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Benutzername: 
dracoma
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LANDAU

Bewertungen

Insgesamt 150 Bewertungen
Bewertung vom 19.07.2024
Das Lied des Propheten
Lynch, Paul

Das Lied des Propheten


ausgezeichnet

Lynch, Das Lied des Propheten

Regierungswechsel in Irland, und die NAP, eine nationalistisch orientierte Partei, trägt den Wahlsieg davon. In rasantem Tempo setzt die Regierung nun die Mittel ein, die eine rechtslastige, faschistoide Regierung hat. So wird die ordentliche Gesetzgebung ausgeschaltet und durch Notverordnungen ersetzt, die Grundrechte werden beschnitten bzw. abgeschafft, Zensur, Geheimpolizei, willkürliche Verhaftungen, Ausgangssperren, Ausschaltung politischer Gegner, Sippenhaft und so fort. Das ist kein neues Szenario; die Geschichte, auch die Zeitgeschichte, bieten hinreichend Beispiele.

Die Regierung bzw. die Partei bleibt als dunkle, nicht greifbare Macht im Hintergrund. Der Autor rückt stattdessen eine Familie in den Mittelpunkt und zeigt, welche Auswirkungen der politische Rechtsruck auf diese Familie hat. Der Roman startet mit dem Verschwinden des Vaters, eines führenden Gewerkschaftlers, und es bleibt nun Sache seiner Frau Eilish, einer Wissenschaftlerin, ihre vier Kinder und ihren Vater durch das Chaos zu bringen und ihre Familie zu schützen. Der Familie droht die äußere und innere Zertrümmerung, wie es das Cover eindringlich zeigt. Eilish ist zunächst noch ungläubig, aber sie verliert sehr schnell das Vertrauen in einen Rechtsstaat. Es muss erst zum Äußersten kommen, bis sie sich zur Rettung ihrer Kinder durch die Flucht entschließt.

Eilishs steigende Angst und Panik zeigen sich sprachlich sehr eindrucksvoll. Die schnelle Abfolge der Sätze, die teilweise ohne Punkt und Komma ineinander übergehen, der Verzicht auf Anführungszeichen, die Atemlosigkeit der Sprache – das alles wirkt provozierend und macht das Lesen nicht einfach, aber der Autor schafft damit eine ungemein dichte Atmosphäre, die den Leser aufrüttelt.
Zugegeben: einige Metaphern fand ich zu gewollt, zu konstruiert – aber das tut der Botschaft dieses Romans keinen Abbruch: dem leidenschaftlichen Appell, die Demokratie zu schützen.

Bewertung vom 16.07.2024
Die sieben Federn des Papageis
Biegel, Paul

Die sieben Federn des Papageis


ausgezeichnet

Ein zauberhaftes kleines Märchen! Paul Biegel greift tief in die Motivkiste traditioneller Märchen hinein und fügt sie neu zusammen.

Ein Geschwisterpaar sucht den Vater, der von der Nebelkönigin entführt worden ist und nur durch sieben bunte Federn eines exotischen Papageis befreit werden kann. Und so beginnt die lange Reise der Kinder, auf der sie Gefahren und Prüfungen bestehen müssen und auf der sie auf viele Helferfiguren treffen. Die magische Zahl Sieben, Zauberkräfte und wiederkehrende Sprüche, Wahrsage-Träume, ein Zauberwald und Wesen aus einer anderen Welt bestimmen die Abenteuer-Reise.
Und wie schön: die Nebelkönigin ist nicht böse, sondern wünscht sich mit den Federn nur etwas Farbe in ihrem grau-weißen Leben.
Die Kinder beweisen Mut und Durchhaltewillen, sie lassen sich von einem Rückschlag nicht verunsichern, sie erleben Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Und eine schöne Wendung zum Schluss: nur die Kinder haben Zugang zu der magisch-mythischen Welt der Naturgeister.

