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dracoma
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LANDAU

Bewertungen

Insgesamt 179 Bewertungen
Bewertung vom 09.12.2024
Zauberberg 2
Strunk, Heinz

Zauberberg 2


ausgezeichnet

1914 wurde Thomas Manns „Der Zauberberg“ veröffentlicht, und 100 Jahre später erweist u. a. auch Strunk dem Meister seine Reverenz. Er hat seinen Zauberberg sehr genau gelesen, die Parallelen, teilweise auch Übernahmen sind deutlich. Man muss allerdings „Zauberberg 1“ nicht kennen, um trotzdem Strunks Roman zu folgen.
Strunk versetzt die Handlung kompromisslos in die Gegenwart und bedient damit wie Thomas Mann das Genre des Zeitromana. Das Sanatorium liegt an der polnischen Grenze, isoliert und fernab jedes menschlichen Getümmels, wie gehabt, und die Patienten sind nicht lungenkrank, sondern leiden an psychischen Problemen. Jonas Heidbrink, der Protagonist, begibt sich freiwillig dorthin und wird, wie Hans Castorp, im Lauf der Zeit von der Klinik aufgesogen, die Zeit verliert ihre Bedeutung, und die Außenwelt versinkt.
Der Klinikalltag ist eintönig und wird von merkwürdigen Behandlungen strukturiert, und hier zeigt sich schon Strunks Freude an der Übertreibung, am Sarkasmus oder auch an der ironischen Brechung seiner Vorlage. Auch die Mitpatienten sind ein Reigen skurriler Gestalten, jeder für sich isoliert, von Weltschmerz gebeutelt. Sehr originell fand ich die Figur des Mitpatienten Zeissner, mit dem Strunk die Figuren Settembrini und Naphta karikiert. Strunk lässt diesen Alles-Erklärer seine nur vordergründig philosophisch eingefärbten Monologe führen, die niemlas zum Ende und auch niemals zum Punkt kommen. Seine Sentenzen erinnern an billige Kalendersprüche und verstecken ihre Oberflächlichkeit hinter einem anspruchsvollen Vokabular.
Und Strunk wäre nicht Strunk, wenn es nicht gelegentlich auch eklig zuginge.
Strunks Beobachtungsgabe ist so scharf wie sein Vokabular. Sein Blick auf seine Mitmenschen ist provokant, zugleich unbestechlich und ironisch bis hin zum Zynismus, aber zugleich sieht er auch das Menschliche in seinen Figuren. Diese eigenartige Mischung aus Mis- und Philanthropie zeigt sich auch in seinem unglaublichen Sprachwitz, der nie nur für sich dasteht, sondern immer verbunden ist mit einer Erkenntnis von Absurditäten des Lebens.
Das Hörbuch wird vom Autor selbst eingelesen. Strunks Lesung ist nicht mit der geschulten Stimme eines Schauspielers zu vergleichen; er haspelt und verhustet sich auch gelegentlich, aber das alles macht sein temporeiches Vorlesen sehr authentisch und letztlich zu einem Vergnügen.
4,5/5*

Bewertung vom 05.12.2024
Intermezzo (eBook, ePUB)
Rooney, Sally

Intermezzo (eBook, ePUB)


