das Buch regelmäßig weg legen musste. Die Unterbesetzung, die ständige Überforderung, die fehlenden Pausen und Auszeiten. Und die ständige Erwartungshaltung der Gesellschaft, trotz allem immer weiter zu machen, weil „wir haben uns den Job schließlich ausgesucht“. Ein Care-Streik ist ehrlich gesagt etwas, was ich mir seit Jahren wünsche!
Das Buch fängt auf fast schmerzhafte Weise die Zerrissenheit einer Gesellschaft ein, die auf unbezahlte Care Arbeit von (hauptsächlich) Frauen und kapitalistischer Ausbeutung basiert, und zeigt gleichzeitig fast ein Gegenmodell.

Bewertung vom 08.10.2023
Cleopatra und Frankenstein
Mellors, Coco

Cleopatra und Frankenstein


sehr gut

Messy Adulting

„Ich erzähle dem Börsenmaklersohn, wenn ich die Bürgermeisterin von New York wäre, würde ich eine öffentliche Kastration für verurteilte Vergewaltiger einführen. Dafür würde ich eine Penisguillotine auf der Brooklyn Bridge bauen lassen.“

Cleo und Frank laufen sich in der Silvester-Nacht zufällig in einem Treppenhaus über den Weg. Das ist der Beginn der rasanten Beziehung zwischen der 24-jährigen Cleo und dem fast doppelt so alten Frank. 6 Monate später sind sie verheiratet, doch ihre Ehe ist geprägt von Höhen und Tiefen.
Cleo. Frank. Zoe. Anders. Eleanor. Fünf sehr unterschiedliche Charaktere, Anfang 20 bis Anfang 40, die in New York City im Laufe eines Jahres auf die eine oder andere Weise zusammentreffen. Alle bewusst oder unbewusst auf der Suche: nach sich selbst, nach einem Ausweg, nach einem Sinn im Leben.

An Coco Mellors Erstlingswerk war dieses Jahr gefühlt kein Weg vorbei. Auf instagram, in Buchhandlungen, überall das Cover von „Cleopatra und Frankenstein“. Zurecht. Cleopatra und Frankenstein hat mich sehr gut unterhalten. Und war gleichzeitig wahnsinnig anstrengend zu lesen. Die Charaktere sind teilweise wahnsinnig unlikable. Die meisten Beziehungen sind toxisch und destruktiv. Und trotzdem gelingt es Coco Mellors (auf eine Art und Weise, die sehr an Sally Rooney erinnert), Empathie für diese Gruppe Menschen zu wecken, die sich mehr schlecht als recht durchs Leben kämpfen.

Bewertung vom 12.04.2023
Das Ende der Ehe
Roig, Emilia

Das Ende der Ehe


ausgezeichnet

„Männer nicht zu bewundern wird in der patriarchalen Gesellschaft als Hass gegen sie interpretiert. Und Männer nicht zu mögen – insbesondere weiße Männer -, wird pathologisiert, denn man muss verrückt sein, um die die Crème de la Crème der gesamten Menschheit abzulehnen.“

Ich bin jung, weiblich und habe kein gesteigertes Interesse daran, zu heiraten. Beste Voraussetzungen also für Emilia Roigs neues Sachbuch „Das Ende der Ehe“.
Da ich mich mit dem Thema bereits ausgiebig auseinandergesetzt habe, waren mir viele Aspekte nicht ganz neu: dass von der Ehe vorwiegend Männer profitieren, dass das Ehegattensplitting ein staatliches Instrument, um vor allem Frauen finanziell abhängig zu halten, dass dieser Staat in großen Teilen auf der unbezahlten Care-Arbeit der (Ehe-)Frauen basiert. Emilia Roigs Analyse geht aber so weit über diese Punkte hinaus! Während der Feminismus auf gesamtgesellschaftlicher Ebene in den letzten Jahrzehnten schon große Fortschritte geschaffen hat, leben wir nach wie vor in zutiefst ungleichen, patriarchalen Beziehungen – geprägt durch das Konzept von Ehe und Kernfamilie, das für alles steht, was wir wollen sollen. Um dieses Macht-Ungleichgewicht zu überwinden reicht laut Emilia Roig aber nicht nur die Abschaffung der Ehe im Sinne des Verwaltungsaktes. Wir müssen weg von Labels und Schubladen, die Menschen trennen und hierarchisieren – und dazu gehört natürlich auch die Einteilung in Geschlechter und sexuelle Orientierung.
„Das Ende der Ehe“ ist ein Plädoyer für die Abschaffung eines patriarchalen Konstrukts, ohne das wir alle viel freier leben könnten. Mein Buch ist nach dem Lesen voller Post-Its und mein Kopf voller neuer Ideen. Ich hoffe, dass ganz viele Menschen dieses Buch lesen und wir es als Gesellschaft vielleicht irgendwann schaffen, dieser Utopie ein klein wenig näher zu kommen.

