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dracoma
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LANDAU

Bewertungen

Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 23.11.2024
Das Fest
Fricke, Lucy

Das Fest


ausgezeichnet

Ein runder Geburtstag macht einen immer etwas nachdenklicher, und je runder die Geburtstage werden, umso heftiger können die melancholischen Attacken sein. Jakob, der Protagonist, wird 50. Kein Alter, könnte man sagen, da wartet noch so viel auf einen, das Leben braust noch! Aber Jakob sieht das anders. Er blickt auf ein Leben voller Niederlagen zurück. Beruflich, amourös und überhaupt: er steckt seiner Ansicht nach in einer nicht endenden Flaute. Er steckt fest in Selbstmitleid und Zukunftspessimismus.

Seine Freundin Ellen sieht das anders, und mit ihrem Geburtstagsgeschenk, einer Badehose, führt sie Jakob in einen ganz besonderen Tagesverlauf. Im Laufe des Tages begegnet Jakob nämlich einigen Menschen, die eine wichtige Rolle in seinem Leben spielten. Erinnerungen werden in Jakob wach, und er erkennt mit einer ganz besonderen Mischung aus Dankbarkeit und Demut, wie diese Menschen ihn geformt und sein Leben beeinflusst haben. Und allmählich ändert sich seine Einstellung. Das Leben hat ihn versehrt, das ja, und das wird an seinen verschiedenen Verletzungen auch sichtbar, aber dennoch hebt sich seine Stimmung. Nicht nur dieser besondere Geburtstag, sondern sein Leben ist nun für ihn „Das Fest“.

Die Geschichte ist, realistisch betrachtet, eher unwahrscheinlich. Aber sie hat einen Charme, dem sich der Hörer, auch dank Bettina Hoppes perfektem Vorlesen, nicht entziehen kann. Der Optimismus und die Lebenszugewandtheit der Erzählung sind wohltuend, und die Kernbotschaft finde ich wunderbar: der reflektierende Rückblick auf ein gutes Leben zeigt weniger die äußeren Erfolge, sondern zeigt die Beziehungen zu Menschen, die einen eine Zeitlang begleitet und unterschiedlich geformt haben. Jakob empfindet Dankbarkeit. Seine Verhärtung bricht auf, er schaut wieder hoffnungsfroh in die Zukunft.

Dieses eigentlich schwergewichtige Thema erzählt die Autorin leicht, voller Verständnis für ihre Figuren, mit Humor und auch Ironie, und in jeder der Begegnungen sieht man ihre eigene Lebensklugheit und Menschenfreundlichkeit.

Bewertung vom 22.11.2024
Maddalena geht (eBook, ePUB)
Weiß, Margit

Maddalena geht (eBook, ePUB)