Die traumhaft schönen Illustrationen von Linde Faas sind auch für den erwachsenen Vorleser ein Genuss. Durch die Kleinschrittigkeit des Erzählens ist das Buch auch für Kindergarten-Kinder geeignet.
4,5/5*

Bewertung vom 08.07.2024
Solito
Zamora, Javier

Solito


ausgezeichnet

El Salvador 1999: Korruption, eine nicht funktionierende Justiz, wirtschaftliche Probleme. Armut, Alkoholismus und vor allem Gewalt, wohin man sieht, im staatlichen und im familiären Bereich: mit den Augen eines Kindes beschreibt Zamora in Episoden, oft nur in Nebensätzen die Welt, in der er groß geworden ist. Seine Eltern sind illegal in die USA eingewandert, und so bleibt ihnen auch nur der illegale Weg, ihren Sohn nachzuholen. Der 9jährige Javier begibt sich auf den Weg, der sich als lebensgefährliche Route entpuppt, und nach über 20 Jahren ist er nun in der Lage, die traumatische Geschichte seiner wochenlangen Flucht zu erzählen.

Javiers Geschichte ist beeindruckend. Er erlebt ein Höchstmaß an Einsamkeit, Angst und Hilflosigkeit, und er erkennt selber, dass er nun seine Kindheit hinter sich lässt. Er erlebt aber auch die selbstlose Zuwendung von Menschen, die vor allem bei der tödlichen Durchquerung der Sonora-Wüste sein Überleben ermöglichen.

Auch die Weise, wie Zamora seine Geschichte erzählt, ist beeindruckend. Er bleibt streng bei der Perspektive des Kindes. Dadurch entstehen Leerstellen, die er der Phantasie des Lesers überlässt und der dadurch z. B. zur grausigen Überzeugung kommt, dass außer Javier und seinen drei Begleitern niemand aus dem Treck die Durchquerung der lebensfeindlichen Sonora-Wüste überlebt hat. Durch eine meist parataktische, eher einfache Sprache ahmt er den Sprechduktus des Kindes nach und verleiht dem Erzählten eine beklemmende Authentizität – und die wird wiederum gesteigert durch kindliche Erinnerungen an Tiere, an das Aussehen der Pflanzen, an Gerüche und Geschmäcke. Es ist erstaunlich, mit welcher Intensität Zamora sich an Geschmäcker, an Gerüche, an das Aussehen von Pflanzen etc. erinnert, an das Aussehen, die Gesten und die Sprache anderer Menschen. Hier zeigt Zamora seine Sprachkunst: jedes Wort und jeder Satz sitzt, alles ist durchdacht, und auch anrührende Stellen werden in einer kunstvollen sprachlichen Verhaltenheit erzählt, ohne in Sentimentalität und Larmoyanz abzurutschen.

Zur Authentizität gehört auch die ständige Verwendung spanischer Begriffe. Das Nachschlagen im Glossar bremste den Lesefluss sehr, aber der Kunstgriff hat seine Funktion. Das erzählende Kind vergewissert sich damit seiner Herkunft und seiner Heimatsprache. Und der erzählende Autor geht einen Schritt weiter: er versetzt seinen Leser damit in die Rolle eines Migranten und lässt ihn die sprachlichen Barrieren selber erleben, denen ein Migrant ausgesetzt ist. Damit werden die Einsprengsel über die Frage der Authentizität hinaus zu einem Symbol für die Heimatlosigkeit dieser Menschen bzw. für den Verlust ihrer alten Welt.

Insgesamt ein ungemein beeindruckendes Lese-Erlebnis, das den Blick weitet!

Bewertung vom 07.07.2024
Janes Roman
Cusset, Catherine

Janes Roman


gut

„Teufelskreis aus Zurückweisung ... und Misstrauen“

Der Roman fängt seine Leser ein mit einer Situation, die aus einem Krimi stammen könnte: eine junge Frau, Jane, erhält ein geheimnisvolles Paket, eine Absenderangabe fehlt. Was enthält das Paket? Ein Manuskript, und in diesem Manuskript erkennt Jane mit wachsender Bestürzung und Beunruhigung die genaue Beschreibung ihres Lebens. Das Rätselraten beginnt: wer ist der Verfasser oder die Verfasserin? Wer kennt die Details ihres Lebens so genau?

Die Handlung spielt sich nun auf zwei Zeitebenen ab. Die Vergangenheit des Manuskripts wird immer wieder unterbrochen durch die Erzählung der Gegenwart. Die Erzählerin greift aus der Gegenwart schlaglichtartig einzelne Szenen heraus, von denen aus sie in die Vergangenheit zurückgreift oder aber diesen Rückgriff dem Leser überlässt.