Bewertung vom 12.03.2023
Dein Taxi ist da
Guns, Priya

Dein Taxi ist da


sehr gut

„Unsere Gefühle sind eine natürliche Reaktion auf ein ungerechtes System! In unserer Zeit zu leben ist eine Scheißerfahrung! Wie soll ihre kleine Spendenaktion daran etwas ändern?“

Damani und ihre Freund*innen sind Working Poor. Sie arbeiten als Fahrer*innen für die App Ride Share. Doch von dem Geld, das die Fahrgäste bezahlen, kommt immer weniger bei den Fahrer*innen an. Damanis Freund Shereef versucht Widerstand gegen Ride Share zu organisieren. Doch Damani hat für diese Pläne aktuell keinen Kopf. Auf einer ihrer Fahrten steigt Jolene zu ihr ins Auto: Sozialarbeiterin, weiß, attraktiv, privilegiert. Damani und Jolene stürzen sich mit Rasanz in eine Beziehung, in der zwei Welten aufeinanderprallen. Doch Jolene, Prototyp des white saviors, hat selber sehr klare Vorstellungen, wie Damani und ihren Freund*innen zu helfen sei.

„Dein Taxi ist da“, der erste Roman von Priya Guns, lässt mich in vielerlei Hinsicht zwiegespalten zurück. Ich liebe die Idee! Ich liebe den Konflikt zwischen Damani und Jolene, wie der Kampf um soziale Gerechtigkeit zu führen ist und, noch viel elementarer, wem die Deutungshoheit über diesen Kampf zusteht. Damani fehlt für den organisierten Arbeitskampf schlichtweg die Energie: sie arbeitet rund um die Uhr, pflegt ihre Mutter und versucht währenddessen die Rechnungen und Mahnungen unter Kontrolle zu halten. Gleichzeitig scheint ihr aber auch durchaus das Interesse an Shereefs Bemühungen zu fehlen. Stellenweise verliert sich die Geschichte dadurch in der Beziehung zwischen Jolene und Damani, während Damanis Freund*innen und ihre Pläne komplett in den Hintergrund rücken. Und ja, ich unterstelle der Autorin an dieser Stelle Kalkül: Damani ist eine Anti-Heldin. Sie braucht Jolene, die ihre Kämpfe umdeutet und in allerbester Absicht ihre Ideale verletzt, um zu lernen, für sich einzustehen. Der Roman hatte für mich dadurch im Mittelteil jedoch leider einige Längen.
„Dein Taxi ist da“ ist eine spannende Annäherung an Identität und Privilegien. Und wer, wie ich, zwischendurch ein wenig mit der Geschichte hadert, wird am Ende definitiv mit einem fulminanten Finale belohnt.

Bewertung vom 07.01.2023
Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?
Weber, Sara

Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?


ausgezeichnet

"Da soll nochmal jemand den Vorwurf in den Raum stellen, dass junge Menschen „einfach nicht arbeiten wollen“. Warum sollten sie auch, wenn sie in eine Arbeitswelt geworfen werden, die ihnen von Tag ein signalisiert, dass sie nicht gewollt und wertlos sind? Dass sie dankbar sein müssen, ihre Arbeitskraft für geringe Löhne abgeben zu dürfen?"