sehr gut

Mein Lese-Eindruck:
Zwei ungleiche Brüder stehen im Mittelpunkt. Peter, der Ältere, 32 Jahre, ist ein erfolgreicher Anwalt, liebt Frauen, Alkohol, Tabletten und Drogen – und Ivan, 10 Jahre jünger, ein introvertierter Nerd, der nach Abschluss seines Studiums von kleineren Jobs lebt und sich dem professionellen Schachspiel verschrieben hat. Die einzelnen Kapitel nehmen abwechselnd die jeweilige Perspektive ein. Und je nach Perspektive unterscheidet sich auch die Erzählweise.
Die Erzählweise ist es auch, die dem Leser Hürden aufbaut. Rooney schreibt abgehackt und wie atemlos: kurze Sätze, Satztrümmer, Auslassungen, kurze Einwürfe. Sie verzichtet auf Anführungszeichen, sodass sich der Leser immer wieder rückversichern muss, wer nun spricht bzw. ob überhaupt jemand spricht oder der Text nicht wieder in den endlos fließenden Gedankenstrom übergegangen ist. Diese Erzählweise wird in den Peter-Kapiteln auf die Spitze getrieben, während die Ivan-Kapitel um einiges ruhiger erzählt werden.
Hat man sich durch die ersten Kapitel durchgekämpft, entfaltet der Text einen ganz besonderen Sog. Die beiden unterschiedlichen Brüder kämpfen beide mit dem kürzlichen Tod des Vaters, der sie jedoch nicht näherbringt, sondern eher noch weiter entzweit. Beide sind zudem in belastete Beziehungen verstrickt. Rooney folgt minutiös ihren alltäglichen Kleinigkeiten und ihren Gedankengängen, und immer deutlicher wird, wie verletzt jede ihrer Figuren ist. Ein dichtes Psychogramm entsteht, fein gewebt, sprachlich teils schwierig, aber sehr eindrücklich.
Und noch eines wird zunehmend klarer: wie unsicher und entfremdet alle Figuren im zwischenmenschlichen Bereich sind. Sie stellen sich zwar alle über gesellschaftliche Konventionen, aber sie sind emotional vereinsamt und unsicher. Ständig wird das eigene Verhalten und auch das der anderen hinterfragt; jeder reflektiert in nicht endenden Gedankenströmen. Ebenso häufig werden Entschuldigungen vorgebracht und Rückversicherungen vom anderen erbeten. Dahinter steckt der große Wunsch nach Harmonie oder zumindest nach einer emotionalen Gemeinsamkeit mit dem anderen, die jedoch so fragil ist, dass sie ständig beschworen werden muss.
Hier zeigt Rooney eine erstaunlich scharfe Beobachtungsgabe, und es gibt dem Buch einen besonderen Strich, dass sie auch das Thema des Vergebens streift.

Bewertung vom 30.11.2024
Das Geheimnis der Weihnachtstage
Kitchin, C.H.B.

Das Geheimnis der Weihnachtstage


ausgezeichnet

Malcolm Warren, ein junger Londoner Börsenmakler, verbringt seine Weihnachtstage in Beresford Lodge, einem großzügigen Anwesen, das seinem Auftraggeber Mr. Quisberg gehört. Hier trifft er auf die Patchwork-Familie und auf Freunde Mr. Quisbergs, darunter eine der Töchter seiner Frau aus einer vorherigen Ehe und ihren dubiosen Möchte-Gern-Verlobten sowie einen befreundeten Arzt.

Der Leser wird in eine Zeit versetzt, in denen unsichtbare Dienstboten die profanen Dienste in Hof, Haus und vor allem der Küche erledigten und ein Trupp Gärtner sommers wie winters den Garten in Ordnung hält. Ein Diener bringt morgens den Tee ans Bett und später auch das Frühstück, wenn gewünscht. Außerdem ist er sofort zur Stelle, wenn man nur den Klingelzug betätigt. Familie und Gäste dagegen sind mit Spielen und Spaziergängen beschäftigt, um nicht in Langeweile zu verfallen.
Wie schön! Wie bequem! Zumindest für Familie und Gäste.

Diese Idylle wird getrübt durch spektakuläre Leichenfunde, und die Polizei ermittelt. Malcolm Warren hat nach dem Mord an seiner Tante eine gewisse Erfahrung mit Mordfällen und wird daher vom ermittelnden Inspektor in die Polizeiarbeit eingebunden, erst recht, weil er die Mordfälle entdeckt hatte.

Nun entspinnt sich eine lange Gedankenkette in Malcolms Kopf. Er ermittelt nicht systematisch, denn seine Stärke liegt seiner Meinung nach nicht in der Sichtung und Analyse von Beweisen, sondern in psychologischen Schlussfolgerungen.

Der Inspektor ist jedoch auch nicht auf den Kopf gefallen. Er verbindet seine eigenen Beobachtungen mit Malcolms Schlussfolgerungen und zerrt schließlich gnadenlos die unschönen Wahrheiten der Familie ans Licht.
Eine originelle Idee hat der Autor am Schluss, wenn er den fiktiven Leser in ein klärendes Zwiegespräch mit seinem Protagonisten Malcolm verwickelt.