So entsteht allmählich ein Bild der Protagonistin. Sie hat wenig Empathie, und daher lacht sie über die falschen Dinge und kränkt ihre Freunde mit Taktlosigkeiten. Zunächst ist sie offensichtlich Anhängerin der Libertinage und wünscht keine feste Bindung, und hier bietet der Roman Gespräche über einige Sexszenen an, deren Genauigkeit nicht notwendig gewesen wäre; ein Erzähler kann der Phantasie seines Lesers getrost vertrauen. Auf der anderen Seite leidet Jane aber heftig unter der Trennung von ihrem Mann, einem überirdisch schönen Menschen. Sie klammert, kann nicht loslassen und kann sich auch nach Jahren nicht auf die neue Situation einstellen.
Ihre Liebesdinge werden ergänzt mit der Schilderung ihrer akademischen Karriere; ein interessanter Einblick in die gänzlich andere Welt des US-amerikanischen Universitätsbetriebes. Jane erlebt sie als stark konkurrenzorientiert, sie misstraut ihren Kollegen und erkennt zu spät die Notwendigkeit einer guten Vernetzung.

Hat man die Schilderung des Liebeslebens überstanden, baut das Buch kontinuierlich Spannung auf, dem man sich als Leser nicht mehr entziehen kann – bis hin zu einem unerwarteten und witzig konstruiertem Ende.

3,5/5*

Bewertung vom 04.07.2024
Das Dorf der acht Gräber / Kosuke Kindaichi ermittelt Bd.3 (eBook, ePUB)
Yokomizo, Seishi

Das Dorf der acht Gräber / Kosuke Kindaichi ermittelt Bd.3 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Mein Hör-Eindruck:

Ein junger Mann, Tatsuya, erfährt, dass er der einzige Erbe einer reichen Familie auf dem Lande ist und reist ins Gebirge in das Dorf Acht Gräber, um sein Erbe zu übernehmen. Hinter dem ungewöhnlichen Namen des Dorfes versteckt sich eine blutige und gruselige Geschichte um ermordete Samurais und einen Fluch, den sie über das Dorf verhängt hatten.

Tatsuya trifft auf ein abgelegenes Dorf, wo seine Familie in einem mächtigen Anwesen residiert. Als Leser bzw. Hörer taucht man ein in die fremde Welt des vorindustriellen ländlichen Japan und lernt die Sitten und Gebräuche dieser Welt kennen. Das Dorf ist geprägt durch traditionelle Sozial- und Besitzstrukturen, die nicht hinterfragt werden und daher unangetastet bleiben. Und es ist geprägt durch religiöse bzw. abergläubische Vorstellungen, durch Vorurteile und Ängste einer einfachen Bevölkerung, die in Zusammenhang mit der legendenhaften Vorgeschichte der Samurais und eines weiteren Massakers stehen.

Tatsuya gerät nun in eine neue Mordserie, in der er selber bald der Verdächtige ist. Stück für Stück entdeckt er seine eigene grausame Familiengeschichte und die unheilvolle Verflechtung mit den Morden. Bei der Aufdeckung der Morde greift der Autor tief in die Wunderkiste mit märchenhaften Motiven: da gibt es ein geheimnisvolles Amulett, es gibt verrätselte Karten, ein unterirdisches Höhlensystem, Giftkapseln, Familienaltäre, einen vergrabenen Schatz, eine Falltüre, Geheimgänge, versteckte Briefe und so fort – und aus all diesen Zutaten webt der Autor einen bunten und spannenden Roman, bei dem der Leser zusammen mit Tatsuya immer wieder auf falsche Fährten gelockt wird, aber letzten Endes doch den Bösewicht entlarvt. Der schrullige und geniale Ermittler Kosuke Kondaichi taucht erst gegen Schluss auf und fügt die vielen Einzelteile zu einem stimmigen Ergebnis zusammen.

Bei spannenden Stellen macht es sich der Autor leicht: da greift er in seine Kiste mit den Stereotypen. Da klappern die Zähne, die Haare stehen zu Berge, der Schweiß bricht aus wahlweise im Nacken oder am Rücken, die Zunge ist gelähmt, die Nackenhaare sträuben sich etc. Diese Stereotypen sind Versatzstücke, die in wechselnden Kombinationen verwendet werden, und gerade weil ihre Verwendung so durchsichtig ist, wirken sie eher erheiternd als langweilig.