Die letzten Jahre fühlen sich wie eine Aneinanderreihung von Krisen an: Covid, Ukraine und die anhaltend fehlenden Bemühungen, die Klimakatastrophe zu stoppen. Trotzdem machen wir einfach weiter, kämpfen uns täglich durch eine Arbeitswelt aus dem letzten Jahrhundert und sind, wie Sara Weber richtig sagt, alle so verdammt erschöpft. Realistisch betrachtet funktioniert das System schon lange nicht mehr – schon gar nicht für die Generationen der Millenials und Gen Z, die sich von unbezahltem Praktikum zu befristetem Job hangeln ohne Aussicht auf den Lebensstandard ihrer Eltern und Großeltern. Doch was wäre der Weg aus der Krise?

Die Fragen und Probleme, die Sara Weber in ihrem ersten Sachbuch aufwirft, sind nicht per se neu: ich habe 2021 einen soul-sucking 60h-Job hinter mir gelassen und könnte über diese Entscheidung nicht glücklicher sein. Und trotzdem bin ich auch nach 42h immer noch so unfassbar müde. Auch mein neuer Job ist befristet. Auch mein Job bietet mir nicht die Flexibilität, die ich mir wünschen würde. Und trotzdem weiß ich, dass er im Vergleich immer noch eher zu den „lovely jobs“ gehört und ich nicht mit den hässlichsten Seiten der Arbeitswelt konfrontiert werde.
Sara Webers Analyse des Arbeitsmarktes ist ungeschönt und umfassend: zu lange Arbeitszeiten, zu wenig Flexibilität, hohe Befristungsquote insbesondere bei Arbeitnehmer*innen unter 40, vermeintlicher Fachkräftemangel im Niedriglohnsektor, fehlende Gleichberechtigung, ungleiche Verteilung unbezahlter Care Arbeit, zunehmende Schere zwischen den Einkommen, fehlende Organisation der Arbeitnehmer*innen und verfehlte wirtschaftliche Ausrichtung auf weiteres Wachstum bei limitierten planetaren Ressourcen. Doch glücklicherweise zählt die Autorin nicht nur die Baustellen auf, sie zeigt auch Lösungsansätze, wie es uns gelingen kann, die Arbeitswelt zu reformieren und auf unsere Bedürfnisse und die planetaren Grenzen anzupassen – Lösungen, die uns ermöglichen, den Herausforderungen der Klimakrise zu begegnen, die unser Leben gleichberechtigter machen und eine erfolgreiche Transformation der Arbeitswelt bei zunehmender Technologisierung ermöglichen.
Der ganze Komplex „shortcomings der Arbeitswelt“ war schon vor Sara Webers Buch ein Thema, mit dem ich meinem Umfeld gerne auf die Nerven gegangen bin und trotzdem habe ich in den letzten Tagen so viele neue Denkanstöße gesammelt. Absolute Leseempfehlung für alle, die die Arbeitswelt ändern wollen und noch viel mehr für die, die denken, es wäre schon alles gut so, wie es ist.

Bewertung vom 16.10.2022
Rosa kocht vegan
Roderigo, Rosa

Rosa kocht vegan


ausgezeichnet

Ich lebe seit gut 15 Jahren vegetarisch und arbeite seit ca. einem Jahr daran, schrittweise die letzten tierischen Produkte von meinem Speisezettel zu werfen. Das läuft leider schleppend. Vor allem, weil mir oft die Ideen für einfache vegane Gerichte fehlen – aber dafür habe ich ja jetzt Rosas Kochbuch!