Ein liebenswerter Krimi, der in bester Agatha-Christie-Tradition den Mord mit Logik und geistiger Flexibilität löst. Er macht neugierig auf weitere Werke des Autors.
4,5/5*

Bewertung vom 26.11.2024
Aufbruch nach Artimé / Wächter der Magie Bd.1
McMann, Lisa

Aufbruch nach Artimé / Wächter der Magie Bd.1


ausgezeichnet

Einer unserer kleinen Mitbewohner gehört zur Zielgruppe: K. ist 11 Jahre alt und ein begeisterter Leser. Also haben wir das Buch beide gelesen. K. liebt Bücher mit magischem Inhalt und hat das Buch zügig gelesen, obwohl es, wie er meinte, streckenweise langweilig war.

Der düstere, grausame Beginn des Buches hat ihn sehr beeindruckt. Das Land Quill, in dem Menschen in Nützlichkeitskategorien eingeteilt werden und in dem Eltern die Tötung ihrer Kinder zulassen und sogar befördern – das hat ihn emotional beschäftigt. Umso erleichterter war K., als er wie die Protagonisten in der freundlichen Kunstwelt Artimé ankam, in der Kreativität und persönliche Eigenheiten sogar gefördert werden. Und da er gerne schnitzt, hätte er sich vom Magus ein Schnitzmesser und eine Werkbank herzaubern lassen.

Gut gefallen hat ihm auch, dass jedes Kind sich seinen individuellen Zauber basteln konnte, je nach seinen Stärken und Vorlieben. Weniger gut gefallen hat ihm allerdings dass dieser Zauber überwiegend zur Waffenherstellung genutzt wird. Das kriegerische Aufeinandertreffen der beiden Welten fand er nicht gut. „Wieso reden die denn nicht miteinander und machen was aus?“, meinte er. Man sollte Kinder nicht unterschätzen...Zudem fand er, dass einige Kampfszenen zu ausführlich geschildert wurden.

Welche Figur war K. am sympathischsten? Er musste überlegen. Auf alle Fälle der Magus, der Mitleid mit den Kindern hat und ihnen eine bunte, fröhliche Welt zaubert. Zu Alex, dem Protagonisten, entwickelte er eine eher ambivalente Haltung. Wie ich auch, verstand K. nicht recht, wieso Alex, der seinen geliebten Zwillingsbruder Aaron zurücklassen musste, in seinem Trennungsschmerz keine Zuwendung findet. Trotzdem hätte Alex den Magus trotzdem nicht hintergehen dürfen mit seinem Türzauber, meinte K., aber auf der anderen Seite gefiel ihm Alex wegen seines Muts und seiner Geschwisterliebe, obwohl Aaron das nicht verdient hätte.

Vielleicht bringen die Folgebände eine Entwicklung der Charaktere? K würde ihn gerne lesen.
3,5/5*

Bewertung vom 25.11.2024
Wir finden Mörder Bd.1 (2 MP3-CDs)
Osman, Richard

Wir finden Mörder Bd.1 (2 MP3-CDs)


sehr gut

Richard Osmans Schreibstil ist unnachahmlich. Flüssig und eingängig, und dazu mit einer besonderen Prise an Ironie und teils auch makabrem Humor erzählt er seine Geschichten, ohne aber jemals flapsig oder nachlässig zu werden. Dazu kommt seine Vorliebe für eigenwilliges, um nicht zu sagen schrulliges Personal. Dieser Vorliebe, die der Leser aus dem Donnerstagsmordclub kennt, bleibt er hier treu.
Im Mittelpunkt stehen Amy, eine Personenschützerin, und ihr Schwiegervater Steve, der um nichts in der Welt auf seinen wöchentlichen Quizabend im Pub verzichten will. Dazu gesellt sich Amys derzeitige Auftraggeberin Rosy, eine schrille und extravagante ältere Schriftstellerin. Mit Hilfe von Rosies Millionen können die Ermittlungen problemlos über mehrere Kontinente ausgedehnt werden.
Hat man die ersten Kapitel überstanden und die Vielzahl an Personen sortiert, kann man das Hörbuch genießen. Der Einstieg wird einem nicht leicht gemacht. Dazu trägt auch der Episodenstil bei mit den vielen Perspektivenwechseln, der den Leser dazu auffordert, die nicht erzählten Leerstellen zu schließen.
Der Episodenstil hat jedoch den Vorzug, dass der Autor sich gerade liebevoll einzelnen Szenen, z. B. Dialogszenen widmen kann, in denen er das Skurrile der Situation herausarbeiten kann. Das sind Szenen, die auch den Sprechern liegen, wenn sie mit Betonungen oder leichten Verzögerungen das Hintergründig-Ironische greifbar lassen werden.
4,5/5*

Bewertung vom 24.11.2024
Vierundsiebzig
Othmann, Ronya

Vierundsiebzig


gut

2023 sorgte ein Prozess in München für großes öffentliches Aufsehen. Eine deutsche Islamistin wurde schuldig gesprochen, den Tod eines 5jährigen jesidischen Mädchens, mit ihrer Mutter verschleppt und versklavt, bewusst in Kauf genommen zu haben. Mit dem Prozess und dem Schuldspruch rückte die grausame Verfolgung der Jesiden, einer kurdischen Minderheit, durch das IS-Kalifat in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit.

Die Autorin ist in Deutschland aufgewachsen als Tochter eines jesidischen Vaters, der aber ein sog. Abtrünniger ist, weil er sich aus den strengen, fast archaischen und reformfeindlichen Konventionen dieser Glaubensgemeinschaft gelöst hat. Die Identifikation mit dem Jesidentum ist der Autorin selber auch unerklärbar: „Ich bin es, und ich bin es nicht“, sagt sie.

Ein Fernsehbericht über den Genozid im August rüttelt sie auf. Sie recherchiert von Deutschland aus, und sie reist schließlich in die unruhigen kurdischen Grenzgebiete in Syrien, dem Irak und der Türkei. Sie trifft Flüchtlinge, sie besucht zerstörte Dörfer, Massengräber, Museen, sie fotografiert und dokumentiert minutiös auch kleinste Beobachtungen. Sie besucht aber auch die Rückkehrer, die nach dem Sieg der kurdischen Truppen auch den Jesiden die Rückkehr ermöglichten. Vor allem aber besucht sie die weitläufige Familie ihres Vaters, bei denen sie immer wieder als Kind ihre Sommerferien verbracht hat, und dokumentiert ihre Vertreibungsgeschichte. Mit ihren Erinnerungen ergänzt sie ihre Recherche-Ergebnisse. Hier macht sie jedoch eine Entdeckung, die aber nur kurz anklingt: Auch ihre Familie ist der Nutznießer eines anderen Genozids, von dem niemand mehr spricht, nämlich des Genozids an den Armeniern.

Das Buch bietet keine durchgängige Erzählung, sondern besteht eher aus Fragmenten, die die Autorin montiert. Mit diesen Fragmenten und der punktuellen Darstellung von Einzelschicksalen fügt sich der Leser ein Bild zusammen von den Grausamkeiten, denen die Jesiden unter der IS-Besatzung ausgesetzt waren. Zu Recht weist die Autorin darauf hin, dass der Schrecken noch nicht beendet ist und in syrischen Lagern noch viele verschleppte und versklavte Frauen vermutet werden.

Der Autorin ist das Problem der sprachlichen Gestaltung ihrer Fragmente sehr wohl bewusst. Sehr häufig überlegt sie, wie sie das Unfassbare beschreiben bzw. erzählen soll. Sie entscheidet sich für einen fragmentarischen, abgehackten Stil, mit vielen wortwörtlichen Wiederholungen, bei denen vor allem die in Endlosschleife wiederkehrenden Anaphern zunehmend meine Geduld strapazierten. Ebenso strapaziös fand ich die langwierigen Aufzählungen von Objekten, denen keine weitere Bedeutung zukam.

Interessanter fand ich dagegen ihre poetologischen Überlegungen. Die Autorin beobachtet sich selber und erkennt ihre steigende Identifizierung mit dem Jesidentum, um aber gleichzeitig wieder von dessen archaischen Konventionen (Ablehnung von Bildung, Schriftlichkeit und Selbstbestimmung, Kastenwesen etc.) abgeschreckt zu werden.