sehr gut

Die Autorin versetzt ihre Leser in das Buchenheimer Tal, eines der isolierten Bergtäler der nördlichen Alpen, in denen sich die Sprachgruppen der Ladiner bis heute erhalten konnte. Es ist der Autorin ein sichtbares Anliegen, nicht nur ein Zeitzeugnis zu erstellen, sondern v. a. auch die Kultur der Ladiner in diesem Buch zu verewigen. So flicht sie ein ladinisches Kinderlied in ihren Text ein, und man erfährt einiges über die Mythologie des ladinischen Raumes.
Im Mittelpunkt steht aber der Weg der Maddalena Decassian, die sich aus der Enge und Aussichtslosigkeit einer streng patriarchalisch geprägten Gesellschaft aus eigener Kraft lösen kann. Das Leben im Buchenheimer Tal, in das Maddalena hineingeboren wird, ist geprägt von täglicher harter körperlicher Arbeit, von Entbehrungen, Kargheit, Armut und ständigem Hunger. Aber auch von Kirchenhörigkeit und Kinderreichtum, sodass die Ankunft eines Neugeborenen oft dazu führt, dass eines der älteren Kinder weggegeben werden muss. Das Leben der Frauen ist, so die Autorin grundsätzlich fremdbestimmt durch Mann bzw. Ehemann; der Wert einer Frau bemisst sich in ihrer Arbeitskraft, und sie ist Übergriffen jedweder Art hilf- und rechtlos ausgesetzt. Hier und auch an anderen Stellen setzt die Autorin auf kräftige schwarz-weiße Kontraste; ein differenzierteres Bild hätte mir besser gefallen.
Maddalena hatte sich eine Ausbildung zur Hebamme am Klinikum Innsbruck erkämpft und wandert nun, viele Jahre später dorthin zurück. Auf diesem Weg erfahren wir Stück ihr Stück ihre Lebensgeschichte. Sehr schön und geschmeidig gelingt es der Autorin aber, Maddalenas Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden, bis sich die beiden Zeitebenen schließlich verbinden und der eigentliche Sinn der Wanderung deutlich wird. Zugleich nutzt die Autorin die Gelegenheit, die Entmündigung der Frauen durch eine männlich dominierte Medizin oder auch, sehr deutlich, die oft prekäre Lage der weggegebenen Kinder darzustellen.
Die Geschichte der Maddalena fließt ruhig vor sich hin, so wie sie beim Wandern ihre Füße bedächtig einen vor den anderen setzt. Die Liebe der Autorin zu ihrer Herkunft zeigt sich nicht nur in den ladinischen Zitaten, sondern auch in den schönen Naturbeschreibungen des Buchenheimer Tals und der Dolomiten. Es bleibt allerdings unklar, wieso der Schriftsatz auf die üblichen Kennzeichen der wörtlichen Rede verzichtet und damit den Lesefluss immer wieder erschwert bzw. unterbricht.
Ein ladinisches Glossar beschließt den Text. Ein kleiner Ausblick auf das Leben der historischen Maddalena hätte den Roman sehr schön abgerundet!

Bewertung vom 07.11.2024
Einfach mal Wild
Kintrup, Martin

Einfach mal Wild


ausgezeichnet

Mein Lese-Eindruck:

Wir wohnen auf dem Lande und essen immer wieder Wild – und ich koche gerne und ambitioniert. Ein strenger Blick auf ein neues Kochbuch ist also garantiert 😊! Kintrups Kochbuch gefällt mir allein schon optisch mit dem jagdgrünen Cover und dem stilisierten röhrenden Hirsch. Und der Inhalt?
Die Rezepte kümmern sich um alle hiesigen Wildarten, vom Hirsch angefangen bis zur Wildtaube. Jede Rezeptseite ist übersichtlich aufgebaut: auf einer Seite das Rezept, gegenüber ein anschauliches und appetitanregendes Bild. Jedes Rezept enthält oben einen kleinen Info-Kasten über die Anzahl der Portionen, die Arbeitszeit und die komplette Zubereitungszeit. Das Rezept selber ist eindeutig beschrieben, und es orientiert sich erfreulicherweise an der Abfolge der Arbeitsschritte, sodass man nichts übersehen kann. Einfach der Reihe nach abarbeiten! Dazu wird, wenn nötig, die Kerntemperatur angegeben Ich habe drei Rezepte und eine der Füllungen nachgekocht und kann bestätigen: es kann nichts schiefgehen! Und last but not least: geschmeckt hat es auch noch.
Was mir sehr gut gefällt: Kintrup kümmert sich auch um die Reste, roh oder schon gegart, und setzt hier traditionelle Rezepte z. B. aus der Hack-Küche um.
Über die reinen Wildgerichte hinaus bietet das Buch auch zusätzliche Rezepte für Beilagen, die man problemlos in andere Menus integrieren kann. Sehr schön, gerade für Anfänger, sind auch die Seiten mit Rezepten für Würzbutter, Marinaden, Suppeneinlagen und dergleichen „Nebenwerk“.
Das Kochbuch richtet sich sichtlich an Anfänger und will die Hemmschwelle vor der Wildküche beseitigen. Das dürfte ihm gelingen!
Fazit: eine Fülle an Kochideen, klare und überwiegend einfach Rezepte, tolle Bilder.

Bewertung vom 25.10.2024
Von Norden rollt ein Donner
Thielemann, Markus

Von Norden rollt ein Donner


sehr gut

Jannes, 19, ist Schäfer. Seine Familie betreibt seit Generationen einen Schäferhof in der Lüneburger Heide. Romantische Vorstellungen eines naturverbundenen und idyllischen Lebens lässt der Autor jedoch gar nicht erst aufkommen. Der Leser trifft auf ein eher düsteres Szenario. Der Hof liegt nämlich in der Hörweite eines Truppenübungsplatzes der Bundeswehr und in der Nähe des ehemaligen KZs Bergen-Belsen. Die düstere Anfangsstimmung wird verstärkt durch den Donner eines aufziehenden Gewitters.

Auf dem Hof leben mehrere Generationen ein eher bescheidenes, vergnügungsarmes Leben, das von täglicher Sorge um die Tiere und harter Arbeit in der Natur gekennzeichnet ist. Die Familie hat finanzielle Probleme und lädt daher zu Hofführungen ein, auch das Fernsehen ist zu Gast, dennoch nehmen die finanziellen Probleme nicht ab.

Eine neue Bedrohung taucht zunehmend stärker auf: der Wolf ist zurück. Mit der Romantisierung des Wolfes habe ich persönlich noch nie viel anfangen können, weil ich die Klagen der Viehbauern in meiner Heimat im Ohr habe. Auch Jannes‘ Familie befindet sich in dem Spagat zwischen den Naturschützern, die die Auswilderung der Wölfe unterstützen, und den Bauern, die Einbußen an ihrer Herde zu verkraften haben und diese Bedrohung ihrer Existenz ohne die Unterstützung der Politik meistern müssen.

Sehr schön konterkariert der Autor die tägliche Arbeit der Familie mit den Vorstellungen der städtischen Besucher, die das Leben mit den Tieren in der Natur als Idylle wahrnehmen. Der Autor gönnt seinem Leser zwar sehr schöne Beschreibungen der kargen Südheide, aber von Anfang stellt er klar, dass die Idylle trügt. Mit jeder Heideromantik a la Hermann Löns und mit jeder Verklärung von Traditionen, von Heimat und Natur räumt der Autor gründlichst auf.

Sehr gut gefallen hat mir auch, wie der Autor die Übernahme der aufgelassenen Höfe durch völkisch angehauchte Siedler beschreibt: eine Bewegung, die nicht nur in der Lüneburger Heide zu beobachten ist. Und beobachtet werden sollte. Mit dem Namen „Röder“ leistet sich Thielemann ebenfalls einen zwar versteckten, aber eindeutigen Verweis. Röder ist der nicht nur der Name eines rechtsextremen Zeitgenossen namens Manfred Röder, sondern der Name verweist auch auf den üblen Nazi-Richter gleichen Namens, der u. a. Dietrich Bonhoeffer in den Tod schickte, der aber in allen Ehren und mit einer schönen staatlichen Pension sein Leben beschließen durfte. Die Wahl des Namens ist sicherlich beabsichtigt. Ein kleiner, aber effektvoller Hinweis auf den gefährlichen braunen Sumpf, der nach wie vor unter einer friedlichen Oberfläche lauert.

Schleichend kommt eine weitere Bedrohung auf Jannes zu, die wie die Wölfe auch zunächst unsichtbar ist, sich aber zunehmend konkretisiert. Jannes wird von unklaren Ängsten und schließlich auch Visionen gequält, und seine Ängste verbinden sich schließlich mit Ereignissen rund um das Frauen-KZ Bergen-Belsen, um die in der Familie eine Mauer des Schweigens errichtet worden war. Hier fragt man sich als Leser allerdings, ob die Aufdeckung dieser verdrängten Ereignisse nicht auch ohne Jannes‘ Visionen möglich gewesen wäre; das Ende des Romans wirkt dadurch recht überzogen.

Trotz dieser Einschränkung besticht Thielemanns grundlegende Idee: unter einer zur Idylle erklärten Oberfläche bewegen sich dunkle und auch grausame Mächte, denen er Autor die Metapher des Wolfes zuordnet. Dieses Böse ist nicht greifbar und wird nie konkret gesichtet, aber es ist präsent und kann jederzeit hervorbrechen.

Fazit: Ein lesenswerter, bildstarker Roman über die Zusammenhänge der individuellen Geschichte mit der Zeitgeschichte, um Verdrängung und um das, was Heimat eigentlich ist.

Bewertung vom 24.10.2024
Tokio Express
Matsumoto, Seich_

Tokio Express


ausgezeichnet

An einem bei Liebespaaren beliebten Strand werden zwei Leichen gefunden, nebeneinander liegend und beide mit Zyankali vergiftet: Ganz klar: ein Doppelselbstmord aus Liebe. Nur dem örtlichen Kommissar Torigai fällt eine kleine Unstimmigkeit auf, die ihm keine Ruhe lässt. Weil beide Toten aus Tokio stammen, wird auch die dortige Polizei eingeschaltet, und hier ist es der Kommissar Mihara, der ähnlich wie Torigai an die Theorie des Selbstmords nicht recht glauben will. Immerhin ist der männliche Tote der Untergebene eines Ministerialbeamten, gegen den gerade wegen Korruption ermittelt wird.

Entscheidend für den Gang der Ermittlungen ist die Pünktlichkeit der Züge. Wären die Züge nicht auf die Minute pünktlich, würde der Plot nicht funktionieren. Es ist nämlich ein kleines Zeitfenster von nur vier Minuten, das die Ermittlungen in Gang setzt. Die Ermittlungen gestalten sich schwierig, sie sind wie in jedem old-school-Krimi mit viel Gedankenarbeit und logischem Denken verbunden. Mihara hat dennoch immer wieder das Gefühl, an eine unüberwindliche Mauer zu stoßen, weil seine Vermutungen nicht stimmen oder seine Prämissen unzutreffend waren. Der Autor lässt seinen Leser an den Überlegungen teilnehmen; allerdings muss ich gestehen, dass ich nicht jeden der vielen Zugpläne aus dem Kursbuch gedanklich begleitet habe. Umso mehr muss man die Findigkeit des Autors und seiner Ermittler bewundern, die aus den vielen rätselhaften Fakten schließlich die Wahrheit herausfiltern. Ein komplizierter Fall!

Die sachlich-nüchterne Art des Erzählens mag nicht jedem Leser liegen. Matsumoto verschont seine Leser mit Emotionen und mit Ausbrüchen welcher Art auch immer. Seine Figuren verhalten sich dementsprechend, sie gehen stets höflich und respektvoll miteinander um – wie wohltuend! In aller Ruhe geht die Handlung voran, bis sich schließlich die komplizierten Zusammenhänge klären.

Der Krimi erschien erstmals 1958 unter dem Titel „Spiel mit dem Fahrplan“ und wurde vom Kampa Verlag neu herausgegeben.

Nach wie vor sehr lesenswert!
4,5

Bewertung vom 20.10.2024
Zitronen (eBook, ePUB)
Fritsch, Valerie

Zitronen (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Es ist eine düstere Welt, in die der Leser versetzt wird. Ein kleines Dorf, abweisend, jeder der Bewohner lebt für sich, es gibt keine Gemeinschaft, und „der eine schlägt seinen Hund, der anderen seine Frau“. In diesem Dorf lebt die Familie Drach, abgelegen, in einem windschiefen und ungepflegten Haus – und in diesem Haus geht es noch düsterer zu als außerhalb. August Drach, der Protagonist, erlebt dort eine Kindheit, die an Düsterkeit und Einsamkeit schwer zu überbieten ist.

Der Vater ist ein unzufriedener Choleriker, der seine Familie tyrannisiert und seinen kleinen Sohn mit unberechenbarer Gewalt und täglichen Demütigungen klein hält, während seine Frau Lilly sich in Traumwelten flüchtet. Sie erwacht aber förmlich zum Leben, wenn sie das geprügelte und hilfsbedürftige Kind umsorgen kann. Als der Vater verschwindet, sorgt sie selber dafür, den Sohn krank zu halten und umsorgen zu können. Nach außen ist sie die fürsorgliche und aufopfernde Mutter, in Wirklichkeit aber führt sie den kränklichen Zustand des Kindes selber gezielt mit Gift und Medikamenten herbei. Sie leidet am sog. Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, das der Autorin offensichtlich vertraut ist und das sie mit Präzision und subtiler Beobachtung schildert.

Diese Gleichzeitigkeit von Grausamkeit und Fürsorge, von Gewalt und Zärtlichkeit erzählt die Autorin in einer nüchternen und distanzierten Sprache, die die erzählten Handlungen noch beklemmender macht. Sie verzichtet auf jede Dramatik, jede Larmoyanz, sie ergreift niemals Partei, sondern sie erzählt in einem fast chronikhaft anmutenden Stil, der durch beeindruckende Metaphern aufgebrochen wird. Dabei lässt sie die Erzählung langsam vorangehen und widmet sich jeder ihrer Figuren mit analytischer Genauigkeit, sodass bedrückende Bilder von Menschen entstehen, die in den „Verkarstungen“ ihrer Seele gefangen sind.

Einziger Lichtblick im buchstäblichen Sinn sind die Zitronen: ein leuchtender Fleck in der dunklen Geschichte. Die Autorin flicht das Symbol der Zitrone immer wieder ein, nie aufdringlich, aber immer aussagestark. Eine besondere Bedeutung kommt dem Symbol zu, als sie von einem Urlaub erzählt in dem Land, wo die Zitronen blühn. Lilly stehen ihre Gifte nicht zur Verfügung, und August blüht auf, er lebt. Das Bild der Zitronen, die „wie Sterne am dunklen Himmel standen“, begleitet ihn sein Leben. Allerdings auch die Säure bzw. die Bitterkeit dieses ambivalenten Symbols.

Fazit: Ein dunkler Roman über einen Menschen, dem es nicht gelingt, sich aus seinen anerzogenen Mustern zu lösen.
4,5/5*

Bewertung vom 19.10.2024
Der Steinacker
Jansson, Tove

Der Steinacker


ausgezeichnet

Jonas, ein pensionierter Journalist, soll im Ruhestand eine Biografie über Y schreiben. Jonas mag Y nicht, er bezeichnet ihn als „Dreckskerl“, weil er unachtsam mit der Sprache umgegangen sei und sie für billige und sentimentale Themen missbraucht habe. Für Jonas dagegen kann ein Wort eine Waffe sein, es kann Spuren hinterlassen, aber er muss erleben, dass sich seine Worte im Lauf seiner Berufsjahre abgenutzt haben.

Seine Töchter erkennen seine Situation und laden ihn in ihr gemietetes Sommerhaus auf einer Schäre ein. Jonas wohnt direkt am Wasser, aber die Probleme mit Y bleiben bestehen. Aber im Unterschied zu früher lernt er hier die Freundlichkeit seiner Mitmenschen kennen. Da ist der Nachbar, der ihm Alkohol besorgt und ihm das Angeln als Stresslöser anbietet, oder der Nachbarsjunge, der ihm seinen Aufsatz vorliest. Vor allem sind seine Töchter da, die es ihm das fehlende Familienleben in ihrer Kindheit nicht nachtragen.

In der Nähe des Sommerhauses befindet sich ein Steinacker, eine lokale Sehenswürdigkeit, und an diesem Steinacker arbeitet Jonas sich nun ab. Er empfindet den Steinacker, einen unfruchtbaren und abweisenden Ort, als Bild für sein Leben und sein Scheitern: konkret für sein Scheitern beim Schreiben der Biographie und erst recht für sein Scheitern als Ehemann und Vater, das ihm nun deutlich wird. Das Bewegen der Steine macht ihm seine Vereinzelung deutlich, aber setzt auch eine Veränderung in ihm in Gang.

Tove Janssons Sprache hat die Eigenschaften, die Jonas ersehnt: sie ist klar und eindeutig, auf das Wesentliche beschränkt und gerade deswegen so ausdrucksstark. Die Autorin beobachtet ihre Mitmenschen und deren Verhalten sehr genau, aber ihr Blick ist in diesem kleinen Roman wieder der neugierige, eher versöhnliche Blick auf einen Mitmenschen, der nicht unbedingt ein Sympathieträger ist. Sie wertet nicht und verurteilt auch nicht, so wie es auch Jonas‘ Töchter nicht tun. „Wir haben Zeit“, sagt eine der Töchter, und diese Zeit gibt die Autorin auch ihrer Figur, um ihre Vergangenheit zu klären und die familiäre Gemeinschaft zuzulassen.

Bewertung vom 15.10.2024
Dorf ohne Franz
Dolovai, Verena

Dorf ohne Franz


sehr gut

Der kleine Roman versetzt uns in ein österreichisches Dorf in den 60er Jahren. Hier wächst Maria, die Ich-Erzählerin, auf einem kleinen Bauernhof auf. Sie ist das mittlere von drei Kindern und als einzige Tochter für beide Eltern nur als Arbeitskraft von Interesse. Sie verzichtet notariell auf ihr Erbteil, und so erhält Josef, der ältere Sohn, den Hof und den Grundbesitz. Franz ist als Nesthäkchen der Liebling seiner Mutter; er lässt sich auszahlen und verlässt das Dorf. Erst spät erkennt Maria den Grund für seinen Wegzug. Franz ist homosexuell und entzieht sich den starren Normen und den Rollenzuweisungen des Dorfes.

Die Erzählerin bleibt eng an ihrer Protagonistin und zeichnet ein desillusionierendes Bild des ländlichen Lebens. Maria lässt sich widerspruchslos in starre patriarchalische und sehr raue Strukturen einordnen. Eine Ausbildung bleibt ihr verwehrt, weil die Eltern den Nutzen einer Tochter ausschließlich in der Haus- und Hofarbeit sowie in dem sehen, was man heute Care-Arbeit nennt.

Bei der Partnersuche zeigt sich ihr anerzogener Sinn fürs Wirtschaftliche und Praktische, aber sie wird bitter enttäuscht. Immer wieder taucht Franz, der abwesende Bruder in ihren Gedanken auf, und Maria erkennt zunehmend, dass Franz ein selbstbestimmtes Leben lebt und sich von den strengen Rollenzuweisungen befreit hat. Insofern ist der Titel „Dorf ohne Franz“ zugleich ein Programm: Franz ist gerade wegen seiner Abwesenheit der Katalysator für Marias Entwicklung. Maria wagt schließlich auch den Schritt in die Selbstbestimmtheit, aber hier verschwimmt der Roman, das Ende ist allzu offen und unrealistisch.

Das Besondere an dem Roman ist weniger der illusionslose Blick auf das dörfliche Leben und seine traditionellen Rollenerwartungen, sondern die Sprache der Autorin. So karg wie Marias Leben ist auch die Sprache, mit der sie in beklemmender Nüchternheit ihr Leben erzählt. Mit dieser nüchternen und einfach gehaltenen Sprache wirkt die Protagonistin beklemmend authentisch.

Bewertung vom 10.10.2024
Das Lied eines Mörders
Calaciura, Giosuè

Das Lied eines Mörders


sehr gut

Mein Hör-Eindruck:

Ein Blick in eine andere Welt! Der große Monolog eines Mörders, gerichtet an seinen Richter.

Der namenlose Angeklagte erzählt die Geschichte der Mafia. Er beginnt seine Erzählung mit der großen Armut im Süden Italiens, die auch durch noch so großen persönlichen Fleiß nicht geändert werden, und von den sozialen Ungerechtigkeiten. Er erzählt von den Menschen, die von der Landespolitik vergessen worden waren und die auch in der Kirche keine Fürsprecher finden konnten, da die Kirche schon immer auf der Seite der Mächtigen stand. Die kriminellen Handlungen begannen eher kleinräumig mit dem Ausrauben von Touristen. Sehr schnell wurde Kriminalität zu einem Geschäftsmodell und der Mafioso ein Geschäftsmann, der genau seinen Platz in einem straff organisierten System wusste. Das „Geschäft“ wurde vielseitiger: der Kleindiebstahl war nicht mehr interessant, bald ging es um Menschenschmuggel, Auftragsmorde, Erpessung und schließlich auch um die Goldgrube des Drogenhandels. Sehr anschaulich erzählt der Namenlose von der schleichenden Infiltrierung der wirtschaftlichen Strukturen, der staatlichen Verwaltung und vor allem der Justiz, sodass die mafiosen Geschäfte auch von Gefängniszellen aus organisiert werden können. Damit zusammen hängen die blutigen und grausamen Kämpfe rivalisierender Familien und ebenso blutige Säuberungskampagnen, durch die die Machtverhältnisse neu festgelegt werden.

„Das Lied eines Mörders“ wird tatsächlich wie ein Lied vorgetragen, in einer ausgesprochen metaphernreichen, fast lyrischen Sprache. Hier spricht ein gebildeter Mann, der über den abendländischen Bildungskanon verfügt, der z. B. die griechische Mythologie kennt und erstaunliche historische Kenntnisse besitzt. Seine Sprache ist gewählt, flüssig, rhetorisch geschickt. Spricht so ein Mörder? Ich hatte Probleme mit der Authentizität des Protagonisten.