Das Buch ist wahnsinnig farbenfroh und macht schon beim Aufschlagen einfach gute Laune. Zu Beginn gibt es ein kurzes Kapitel darüber, wie Rosa zum Kochen und zur veganen Küche gekommen ist, außerdem ein paar generelle Tipps zu Zutaten und Ausstattung. Der Rest ist randvoll mit Rezepten in Kategorien von Frühstück, über deftige Hauptgerichte und Picknickparty bis zu Desserts. Und ich als ewig heikle/schnäkische/wählerische Person muss sagen: das sieht alles ziemlich lecker aus und schon beim ersten Durchblättern, wollte ich mindestens 10 Dinge am liebsten sofort nachkochen. Der Aufwand hält sich bei den meisten Rezepten in Grenzen und auch die Zutaten sind so gewählt, dass man sie in einem halbwegs sortierten Supermarkt problemlos erhalten sollte. Einzig den Portionsangaben vertraue ich teilweise nicht so ganz: 400g Nudeln für 2 Personen kommt mir eher viel vor. Aber es lässt sich schließlich alles anpassen und im Zweifel muss am nächsten Tag niemand mehr kochen.
Ich freue mich schon total darauf, das Buch einmal durchzukochen!

Bewertung vom 25.09.2022
Unsre verschwundenen Herzen
Ng, Celeste

Unsre verschwundenen Herzen


ausgezeichnet

„Man sagte etwas und jemandem gefiel es nicht. Man tat etwas, und jemandem gefiel es nicht, aber vielleicht tat man auch nichts, und jemandem gefiel das auch nicht.“

Noah, genannt Bird, ist 12 Jahre alt. Mit seinem Vater lebt er auf dem Campus der Harvard University. Das Leben in der amerikanischen Gesellschaft, in der Bird aufwächst, ist nach Jahren der wirtschaftlichen und sozialen Instabilität, vor allem durch ein Gesetz geprägt: den „Preserving American Culture and Traditions Act“, kurz PACT. PACT regelt das Verbot „unamerikanischer“ Bücher, das Sperren „unamerikanischer“ Internetseiten, die Denunziation „unamerikanischen“ Verhaltens und den Entzug von Kindern aus „unpatriotischen“ Elternhäusern. Bird ist sich zunehmend sicher, dass PACT der Grund für das Spurlose Verschwinden seiner Mutter vor drei Jahren ist.

Celeste Ng gehört zu den Autor*innen, zu deren neuen Bücher ich blind greife: und sie hat mich nicht enttäuscht! Dabei war eine Dystopie wohl nie ihr ursprünglicher Plan für ihren neuen Roman – bis 2016.
„Unsre verschwundenen Herzen“ zeichnet das Bild einer düstern, konstant misstrauischen Gesellschaft, die sich komplett in der Hand von Polizei und Nachbarschaftsmiliz befindet. Jede Kritik an PACT ist per se „unpatriotisch“ und wird verfolgt, mit jedem Akt der Nonkonformität riskieren Eltern, ihre Kinder zu verlieren. Und so weit dies von der heutigen Situation entfernt scheint, nutzt Ng doch viele Variationen auf aktuelle politische Vorgänge in den USA: Bücher verschwinden in vielen Staaten der USA reihenweise aus Schulbibliotheken. Lehrplaninhalte wie die Sklaverei, die kein allzu gutes Licht auf die USA werfen, stehen in vielen republikanisch geführten Staaten auf dem Prüfstand. Und Texas ist in Sachen Denunziation weit vorangeprescht, in dem es alle Bürger*innen auffordert, jeden Verdacht einer geplanten oder erfolgten Abtreibung den Behörden zu melden.
Und auch ein Sündenbock ist, wie in allen politischen Krisen, in Ngs dystopischen Amerika schnell gefunden: China, und stellvertretend alle asiatisch aussehenden amerikanischen Bürger*innen. An dieser Stelle sei an die Myriade von Trump-Reden erinnert.
Diese engen Anknüpfungspunkte an die heutige politische Situation machen Ngs neuen Roman wahnsinnig realistisch und dadurch umso beängstigender. Eine ähnliche Gesellschaft lässt sich hoffentlich noch abwenden, erscheint aber nicht unmöglich.
Das hindert Ng jedoch nicht daran, ohne Rücksicht auf Verluste auf dem Boden dieser Dystopie eine wahnsinnig spannende Geschichte zu erzählen. Dieses Buch hat mich ab dem ersten Kapitel eingesogen und erst 2 Tage später auf der letzten Seite wieder ausgespuckt. Und auch ihr nächster Roman wird definitiv wieder auf der Must-read-Listen landen.