Das Buch ist ohne Zweifel wichtig. Als Roman hat es mich aber nicht überzeugt.

Bewertung vom 23.11.2024
Das Fest
Fricke, Lucy

Das Fest


ausgezeichnet

Ein runder Geburtstag macht einen immer etwas nachdenklicher, und je runder die Geburtstage werden, umso heftiger können die melancholischen Attacken sein. Jakob, der Protagonist, wird 50. Kein Alter, könnte man sagen, da wartet noch so viel auf einen, das Leben braust noch! Aber Jakob sieht das anders. Er blickt auf ein Leben voller Niederlagen zurück. Beruflich, amourös und überhaupt: er steckt seiner Ansicht nach in einer nicht endenden Flaute. Er steckt fest in Selbstmitleid und Zukunftspessimismus.

Seine Freundin Ellen sieht das anders, und mit ihrem Geburtstagsgeschenk, einer Badehose, führt sie Jakob in einen ganz besonderen Tagesverlauf. Im Laufe des Tages begegnet Jakob nämlich einigen Menschen, die eine wichtige Rolle in seinem Leben spielten. Erinnerungen werden in Jakob wach, und er erkennt mit einer ganz besonderen Mischung aus Dankbarkeit und Demut, wie diese Menschen ihn geformt und sein Leben beeinflusst haben. Und allmählich ändert sich seine Einstellung. Das Leben hat ihn versehrt, das ja, und das wird an seinen verschiedenen Verletzungen auch sichtbar, aber dennoch hebt sich seine Stimmung. Nicht nur dieser besondere Geburtstag, sondern sein Leben ist nun für ihn „Das Fest“.

Die Geschichte ist, realistisch betrachtet, eher unwahrscheinlich. Aber sie hat einen Charme, dem sich der Hörer, auch dank Bettina Hoppes perfektem Vorlesen, nicht entziehen kann. Der Optimismus und die Lebenszugewandtheit der Erzählung sind wohltuend, und die Kernbotschaft finde ich wunderbar: der reflektierende Rückblick auf ein gutes Leben zeigt weniger die äußeren Erfolge, sondern zeigt die Beziehungen zu Menschen, die einen eine Zeitlang begleitet und unterschiedlich geformt haben. Jakob empfindet Dankbarkeit. Seine Verhärtung bricht auf, er schaut wieder hoffnungsfroh in die Zukunft.

Dieses eigentlich schwergewichtige Thema erzählt die Autorin leicht, voller Verständnis für ihre Figuren, mit Humor und auch Ironie, und in jeder der Begegnungen sieht man ihre eigene Lebensklugheit und Menschenfreundlichkeit.

Bewertung vom 22.11.2024
Maddalena geht (eBook, ePUB)
Weiß, Margit

Maddalena geht (eBook, ePUB)


sehr gut

Die Autorin versetzt ihre Leser in das Buchenheimer Tal, eines der isolierten Bergtäler der nördlichen Alpen, in denen sich die Sprachgruppen der Ladiner bis heute erhalten konnte. Es ist der Autorin ein sichtbares Anliegen, nicht nur ein Zeitzeugnis zu erstellen, sondern v. a. auch die Kultur der Ladiner in diesem Buch zu verewigen. So flicht sie ein ladinisches Kinderlied in ihren Text ein, und man erfährt einiges über die Mythologie des ladinischen Raumes.
Im Mittelpunkt steht aber der Weg der Maddalena Decassian, die sich aus der Enge und Aussichtslosigkeit einer streng patriarchalisch geprägten Gesellschaft aus eigener Kraft lösen kann. Das Leben im Buchenheimer Tal, in das Maddalena hineingeboren wird, ist geprägt von täglicher harter körperlicher Arbeit, von Entbehrungen, Kargheit, Armut und ständigem Hunger. Aber auch von Kirchenhörigkeit und Kinderreichtum, sodass die Ankunft eines Neugeborenen oft dazu führt, dass eines der älteren Kinder weggegeben werden muss. Das Leben der Frauen ist, so die Autorin grundsätzlich fremdbestimmt durch Mann bzw. Ehemann; der Wert einer Frau bemisst sich in ihrer Arbeitskraft, und sie ist Übergriffen jedweder Art hilf- und rechtlos ausgesetzt. Hier und auch an anderen Stellen setzt die Autorin auf kräftige schwarz-weiße Kontraste; ein differenzierteres Bild hätte mir besser gefallen.
Maddalena hatte sich eine Ausbildung zur Hebamme am Klinikum Innsbruck erkämpft und wandert nun, viele Jahre später dorthin zurück. Auf diesem Weg erfahren wir Stück ihr Stück ihre Lebensgeschichte. Sehr schön und geschmeidig gelingt es der Autorin aber, Maddalenas Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden, bis sich die beiden Zeitebenen schließlich verbinden und der eigentliche Sinn der Wanderung deutlich wird. Zugleich nutzt die Autorin die Gelegenheit, die Entmündigung der Frauen durch eine männlich dominierte Medizin oder auch, sehr deutlich, die oft prekäre Lage der weggegebenen Kinder darzustellen.
Die Geschichte der Maddalena fließt ruhig vor sich hin, so wie sie beim Wandern ihre Füße bedächtig einen vor den anderen setzt. Die Liebe der Autorin zu ihrer Herkunft zeigt sich nicht nur in den ladinischen Zitaten, sondern auch in den schönen Naturbeschreibungen des Buchenheimer Tals und der Dolomiten. Es bleibt allerdings unklar, wieso der Schriftsatz auf die üblichen Kennzeichen der wörtlichen Rede verzichtet und damit den Lesefluss immer wieder erschwert bzw. unterbricht.
Ein ladinisches Glossar beschließt den Text. Ein kleiner Ausblick auf das Leben der historischen Maddalena hätte den Roman sehr schön abgerundet!

Bewertung vom 07.11.2024
Einfach mal Wild
Kintrup, Martin

Einfach mal Wild


ausgezeichnet

Mein Lese-Eindruck:

Wir wohnen auf dem Lande und essen immer wieder Wild – und ich koche gerne und ambitioniert. Ein strenger Blick auf ein neues Kochbuch ist also garantiert 😊! Kintrups Kochbuch gefällt mir allein schon optisch mit dem jagdgrünen Cover und dem stilisierten röhrenden Hirsch. Und der Inhalt?
Die Rezepte kümmern sich um alle hiesigen Wildarten, vom Hirsch angefangen bis zur Wildtaube. Jede Rezeptseite ist übersichtlich aufgebaut: auf einer Seite das Rezept, gegenüber ein anschauliches und appetitanregendes Bild. Jedes Rezept enthält oben einen kleinen Info-Kasten über die Anzahl der Portionen, die Arbeitszeit und die komplette Zubereitungszeit. Das Rezept selber ist eindeutig beschrieben, und es orientiert sich erfreulicherweise an der Abfolge der Arbeitsschritte, sodass man nichts übersehen kann. Einfach der Reihe nach abarbeiten! Dazu wird, wenn nötig, die Kerntemperatur angegeben Ich habe drei Rezepte und eine der Füllungen nachgekocht und kann bestätigen: es kann nichts schiefgehen! Und last but not least: geschmeckt hat es auch noch.
Was mir sehr gut gefällt: Kintrup kümmert sich auch um die Reste, roh oder schon gegart, und setzt hier traditionelle Rezepte z. B. aus der Hack-Küche um.
Über die reinen Wildgerichte hinaus bietet das Buch auch zusätzliche Rezepte für Beilagen, die man problemlos in andere Menus integrieren kann. Sehr schön, gerade für Anfänger, sind auch die Seiten mit Rezepten für Würzbutter, Marinaden, Suppeneinlagen und dergleichen „Nebenwerk“.
Das Kochbuch richtet sich sichtlich an Anfänger und will die Hemmschwelle vor der Wildküche beseitigen. Das dürfte ihm gelingen!
Fazit: eine Fülle an Kochideen, klare und überwiegend einfach Rezepte, tolle Bilder.

Bewertung vom 25.10.2024
Von Norden rollt ein Donner
Thielemann, Markus

Von Norden rollt ein Donner


sehr gut

Jannes, 19, ist Schäfer. Seine Familie betreibt seit Generationen einen Schäferhof in der Lüneburger Heide. Romantische Vorstellungen eines naturverbundenen und idyllischen Lebens lässt der Autor jedoch gar nicht erst aufkommen. Der Leser trifft auf ein eher düsteres Szenario. Der Hof liegt nämlich in der Hörweite eines Truppenübungsplatzes der Bundeswehr und in der Nähe des ehemaligen KZs Bergen-Belsen. Die düstere Anfangsstimmung wird verstärkt durch den Donner eines aufziehenden Gewitters.

Auf dem Hof leben mehrere Generationen ein eher bescheidenes, vergnügungsarmes Leben, das von täglicher Sorge um die Tiere und harter Arbeit in der Natur gekennzeichnet ist. Die Familie hat finanzielle Probleme und lädt daher zu Hofführungen ein, auch das Fernsehen ist zu Gast, dennoch nehmen die finanziellen Probleme nicht ab.

Eine neue Bedrohung taucht zunehmend stärker auf: der Wolf ist zurück. Mit der Romantisierung des Wolfes habe ich persönlich noch nie viel anfangen können, weil ich die Klagen der Viehbauern in meiner Heimat im Ohr habe. Auch Jannes‘ Familie befindet sich in dem Spagat zwischen den Naturschützern, die die Auswilderung der Wölfe unterstützen, und den Bauern, die Einbußen an ihrer Herde zu verkraften haben und diese Bedrohung ihrer Existenz ohne die Unterstützung der Politik meistern müssen.

Sehr schön konterkariert der Autor die tägliche Arbeit der Familie mit den Vorstellungen der städtischen Besucher, die das Leben mit den Tieren in der Natur als Idylle wahrnehmen. Der Autor gönnt seinem Leser zwar sehr schöne Beschreibungen der kargen Südheide, aber von Anfang stellt er klar, dass die Idylle trügt. Mit jeder Heideromantik a la Hermann Löns und mit jeder Verklärung von Traditionen, von Heimat und Natur räumt der Autor gründlichst auf.

Sehr gut gefallen hat mir auch, wie der Autor die Übernahme der aufgelassenen Höfe durch völkisch angehauchte Siedler beschreibt: eine Bewegung, die nicht nur in der Lüneburger Heide zu beobachten ist. Und beobachtet werden sollte. Mit dem Namen „Röder“ leistet sich Thielemann ebenfalls einen zwar versteckten, aber eindeutigen Verweis. Röder ist der nicht nur der Name eines rechtsextremen Zeitgenossen namens Manfred Röder, sondern der Name verweist auch auf den üblen Nazi-Richter gleichen Namens, der u. a. Dietrich Bonhoeffer in den Tod schickte, der aber in allen Ehren und mit einer schönen staatlichen Pension sein Leben beschließen durfte. Die Wahl des Namens ist sicherlich beabsichtigt. Ein kleiner, aber effektvoller Hinweis auf den gefährlichen braunen Sumpf, der nach wie vor unter einer friedlichen Oberfläche lauert.

Schleichend kommt eine weitere Bedrohung auf Jannes zu, die wie die Wölfe auch zunächst unsichtbar ist, sich aber zunehmend konkretisiert. Jannes wird von unklaren Ängsten und schließlich auch Visionen gequält, und seine Ängste verbinden sich schließlich mit Ereignissen rund um das Frauen-KZ Bergen-Belsen, um die in der Familie eine Mauer des Schweigens errichtet worden war. Hier fragt man sich als Leser allerdings, ob die Aufdeckung dieser verdrängten Ereignisse nicht auch ohne Jannes‘ Visionen möglich gewesen wäre; das Ende des Romans wirkt dadurch recht überzogen.

Trotz dieser Einschränkung besticht Thielemanns grundlegende Idee: unter einer zur Idylle erklärten Oberfläche bewegen sich dunkle und auch grausame Mächte, denen er Autor die Metapher des Wolfes zuordnet. Dieses Böse ist nicht greifbar und wird nie konkret gesichtet, aber es ist präsent und kann jederzeit hervorbrechen.

Fazit: Ein lesenswerter, bildstarker Roman über die Zusammenhänge der individuellen Geschichte mit der Zeitgeschichte, um Verdrängung und um das, was Heimat eigentlich ist.