Der Sprecher Dennis Moschitto trägt die Geschichte mit einer immer unaufgeregten Stimme vor, die sehr gut zur japanischen Mentalität des Gleichmutes passt. Trotzdem hatte man als Hörer keine Probleme, in Dialogen die verschiedenen Sprecher zu unterscheiden. Moschitto liest zügig und sinnbetont; ein Vergnügen!
4,5/5*

Bewertung vom 02.07.2024
Ein sanfter Mann
Appelbe, Uwe

Ein sanfter Mann


gut

Das Buch besticht mit seinem schönen Cover: Caspar David Friedrichs Gemälde „Ein Mönch am Meer“. Die romantisch-existenzialistische Schwermut dieses Bildes gibt die Grundstimmung des Buches vor, das mit einem Paukenschlag beginnt: dem Sekundentod der jungen Ruth Sander. Renè, ihr Mann, stürzt in eine Lebenskrise. Die psychische Situation des Protagonisten wird sehr einfühlsam erzählt: sein Allein-Sein, seine Sinnsuche, das Beschwören alter Erinnerungen und die „Gespenster der Nacht“, die ihn heimsuchen.

Die sieben Kapitel des Buches handeln von seinen Versuchen, seinem Leben wieder Sinn zu geben. Der Autor entwirft eine Art Road Movie, in dem der Protagonist unterschiedlichen Menschen begegnet, die alle eines gemeinsam haben: ihr Leben verläuft nicht wie erwartet und erwünscht, sie alle sind einsame Existenzen, fühlen sich nirgendwo beheimatet und setzen sich über bürgerlich-moralische Vorstellungen hinweg. Sie alle leiden unter Verlusten und stehen dem Leben illusionslos gegenüber. So entstehen teilweise bizarre Szenen, deren Sinnhaftigkeit der Leser nicht immer folgen kann bzw. will. Der Schluss aber ist ein Hoffnungsschimmer in all dem Elend: Renè konsolidiert sich beruflich.

Unbestritten: der Autor kann erzählen. Er wechselt souverän immer wieder die Erzählinstanz und vermittelt dem Leser dadurch eine gewisse Nähe zu den anderen Figuren. Trotzdem wirken die Personen wie auch ihre Handlungen teilweise eher konstruiert. Viele Motive klingen an und bleiben isoliert wie z. B. die Neigung zur Gewalt bei Renè, seine pädophilen Träume und dergleichen. Immer wieder aber gelingen dem Autor sehr schöne kleine Bilder, etwa wenn Renè eine Blüte vom Boden aufhebt und damit zeigt, dass er seine Isolation beenden und sich wieder dem Leben zuwenden will.
Seine Sprache habe ich als wendig und elegant erlebt. Allein schon deshalb hätte ich seinem Buch ein sorgfältigeres Lektorat hinsichtlich Rechtschreibung/Grammatik gewünscht.

3,5/5*

Bewertung vom 29.06.2024
Das deutsche Alibi
Hoffmann, Ruth

Das deutsche Alibi


ausgezeichnet

Geschichte ist eben nicht einfach Geschichte, sondern Geschichte wird gemacht! So die Historikerin Frauke Geyken. Ruth Hoffmann zeichnet nach, wie die deutsche Geschichte in der Nachkriegszeit „gemacht“ wurde und welche Rolle das Attentat vom 20. Juli darin spielte. Es geht also nicht in erster Linie um das Attentat, sondern um dessen Instrumentalisierung im Umgang mit den Verbrechen der nationalsozialistischen Vergangenheit. Und damit geht es um den Umgang mit der eigenen Geschichte und um Vergangenheitsbewältigung.

Kein Ruhmesblatt! In der Bewertung des 20. Juli zeigen sich peinlich deutlich die Interessenlagen der Bundesrepublik und der konservativen Parteien. Eines der ersten Gesetze, die der neu geschaffene Bundesrat in seiner erst 7. Sitzung verabschiedete, sicherte die Amnestie für ehemalige Nationalsozialisten, egal ob „Mitläufer oder Massenmörder“. Im Fortgang der Entwicklung zeigte sich immer deutlicher, dass die Täter wieder in Amt und Funktionen gesetzt wurden, während die Opfer das Nachsehen hatten.

In diesem „Großprojekt kollektiver Selbsttäuschung“, wie Hoffmann das nennt, war für eine Würdigung des Widerstands kein Platz; schließlich wäre damit deutlich geworden, dass jeder die Möglichkeit zu einem anderen Handeln gehabt hätte. Stattdessen wurde die Vorstellung eines moralisch integren Volkes gepflegt, das von einer Verbrecherbande verführt worden war. Widerstand wurde daher als Hoch- und Landesverrat bewertet, und es ist erst dem hartnäckigen Staatsanwalt Fritz Bauer zu verdanken, der in einem Aufsehen erregenden Prozess 1952 erreichte, dass das Dritte Reich zum Unrechtsstaat und der Widerstand damit als legitim erklärt wurde. Ein noch lange umstrittenes Urteil.

In der Folge zeigt Ruth Hoffmann, wie das Attentat z. B. dazu diente, die Wiederbewaffnung der Republik zu fördern und die Wehrmachtsoffiziere wieder einzugliedern. Oder wie es benutzt wurde, um den Vorwurf der Kollektivschuld zurückzuweisen und abzulenken von der historisch längst bewiesenen Tatsache, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten ohne eine breite Beteiligung der Deutschen nicht möglich gewesen waren. Oder wie es im Kalten Krieg nützlich zur Abgrenzung gegen den Osten war. Zugleich diente es dazu, den kommunistischen und sozialdemokratischen Widerstand nicht wahrzunehmen, sondern zu verteufeln und keinesfalls zu würdigen. Und das Attentat wurde innenpolitisch missbraucht und diente der neuen Etablierung der alten Eliten und der Diffamierung von Sozialdemokraten und Kommunisten als „vaterlandslose Gesellen“.

Auch in anderen Bereichen weist Ruth Hoffmann präzise nach, wie die Ergebnisse der historischen Forschung zum Widerstand entweder negiert oder auf den ideologischen Tagesgebrauch zurechtgeschnitten werden Dies betrifft v. a. die Ära Kohl, und hier verlässt die Autorin immer wieder ihren grundsätzlich sachlichen Ton. Sie ist deutlich empört, und als Leser kann man ihre Empörung nur teilen. Und sich selber darüber Gedanken machen, wieso das Wort „Widerstand“ und Vergleiche mit den Scholl-Geschwistern bei den sog. Querdenkern wieder auftauchen.

Insgesamt ein aufwühlendes Buch, spannend und kurzweilig, keine Sekunde langweilig, und zugleich der Versuch, die Vereinnahmung des Widerstands durch konservative Interessen zu beenden. Ruth Hoffmann wertet den versuchten Staatsstreich nicht ab, sondern sie bewertet ihn neu: als Überwindung idelogischer und sozialer Grenzen und Fokussierung auf ein gemeinsames Ziel. Ein „leuchtendes Beispiel“ für „die Bereitschaft zu Toleranz und Kompromiss.“

Bewertung vom 28.06.2024
Stummer Schrei / Eva Nyman ermittelt Bd.1 (eBook, ePUB)
Dahl, Arne

Stummer Schrei / Eva Nyman ermittelt Bd.1 (eBook, ePUB)


sehr gut

Mein Hör-Eindruck:

Ein temporeicher Beginn: ein Mord an dem Leiter eines Stahlkonzerns, dann eine Bombe in einer Werbeagentur, die für umweltschädigende Ölkonzerne tätig ist - und beide Male ein Bekennerschreiben, hinter dem offensichtlich ein rabiater Klimaschützer steckt und das weitere Attentate ankündigt. Die Bekennerschreiben richten sich direkt an Eva Nyman, eine Sonderermittlerin der Stockholmer Polizei.

Eva Nyman ist die neue Ermittlerfigur, die Arne Dahl in den Mittelpunkt einer neuen Krimi-Serie rückt. Er stellt sie in diesem Auftakt-Band als besonnene Polizistin vor, die stets ein Augenmerk auf ihre Leute und deren Wohlergehen hat. Sie ist tüchtig, gliedert sich auch in neue Teams problemlos ein, sie arbeitet effizient und ist entscheidungsstark: eine sympathische Figur. Gelegentlich fallen Andeutungen über ihre nicht problemfreie Vergangenheit, die wohl Stoff liefert für die Folge-Bände.

Um Eva Nyman herum gruppiert der Autor vier weitere Figuren, auch sie mit menschlichen Macken, aber alle teamfähig. Es gelingt dem Autor schnell, seinen Figuren ein Gesicht und einen Charakter zu verleihen und sie damit dem Leser nahezubringen.

Kein Zweifel: Hier erzählt ein Profi! Alle Figuren haben einen hohen Wiedererkennungswert. Die Handlung wird zwar zunehmend komplizierter, aber der Autor behält alle Fäden souverän in der Hand. Er führt seine Kommissarin und damit auch seine Leser gelegentlich auf falsche Fährten, bis er schließlich alle Handlungsfäden entwirrt und die Lösung präsentiert. Dabei steigert er die Spannung kontinuierlich bis hin zu einem dramatischen Show-down.

Der Schwerpunkt liegt auf der psychologisch orientierten Ermittlungsarbeit, und daher nimmt die Wiedergabe von Verhör-Dialogen einen breiten Raum ein. Und daher wird in diesem Krimi auch viel „gespürt“: immer wieder wird gespürt, dass man beobachtet wird, dass man etwas übersehen hat, ein Lebewesen in der Nähe ist und dergleichen.

Auch das Pathos, das der Autor wiederholt an den Tag legt, ist nicht jedermanns Geschmack. Nicht nur die Helden-Diskussion gegen Ende, sondern auch ein Blick in die Augen ist dann der Blick in die Urzeit des Universums und in die Menschheitsgeschichte, und folgerichtig ist die fehlende Sensibilität für „das Mysterium der Existenz“ und den damit verbundenen Schauder auch ein Scheidungsgrund. Wie gesagt: nicht jedermanns Geschmack.

Insgesamt aber ein routiniert erzählter Krimi, spannend bis zum Schluss, mit einer überzeugenden neuen Ermittlerfigur. All das macht neugierig auf den Folgeband!

Bewertung vom 16.06.2024
Ungleich vereint (MP3-Download)
Mau, Steffen

Ungleich vereint (MP3-Download)


ausgezeichnet

Mein Hör-Eindruck:

Steffen Mau legt mit diesem Hörbuch einen Essay vor, der sich mit einem Thema befasst, das alle angeht: Wie sieht 35 Jahre nach dem Mauerfall das Verhältnis Ost-West aus? Ist es tatsächlich so, dass der Westen die Norm ist und der Osten eine Abweichung von der Norm, mit gewissen Anpassungsschwierigkeiten? Dass also der Westen den Osten erfindet?

Diese These vertritt Dirk Oschmann, und Mau möchte den Diskurs neu ordnen und stellt plakativ seine eigene These vor: Der Osten wird nicht vom Westen erfunden, sondern die Bundesländer der ehemaligen DDR haben tatsächlich ihre eigenen Strukturen – soziokulturell, politisch, demografisch und wirtschaftlich. Um das Fazit vorwegzunehmen: die meisten Spannungen, die sich in den Ost-Bundesländern beobachten lassen, stammen aus der DDR-Zeit und konnten aus verschiedenen Gründen bei der Transformation nicht gelöst werden.

Mau beobachtet das Thema in einem sauber strukturierten Essay, und die Komplexität des Themas zeigt sich an den wiederholten Querverweisen. Seine Ausführungen sind auch für den soziologischen Laien immer verständlich.

Eine Vielzahl von Faktoren prägt, so Mau, die ostdeutsche Identität. Als westdeutscher Leser lernt man, dass man mit schnellen Urteilen und Schuldzuschreibungen den Problemen nicht gerecht wird. Wieder einmal zeigt es sich: die Vergangenheit bestimmt die Gegenwart, und die Geschichtsvergessenheit unserer Tage führt zu verhärteten Verwerfungen.

Besonders genau schaut Mau beim Demokratieverständnis hin. Die DDR wurde geschluckt, die westlichen Institutionen wurden einfach transferiert, ostdeutsche Impulse zur Neugestaltung wurden nicht beachtet – und damit wurden die Menschen ein zweites Mal entmündigt und nicht demokratisch aktiviert. In diese Lücke schiebt sich nach Maus Auffassung die AfD hinein; an diesem Punkt holt Mau zu einem Exkurs aus nicht nur über die Gefahr des schleichend wachsenden Rechtspopulismus, sondern auch über die aktuellen Wahlen. Dieser Blick auf die Tagespolitik führt einerseits vom Thema fort, aber andererseits ist es Mau ein Anliegen, die konkreten Auswirkungen seiner Thesen zur Diskussion zu stellen.

Mau bleibt aber nicht bei der Diagnose stehen, sondern bietet auch eine Therapie. Er erinnert daran, dass der ostdeutsche Wunsch nach einer direkten Demokratie mit plebiszitären Elementen, wie er sich in den Straßendemonstrationen gezeigt hatte, bei der Transformation nicht berücksichtigt wurde. Daher schlägt er neue Möglichkeiten der politischen Partizipation vor: die Bürgerräte. In solchen Bürgerräten sieht er die Möglichkeit, die Bevölkerung an der politischen Willensbildung teilhaben zu lassen und damit den Populismus rechtsextremer Parteien einzudämmen. Eine faszinierende Idee, die in Pilotprojekten umgesetzt werden sollte!

Fazit: Eine differenzierte Bestandsaufnahme, augenöffnend, anregend und wohltuend sachlich!

Bewertung vom 15.06.2024
Ein Zimmer für sich allein
Woolf, Virginia

Ein Zimmer für sich allein


ausgezeichnet

"Um gut schreiben zu können, muss man intensiv leben."

Hätte Shakespeare eine Schwester gehabt, begabt wie er – wie wäre es ihr ergangen? Einer Frau ohne Schulbildung, wie es für untere Stände im elisabethanischen Zeitalter üblich war? Sie bringt sich um. Und schon ist Virginia Woolf bei ihrem Thema, nämlich der Überlegung, welcher Zusammenhang zwischen der Ausbildung eines Talentes oder Genies und den äußeren Lebensbedingungen besteht.

Virginia Woolfs Essay ist jetzt fast 100 Jahre alt, aber hat nichts Verstaubtes an sich. Sie versteht es, ihre Botschaft in anschauliche Bilder zu verpacken und kurzweilig zu präsentieren. Ich bin sicher, ihre Zuhörerinnen im Jahr 1928 hörten ihr genau so gebannt zu wie ich heute der Sprecherin!

Virginia Woolf erzählt von einer fiktiven Figur Mary, in der man unschwer ihr Alter Ego erkennt. Mary besucht ein College für Männer, und dort darf den Rasen nicht betreten, weil sie eine Frau ist, und auch die Bibliothek wird ihr als Frau nur geöffnet mit einem Empfehlungsschreiben. Und sehr anschaulich beschreibt sie das leckere Mittagessen, das dort serviert wird. Anschließend besucht sie ein neugegründetes Frauen-College, das finanziell wesentlich schlechter ausgestattet ist und wo das Mittagessen auch wesentlich ärmlicher ausfällt. Warum ist das so? Warum sind Frauen arm? Welche Auswirkungen hat das auf ihren Geist? Warum wird ihre Arbeit so anders bewertet als die von Männern? Mary unternimmt einen Spaziergang und zugleich einen amüsanten und kurzweiligen Spaziergang durch die Kulturgeschichte des weiblichen Schreibens. Dabei erkennt sie, dass intellektuelle Freiheit immer von wirtschaftlichen Faktoren abhängig war. Sie sieht aber auch die inneren Auswirkungen. Wer nicht frei von Hass und Bitterkeit ist, kann keinen freien Geist entwickeln, und Einbildungskraft und Genie können sich nicht entfalten.

Und so erklärt sich der Titel: Gebt Frauen also 500 Pfund pro Jahr, ein eigenes Zimmer und ein Schloss an der Tür!
Das sind eigentlich Kampfthesen, aber Virginia Woolf erzählt sie so leichtfüßig, so anschaulich und unverkrampft, dass die Lektüre noch heute lohnend ist.

Sandra Voss, die Sprecherin dieses Hörbuchs, trifft genau diesen unaufgeregten, aber trotzdem kritischen und zugleich eleganten Sprechduktus, den ich mir bei Virginia Woolf vorgestellt hätte.