Bewertung vom 11.09.2022
People Person
Carty-Williams, Candice

People Person


sehr gut

„Wie auch immer, hört mal“, Cyril klatschte in die Hände. „Jetzt wo ihr euch alle kennt, liegt’s an euch, Freunde zu werden, wenn ihr Freunde werden wollt, oder was auch immer.“

Cyril Pennington, Sohn jamaikanischer Einwanderer und ambitionierter DJ-Anwärter, kann weder dem Konzept von Monogamie noch von Vaterschaft viel abgewinnen. Dabei hat Cyril 5 Kinder von 4 Frauen, die ihren Vater größtenteils nie zu Gesicht bekommen. Als diese das Teenager-Alter erreichen, beschließt Cyril, seine Kinder einander vorzustellen – um Inzest zu vermeiden.
16 Jahre später klingelt Nikishas Telefon. Dimple, ihre sensible jüngere Influencer-Schwester, steckt in Schwierigkeiten. Und aus dieser Geschichte kommen sie nur als Geschwister wieder raus.

Disclaimer: ich bin bekennender Fan von Candice Carty-Williams Debutroman „Queenie“. Die Erwartungen an ihren zweiten Roman waren also entsprechend hoch. Um so viel vorwegzunehmen: die Bücher sind sehr unterschiedlich, aber ich wurde nicht enttäuscht.
„People Person“ bringt vieles mit, was ich bei Carty-Williams schätze: der unaufgeregte, leicht zu lesende Schreibstil, der mich schnell in die Geschichte gezogen hat. Aber auch ihr Gespür für Charaktere und die Art, wie sie alle 5 Geschwister und sogar die „Charaktere aus der 2. Reihe“ zeichnet, so dass ein glaubhaftes soziales Gefüge entsteht, das den Plot über die gut 400 Seiten tragen kann. Die Wahl, Dimple zur Protagonistin des Romans zu machen, ist die einzige Entscheidung, in der ich Parallelen zu Queenie sehe: Dimple ist 30, unsicher und sehr emotional, hat Probleme ihre Grenzen zu verteidigen und scheint ihren Geschwistern anfangs wenig entgegensetzen zu können.
„People Person“ ist sehr unterhaltsamer Roman, trotzdem klammert Carty-Williams all die politischen und sozialen Probleme, die sich für junge POC in London ergeben, nicht aus: Partnerschaftsgewalt, Polizeigewalt, generational trauma und body dysmorphia, um nur einige wenige davon zu nennen. Dennoch empfand ich die Lektüre als „leichter“, als das bei Queenie der Fall war, und habe die 5 Geschwister auf meiner Couch absolut ins Herz geschlossen.

Bewertung vom 30.07.2022
Matrix
Groff, Lauren

Matrix


ausgezeichnet

„Frauen handelten sämtlichen Regeln der Unterwerfung zuwider, wenn sie sich der Verfügbarkeit entzögen. Genau darüber seien Maries Feinde so erzürnt.“

Mit nur 17 Jahren wird Marie, Waise und uneheliches Kind der Krone, vom königlichen Hof verstoßen. Sie, die keinerlei religiösen Ambitionen hegt, soll Priorin eines verarmten Klosters werden, dessen Nonnen in Scharen an einer mysteriösen Seuche zugrunde gehen. Während es Marie zu Beginn schwer fällt, im Kloster Fuß zu fassen, erkennt sie bald die Möglichkeiten, die es ihr bietet, für sich und ihre Schwestern eine sichere, selbstbestimmte Zukunft zu gestalten.