Der Sprecher des Hörbuchs macht das Hören zu einem Erlebnis. Michael-Che Koch verfügt über eine wendige und geschulte Stimme, mit der er den Text nicht nur vorliest, sondern gestaltet. Vor allem bei den ständigen Wiederholungen der Anrede „Signor Giudice“ fallen ihm unendlich viele Varianten ein, mit denen er den Text zugleich interpretiert. Und das Hören zu einem spannenden Vergnügen macht.

Bewertung vom 02.10.2024
Fast wie ein Bruder
Sulzer, Alain Claude

Fast wie ein Bruder


ausgezeichnet

Mein Lese-Eindruck:
Ein Mann - Kameramann, 65 Jahre alt und wohnt mit seiner Frau in Südfrankreich - erinnert sich an seine Jugend. Zwei Familien ziehen gleichzeitig in ein Bochumer Mietshaus ein, die Eltern freunden sich an, und die beiden gleichaltrigen Söhne, Frank und der Erzähler, werden unzertrennlich. Die Beziehung wird enger durch den fast gleichzeitigen Krebstod der beiden Mütter.
In der Pubertät der Jungen lockert sich die Freundschaft, als Frank von einer Ausstellung Sigmar Polkes derart fasziniert ist, dass er Künstler werden und damit einen Lebensweg einschlagen will, der dem eher pragmatischen Ich-Erzähler völlig fremd ist. Die Beziehung lockert sich weiter, als Frank ein erzwungenes Coming-out als homosexuell erleiden muss, und dass auch noch mit einem jungen Roma. Eine beklemmende Szene, die die ganzen Vorurteile und Verklemmungen der 70er Jahre deutlich macht. Noch viele Jahre später, in der Jetzt-Zeit, erinnert sich der Erzähler an den massiven sozialen Druck und die Ausgrenzung, dem ab nun Frank und sein Vater ausgesetzt sind. „Frank war der Stoff, an dem man seine schmutzigen Vorstellungen abwischen konnte“. All das führt schließlich zum Verlassen der Stadt.
Franks Werke werden nach seinem Tod von seinem Jugendfreund eingelagert und nicht beachtet, Frank selber wird vergessen – bis eines Tages in Berlin eine gefeierte Ausstellung mit den Werken des genialen Künstlers „f“ seinen Freund aufrüttelt. Er ist verwirrt. Wie kommen die eingelagerten Werke nach Berlin? Die Frage bleibt offen, der Autor lässt sich nicht ins Krimi-Genre hineinzwingen. Ihm geht es nicht um den Diebstahl und die Entdeckung des Diebes.
Ihm geht es um andere, eher existenzielle Fragen, wie um die Vergänglichkeit, die die beiden „Brüder“ schon früh erleben müssen. Dem Ich-Erzähler bleibt die Homosexualität seines Freundes fremd, und auch dessen Kunst steht er fremd und ignorant gegenüber. Aber diese Kunstwerke sind es, die ihm den Jugendfreund wieder nahebringen, und er erkennt schmerzlich seine eigene Begrenztheit.
Was kann Kunst? Sie kann die Vergänglichkeit überwinden, antwortet Sulzer, und so lässt er seinen Protagonisten auch die Bilder seines Jugendfreundes erleben: „Die Jahre, die seit der Entstehung dieser Bilder vergangen waren, hatten keine Spuren hinterlassen. Sie bezeugten ... die Gegenwart nicht weniger als die Vergangenheit.“ Nicht nur die Malerei überwindet die Zeit, sondern auch die Sprache: und genau das leisten diese Erinnerungen.
Sulzer erzählt diese Geschichte in seiner gewohnt unaufgeregten Sprache, wortsicher, klug, wohl überlegt und konzentriert, kein Wort zu viel und keines zu wenig. Gerade die Sparsamkeit seiner Sprache erschüttert den Leser, wenn er z. B. vom Sterben der vielen jungen Männer erzählt.

Ein gedankenreicher Roman, der aber merkwürdig abrupt endet.

4,5/5*