Ich glaube, ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass ich etwas Ähnliches wie Lauren Groffs neuen Roman noch nicht gelesen habe. Die Idee eines gelebten Matriarchats in einem Nonnenkloster des 12. Jahrhunderts ist so abstrus wie spannend – und es funktioniert überraschend gut.
„Matrix“ hat es ab der ersten Seite geschafft, mich vollkommen in seinen Bann zu ziehen. Marie ist eine faszinierende Protagonistin, die in ihren Ambitionen und ihrer zunehmenden Unersättlichkeit von der Autorin aber auch durchaus kritisch betrachtet wird. Maries Kampf gegen die starren patriarchalen Strukturen, in der Gesellschaft, aber vor allem auch in der Kirche und in der theologischen Lehre, und ihren Weg zur absoluten Unabhängigkeit begleitet Lauren Groff in ihrem Roman in einer bildhaften, fast poetischen Sprache. Dass Eva immerhin aus einer Rippe geformt wurde und Adam nur aus Lehm, ist auf jeden Fall ein Argument, das ich mir für die nächste Gelegenheit merken werde. Männer werden in „Matrix“ bestenfalls kurz erwähnt, als handelnde Personen treten sie im gesamten Roman nicht auf. Kurze Anspielungen auf die Probleme der heutigen Zeit kann sich aber auch Lauren Groff nicht verkneifen; das Foreshadowing auf die Klimakrise ist ein wiederkehrendes Motiv.
Für mich eine der spannendsten Neuerscheinungen dieses Jahr und absolut verdienter Platz auf Barack Obamas Leseliste 2021.

Bewertung vom 10.07.2022
Dieser Beitrag wurde entfernt
Bervoets, Hanna

Dieser Beitrag wurde entfernt


sehr gut

„Ein Video von jemandem, der seine Katze aus dem Fenster wirft, ist nur dann erlaubt, wenn es nicht aus grausamen Motiven geschieht, ein Foto von jemandem, der seine Katze aus dem Fenster wirft, ist immer erlaubt.“

Kayleigh hat für einige Monate als Content Managerin für ein nicht näher bezeichnetes soziales Netwerk gearbeitet. Für einen Anwalt, der ihre ehemaligen Kolleg*innen in einer Sammelklage gegenüber ihrem ehemaligem Arbeitgeber, dem Subunternehmer Hexa, vertritt, schreibt sie ihre Erlebnisse aus der Zeit auf. Ihr Bericht ist ernüchternd: die Arbeitsbedingungen sind schlecht, der Druck ist hoch und die Content Manager*innen werden mit all der Gewalt und dem Hass, den sie tagtäglich moderieren sollen, allein gelassen. Schon nach kurzer Zeit werden die Risse in Kayleighs Kolleg*innen/Freundesgruppe sichtbar. Alkohol, Drogen, Paranoia, Insomnia, Verschwörungstheorien. Ist Kayleigh wirklich als einzige dagegen immun?

Nach „Automaton“ von Berit Glanz ist „Dieser Beitrag wurde entfernt“ der zweite Roman dieses Jahr, der sich mit den Arbeitsbedingungen und den enormen psychischen Belastungen der Content Moderator*innen widmet. Ein Thema, mit dem sich die meisten (mich eingeschlossen) wahrscheinlich nie beschäftigt haben. (Ergänzend sei an dieser Stelle der Beitrag des y-Kollektivs empfohlen.) Allein die Vorstellung, mit was diese Leute täglich konfrontiert werden, um den Rest vor uns vor genau diesen Bildern zu schützen, ist grauenvoll. Gleichzeitig sind die Content Moderator*innen von den großen Plattformen maximal austauschbar und werden bei „Nichtfunktionieren“ praktisch sofort ersetzt.

Hanna Bervoets schafft es auf nur etwas mehr als 100 Seiten die zunehmende Belastung der Freundesgruppe zu zeigen, die zunehmend zu Spannungen und Gewalt führt. Insbesondere die Entwicklung von Kayleigh, die sich in ihrer Introspektion kaum von den geprüften Inhalten beeindruckt zeigt, hat mich beeindruckt. Ich habe das Buch innerhalb eines Vormittags auf der Couch inhaliert und würde mir wünschen, dass diesem Bereich des Internets mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird.