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dracoma
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LANDAU

Bewertungen

Insgesamt 192 Bewertungen
Bewertung vom 01.04.2025
Ginsterburg
Frank, Arno

Ginsterburg


sehr gut

Die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit kam in Deutschland nur zögerlich in Gang. Kaum zu glauben, dass erst jetzt eine Dissertation den Umgang des bayerischen Justizministeriums mit seinen belasteten Juristen ins Visier nimmt und ihn als „vergangenheitspolitische Fehlleistung“ und „Versagen“ bezeichnet.
Arno Frank geht einen anderen Weg. Er wirft drei grelle Schlaglichter auf eine fiktive Kleinstadt und einige ihrer ausgewählten Bewohner, und zwar zu geschickt ausgewählten Zeitpunkten. Einmal 1935, das Jahr, in dem die Herrschaft der Nationalsozialisten gesichert war und die Nürnberger Rassegesetze erlassen wurden – dann 1940: Deutschland befindet sich im Krieg, die Luftschlacht um England beginnt – und schließlich 1945: der Zusammenbruch.
Arno Frank beschränkt sich auf die Erzählung des Alltäglichen. Somit wird beklemmend deutlich, wie sich der braune Sumpf schleichend und fast unmerklich ausbreitet, wie er den Alltag erobert und zur Normalität wird. Der Autor verzichtet auf einen moralischen Zeigefinger oder eine Schuldzuweisung, sondern zeigt an seinen Figuren die unterschiedlichen Motive auf. Da sind die Karrieristen und Opportunisten, die in den neuen Verhältnissen Möglichkeiten zum Aufstieg sehen. Dazu kommen die Mitläufer, die nicht gegen den Strom schwimmen wollen oder können und sich anbiedern. Andere wiederum genießen die neu gewonnene Machtposition und damit auch die Chance zur Brutalität, und wieder andere nutzen die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Krieges aus. Fast alle aber nehmen die Opfer der Zeit – - jüdische Mitbürger, Kommunisten, Sinti/Roma – zwar wahr, aber sie sind sich einig darin, dass Ausgrenzungen und Säuberungen das eigene Gemeinwesen nur stärken können. Schleichend und eher leise als laut werden sie alle vom braunen Sumpf umspült, in dem sie schließlich untergehen werden. Und man ahnt es: keiner wird schuld gewesen sein.
Das alles erzählt Arno Frank in einer wunderbar flüssigen und sehr eingängigen Sprache, bildstark und unterstützt von zeitgenössischen Dokumenten. Er baut historische Personen in seinen Roman ein wie z. B. Erich Bachem oder Lothar Sieber; da wäre ein kurzes Nachwort sicher interessant gewesen. Einige Ungenauigkeiten haben mich gestört, u. a. scheinen Autor und Korrektor auf Kriegsfuß mit römischen Zahlen zu stehen. Gemessen am Gesamt sind das jedoch Petitessen, die zwar unschön sind, aber verblassen gegenüber der eigentlichen Aussage: Wehret den Anfängen. Da wir in einer Zeit leben, in der auch in unserem Land demokratische Institutionen ausgehöhlt werden, kommt dem Buch eine beklemmende Aktualität zu.

Bewertung vom 27.03.2025
Drei Tage im Juni
Tyler, Anne

Drei Tage im Juni


ausgezeichnet

Anne Tylers Romane spielen immer im Alltäglichen. Sie nimmt nicht die großen Dinge der Welt ins Visier, sondern es sind die kleinen, alltäglichen Dinge und damit auch die eher alltäglichen Durchschnittsmenschen, die sie betrachtet. So ist es auch in diesem Roman.
Gail, die Protagonistin, ist schon etwas älter und liebt sich selber nicht. Sie ist der Typ der Grauen Maus, die sich keinen Friseur und keine Extravaganzen gönnt und die in ihrem kleinbürgerlichen Elternhaus ein ebenso kleinbürgerliches Leben führt. Ihr Leben wird jedoch in mehrfacher Hinsicht aufgemischt. Sie muss eine berufliche Schlappe erleben und sich neu orientieren. Dazu steht die Hochzeit der einzigen Tochter an, die aber durch einen Seitensprung des Bräutigams in Frage gerät – und ihr geschiedener Mann steht mit einer alten Katze vor der Tür und bittet um Aufnahme.
Diese Situation nimmt Anne Tyler zum Anlass, hinter die Fassaden zu schauen. Vordergründig werden uns die Diskussionen um eine eventuelle Absage der Hochzeit, um den Anzug des Brautvaters, die Proben für die Hochzeitszeremonie und so fort erzählt, aber dahinter kommt immer das Menschliche zum Vorschein. Es ist vor allen Gails Fassade, hinter die die Autorin uns blicken lässt. Das unverhoffte Zusammensein mit ihrem geschiedenen Mann lässt Erinnerungen in ihr hochkommen, und sie reflektiert ihr eigenes Verhalten. Allmählich wächst in ihr die Überzeugung, dass das Zusammensein mit einem vertrauten Menschen – und sei er noch so übergriffig und chaotisch – doch seine Vorzüge hat.
Damit schlägt Anne Tyler eigentlich große Themen an, aber sie beschränkt sich auf den Alltag ihrer Personen. Mir hat die menschenfreundliche Art, mit der sie ihre Figuren betrachtet, sehr gut gefallen. Anne Tyler urteilt nicht und hebt niemals den Zeigefinger. Aber sie betrachtet genau die Gefühle ihrer Figuren, wie sie sich in alltäglichen kleinen Dingen zeigen. Diese alltäglichen Dinge fand ich z. B. bei den Hochzeitsproben zu kleinteilig dargestellt, aber auf der anderen Seite gelingt ihr mit dem Bild der alten Katze eine wunderbar treffende Symbolik.

Bewertung vom 22.03.2025
Stumme Knochen
White, Loreth Anne

Stumme Knochen


sehr gut

Mein Lese-Eindruck:

Ein routiniert erzählter und spannender Krimi!
Wenn man sich in die Personenfülle einmal eingelesen hat, verfolgt man gespannt die Entwicklung der Ereignisse rund um einen fast 50 Jahre alten Mordfall. Die Ermittlungsarbeit wird realistisch beschrieben und mit einigen Sachinformationen angereichert, die in der Regel aber gut in der Handlung verankert sind. Bei der Protagonistin Jane verfolgt die Autorin das bewährte Prinzip einer guten Mischung aus Beruflichem und Privatem, sodass Jane mit ihrem besonderen, nicht leichten Schicksal dem Leser naherückt.
Die Handlung läuft in mehreren Strängen ab, sodass der Leser teilweise mehr Informationen als die Ermittlerin und ihr Team hat, was die Spannung zusätzlich steigert. Gelegentliche unglaublichen Zufälle habe ich gerne in Kauf genommen. Immer wieder andere Personen rücken in den Fokus, und sehr geschickt legt die Autorin eine falsche Spur nach der anderen aus. Besonders verdächtig ist die ehemalige Freundesclique um das Mordopfer, die sich gegenseitig voller Misstrauen umkreisen und von denen letztlich jeder nur seine eigene Haut retten will. Die Gerechtigkeit kommt dann nach einigen überraschenden Wendungen zum siegreichen Zug, und auch diejenigen, die unbewiesenen Dreck am Stecken haben, lässt die Autorin eine Strafe erleiden. Damit verlässt die Autorin zwar den Boden der Realität, aber sie bedient das Gerechtigkeitsbedürfnis ihrer Leser.

Bewertung vom 20.03.2025
Wie ein wilder Gott
Calligarich, Gianfranco

Wie ein wilder Gott


sehr gut

Die Erforschung des dunklen Kontinents durch die Europäer im 19.Jahrhundert – ein spannendes und vielschichtiges Thema! Die Forschungsreisen von Livingstone und Stanley bieten faszinierenden Lesestoff; der italienische Afrikaforscher Vittorio Bottego (1860 – 1897) dürfte dagegen wenig bekannt sein, und mit diesem Roman schließt der Autor eine Lücke.
Calligarich baut die Reisen Bottegos in eine Rahmenhandlung an: der Präsident der Geographischen Gesellschaft in Rom blickt am Ende seines Lebens zurück und sieht auf der gegenüberliegenden Garagenmauer wie auf einer Projektionsleinwand das Leben Bottegos und seine eigene Verwicklung darin vorüberziehen.
Bottego erscheint als abenteuerlustiger, mutiger junger Mann, dem es im Italien seiner Heimat zu eng wird. Er strebt nach Ruhm und Ehre, aber auch danach, ein besonders intensives und einzigartiges Leben zu führen. Die kolonialistischen Bestrebungen Europas kommen ihm hier entgegen. Bottego hat zwar vorrangig keine politischen, sondern wissenschaftliche Ambitionen, aber er kann sich schon allein aus finanziellen Gründen dem Zeitgeist der imperialistischen Expansion nicht entziehen. Daher führen seine Expeditionen in die italienischen Kolonien Eritrea, Äthiopien und Somalia, und er verpflichtet sich zur massenhaften Abschlachtung von Elefanten, um mit dem Elfenbein seine Expeditionskosten zu decken. In Afrika gebärdet er sich „wie ein wilder Gott“, der lokale Herrschaftsstrukturen missachtet und mit großer Grausamkeit seine Karawanen vorantreibt. „Zerstören oder zerstört werden!“ ist sein Motto. Da ist Bottego das Kind seiner Zeit; schließlich bezeichnet der italienische König Umberto seinen „Amtsbruder“, den Kaiser von Äthiopien, als „afrikanischen Affen“. Aus Unkenntnis gerät Bottego in das Fadenkreuz der politischen Entwicklung und der komplizierten imperialistischen Gemengelage, was ihn schließlich das Leben kostet. Dennoch kann er Erfolge verbuchen mit der Entdeckung der mächtigen Ströme Juba und Omo, die ihn mit ihrer Wildheit wie wilde, archaische Götter anmuten. Eine geglückte Doppelbödigkeit des Titels „Wie ein wilder Gott“!
Aber: Die Abenteuer selber reihen sich nur aneinander und ähneln sich. Dörfer werden überfallen und niedergebrannt, dann wieder wird verhandelt und getauscht. Deserteure werden erschossen, Askaris verletzt, die Ruhr und andere Krankheiten dezimieren die Karawane. Ein Abenteuer nach dem anderen wird aufgezählt, statt dass sie gestalterisch durchdrungen werden.
Diese fehlende Durchdringung stört vor allem bei dem zentralen Problem des Kolonialismus. Bottegos Entdeckungen interessieren den italienischen Staat nicht; er ist interessiert an Eroberungen, an einer Ausweitung seines Kolonialbesitzes und an Prestigegewinn im europäischen Konzert. Es gibt aber, so der Autor, durchaus Gegner dieser Politik, aber sie kommen nicht zu Wort. Um was geht es nun dem Autor? Möchte er mit seiner Figur das Scheitern der kolonialen Politik zeigen? Statt einer reinen Aufzählung der Ereignisse hätte ich mir eine gestalterische Durchdringung des Stoffes gewünscht, die die leider eher flache Aufzählung zu einem Roman gestaltet hätte.
Trotzdem habe ich das Buch gerne und mit großem Interesse gelesen, und es ist Calligarich anzurechnen, dass er diese historische Figur des Bottego dem Vergessen entrissen hat.

Bewertung vom 03.02.2025
Die Harzreise
Heine, Heinrich

Die Harzreise


ausgezeichnet

Mein Lese-Eindruck:

Lebet wohl, ihr glatten Säle,
Glatte Herren, glatte Frauen!
Auf die Berge will ich steigen,
Lachend auf euch niederschauen.

So lebensfroh beginnt Heinrich Heines „Harzreise“, eine der berühmtesten deutschen Reisebeschreibungen, die in 200 Jahren nichts von ihrer Frische, ihrer Unmittelbarkeit und ihrem Witz, aber auch von ihrer poetischen Schönheit verloren hat. Heinrich Heine verlässt im September 1824 die Stadt Göttingen, und er lässt kein gutes Haar an ihr. Sein Göttingen-bashing hat allerdings seinen guten Grund. Die Universität Göttingen hatte einst Weltruf, aber ihre progressiven Zeiten waren vorbei. Das akademische wie auch das städtische Leben waren geprägt von geistigem Stillstand und provinzieller Enge, und Heinrich Heine gießt seinen so herrlich spitzzüngigen Spott über sie aus. Die Bewohner Göttingens seien organisiert in vier Ständen, schreibt er: Studenten, Professoren, Philister und Vieh, wobei der Viehbestand der bedeutendste Stand sei.
In der Natur kann er aufatmen. Er fühlt sich frei. Er genießt die Natur, und seine Naturbeschreibungen zeigen, wie sich sein Geist einerseits befreit und andererseits beruhigt „durch das ruhige Herzklopfen des Berges“ oder den Anblick der lebhaften Wildbäche. Genauso genießt er den Umgang mit den einfachen Menschen, die er unterwegs trifft wie z. B. einen Schäfer, der seine Brotzeit freundlich mit ihm teilt oder den singenden Handwerksburschen, der ihn eine Zeitlang begleitet. Schließlich ist er angekommen, er steht auf dem Brocken, und der endlos weite Blick vom Brocken hinaus ins Land überwältigt ihn. Wer schon einmal auf dem Brocken war und Glück mit dem Wetter hatte, kann Heine verstehen.
Die Reisebeschreibung endet mit der Durchwanderung des Ilsetales, aber die Neuausgabe enthält viele Briefe an Freunde, in denen Heine seine Weiterreise schildert. Darunter befindet sich auch ein Brief, mit dem er das kurze und enttäuschende Treffen mit Goethe in Weimar schildert. Diese Briefe und die eingestreuten Illustrationen machen den Band ausgesprochen lesenswert!

Bewertung vom 30.01.2025
Verlorene Sterne
Orange, Tommy

Verlorene Sterne


sehr gut

Manche Romane sind harter Tobak, und dieser Roman gehört dazu. Ausgangspunkt ist das Massaker von Sand Creek in Colorado, als im Spätherbst 1864 die U.S. Armee das Winterlager der Cheyenne und Arapaho überfiel und die Bewohner töteten, 2/3 davon Frauen und Kinder. Ein Junge kann sich retten und schließt sich mit dem indigenen Deserteur Red Feather zusammen. Über sieben Generationen und 150 Jahre hinweg bis in die Jetzt-Zeit verfolgt nun der Autor die Geschichte der Abkömmlinge dieser beiden „Indianer“, wie der Autor sie nennt. Und weil der Autor selber dem Stamm der Cheyenne und Arapaho angehört, ist es erlaubt, das Wort zu übernehmen.

Orange verfolgt die Lebenslinien aber nicht chronologisch exakt, sondern eher in einer Zickzacklinie. So entsteht ein vielstimmiger und sprachlich abwechslungsreicher Chor, der eine unglaubliche Leidensgeschichte erzählt, wobei der Ton immer unterkühlt bleibt., so als ob selbstverständliche Fakten erzählt würden, und niemals ins Pathos wechselt.

Dennoch: der Roman ist eine einzige Anklage gegen die USA und den Umgang mit den Native Americans, der letztlich nur ein Ziel hatte: die systematische Ausrottung der indianischen Bevölkerung und ihrer Kultur. Der Leser liest von den sog. Bisonkriegen, in denen „meilenweit und mannshoch Bisonkadaver aufgeschichtet“ werden, denn „jeder tote Bison bedeutet einen Indianer weniger“. Internierungen, Zwangsarbeit, die Errichtung von Reservaten bzw. der Versuch, die Assimilierung durch die Ansiedlung in Städten voranzutreiben, der Entzug der Kinder und ihre Zwangseinweisung in die sog. Indianerinternate sind einige der Erfahrungen, die auch die folgenden Generationen traumatisieren:

„ Er hegt den Verdacht, dass sich noch etwas Schlimmeres unter seinen schlimmsten Erinnerungen an die Schule verbirgt, unter den Haarschnitten und dem Abbürsten, den Märschen, den Prügeln, dem Hunger und dem Arrest und den zahllosen Bloßstellungen, weil er Indianer blieb, während sie sich fortwährend bemühten, ihn zu bilden, zu christianisieren, zu zivilisieren.“

Darüber hinaus geht um den Landraub, der bis heute noch nicht aufgearbeitet ist und, wie es aussieht, unter Trump auch keine Beachtung finden wird. Es geht in diesem Buch also nicht nur um das Problem der Identität, der Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit, sondern auch darum, wie man in einem Land leben kann, das einem gestohlen wurde von Weißen, „die immer geglaubt haben, sie besäßen die Erde und dürften gebrauchen und ausnutzen, was immer ihnen in die kalten, toten Hände kommt, die dieses Land in die Versenkung geführt haben, in seinen unausweichlichen Niedergang.“

Über Generationen hinweg zeigt der Autor die Probleme, die damit einhergehen: Alkohol, Drogensucht, Arbeitslosigkeit, fehlende Bildung, Gewalt, dysfunktionale Familien und Orientierungslosigkeit und zugleich der Kampf um die Bewahrung indianischer Bräuche. Das Ende des Romans wirkt wie das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels: der junge Orvil beschließt einen Entzug. Ein etwas zu idyllischer Schluss.

Die unterschiedlichen Erzählstimmen werden nicht nur durch ähnliche Themen wie Suchtprobleme zusammengehalten, sondern auch sehr lyrisch durch das Motiv der Vögel, das im Namen Red Feather schon anklingt. Der Wunsch, frei wie ein Vogel sich über die Erde mit ihren Widrigkeiten zu erheben, verbindet alle Generationen.

4,5/5*

Bewertung vom 22.01.2025
Der König
Nesbø, Jo

Der König


sehr gut

Mein Hör-Eindruck:
Nicht umsonst zeigt das Cover eine Achterbahn. Roy, der Ich-Erzähler, will seinen Heimatort Os aufwerten durch den Bau einer riesigen hölzernen Achterbahn, die der Mittelpunkt eines Vergnügungsparks werden soll und die das Hotel seines Bruders ergänzen soll. Der Bau dieser Achterbahn ist ein durchgängiges Thema im Roman, aber die Achterbahn ist zugleich ein Symbol: der ganze Roman ist wie eine Achterbahn angelegt.
Roy und seinem Bruder öffnen sich ständig neue Konflikte. Da sind zunächst interne Konflikte eines Bruderpaars, das emotional zu keinem Gleichgewicht findet. Carl und Roy betonen zwar ständig den Wert der Familie, aber verfolgen dennoch skrupellos ihre eigenen Ziele. Dazu kommen die äußeren Konflikte, die großenteils aus der Vergangenheit stammen und in die Gegenwart fortwirken bzw. gesteigert werden. Diese Konflikte werden in rasanter Abfolge präsentiert, und wie bei einer Achterbahnfahrt sind dem Leser wenig Verschnaufpausen gegönnt. Ein steiler Anstieg, die Spannung steigt, und das Problem scheint unlösbar – und dann die Lösung, unverhofft und klug durchdacht, die aber wieder ein neues Problem heraufbeschwört.
Die Handlung ist eng mit der Vergangenheit der beiden Brüder verbunden, die der Autor im1. Band „Sein Königreich“ erzählt. Die Lektüre dieses 1. Bandes ist aber nicht Voraussetzung für das Verständnis. weil der Autor die Vergangenheit der Brüder sehr geschickt und stimmig in die Handlung einflicht. Damit entsteht eine sehr komplexe Erzählung, die aber nirgendwo Leerstellen oder Brüche aufweist.
Die Handlung entwickelt sich rasant, aber Nesbö ist ganz offensichtlich die innere Entwicklung des Ich-Erzählers wichtig. Der Leser bleibt durch die Erzählperspektive immer dicht an Roy und erkennt seine Beweggründe. Roy wird dadurch nicht zu einem Sympathieträger, und der Leser wird sich mit seinen moralisch fragwürdigen Aktionen sicher nicht identifizieren können. Seine Brutalität ist abstoßend, und als Leser fragt man sich, ob etwas weniger nicht auch gereicht hätte. Aber Roys Handeln wird verständlich, und diese psychologische Dichte und Tiefe machen den Roman zu einem Seelendrama und zu einem intensiven Lese-Erlebnis

Bewertung vom 17.01.2025
Tausend Meilen weites Land. Ein früher Western
Braun, Meinrad

Tausend Meilen weites Land. Ein früher Western


ausgezeichnet

Das Cover und der Untertitel „Ein früher Western“ lassen Bilder im Kopf des Lesers entstehen, die irgendwo zwischen Karl Mays Romanen und „Spiel mir das Lied vom Tod“ angesiedelt sind: tapfere Sheriffs, Cowboys, Büffelherden auf der Prärie, Indianer, Trecks von Kolonisten, Saloon-Schönheiten und Schießereien.
Diese Vorstellungen bedient Meinrad Brauns Roman nur sehr bedingt. Der Autor zeigt uns eher das Schicksal eines Auswanderers, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts der wirtschaftlichen Not seiner Heimat entkommen und im Land der unbegrenzten Möglichkeiten seinen Lebenstraum verwirklichen will. Gregor Schönheits Kindheit im Schwarzwald ist von bitterster Not geprägt. Seine Mutter, eine Soldatenwitwe, hält sich wie so viele andere mit schlecht bezahlter Heimarbeit über Wasser: sie bemalt Kuckucksuhren. Das Ticken der Uhren und die Uhr seines Vaters, dessen einziges Vermächtnis, wird Gregor sein Leben lang begleiten. Sein Leben wird zusätzlich erschwert durch Ausgrenzungen und Feindseligkeiten aufgrund seiner jüdischen Herkunft, sodass er schließlich der geistigen und politischen Enge seiner Heimat entflieht, immer mit dem Ziel, eines Tages eine Uhrenfabrik zu errichten.
Sein Leben in den Staaten ist zugleich ein Einblick in die frühe Siedlungsgeschichte. Der Leser begleitet Greg, wie er sich nun nennt, in die Werkstatt eines Büchsenmachers und auf seinen Ritten durch die Prärie, zu Handelsstützpunkten der Trapper und Jäger. Er führt Siedlertrecks durch die weglose weite Landschaft und knüpft Kontakte zu der indigenen Bevölkerung. Er lernt deren andere Lebensauffassung kennen, sieht Grausamkeiten, erlebt die Ausrottung erst der Biber und dann der riesigen Büffelherden und die staatlichen Sanktionen bzw. Umerziehungsaktionen gegen die gottlosen „Wilden“, die zudem durch eingeschleppte Epidemien weiter dezimiert wird. Die Machenschaften der Pelzhandelsgesellschaften, die Handelsbeziehungen zu einzelnen Stämmen, der animistische Naturglaube der Indigenen, der Landhunger der Einwanderer und immer wieder die Schönheit der endlosen Prärie, die er als „Schönheit der Leere“ beschreibt – der Autor malt ein umfassendes Bild der Zeit. Schließlich gerät er in einen der blutigsten Kriege aller Zeiten, den sog. Sezessionskrieg, den er überlebt. Gegen Ende schließt sich der Kreis: er kehrt in den Schwarzwald zurück und sucht seine Mutter.
Diese Geschichte ist weit entfernt von aller Wildwest-Romantik. Trotz aller Dramatik der Ereignisse bewahrt der Autor durchgehend einen berichtenden, chronikhaften Stil. Die fiktive Figur des Greg wird nahtlos in die Zeit und an historische Personen angepasst, sodass beim Leser der Eindruck einer Biografie entsteht. Dazu passt auch das eher altmodische Vokabular, das z. B. einen jungen Mann als Jüngling vorstellt, der „ob seiner weichen Züge“ auffällt.
Lesenswert!

Bewertung vom 13.01.2025
Die Braut des Mörders (eBook, ePUB)
Rademacher, Miriam

Die Braut des Mörders (eBook, ePUB)


sehr gut

Ein beschauliches Dorf in den englischen Cotswolds, Koch- und Handarbeitskurse an der ortsansässigen Volkshochschule, Cottages, eine skurrile Pfarrhaushälterin, ein Dorfpolizist – das sind die Zutaten, aus denen die Autorin versiert ihren Krimi strickt.
Im Mittelpunkt steht der Tanzlehrer Colin, der, so heißt es, schon mehrere Morde aufgeklärt hat. Man kann sich natürlich wundern, wieso so viele Morde in dieser Idylle passieren und wieviele Menschen überhaupt noch dort überlebt haben – aber anders funktioniert der Roman nicht.
Der Krimi ist der 5. Teil einer Serie, und der Einstiegsleser steht dadurch vor Namen, die ihm nichts sagen, und er wundert sich auch, dass die Krankenschwester Norma, die der Klappentext als Teil des Ermittlertrios anführt, hier weiter keine Rolle spielt. Trotzdem: der Krimi funktioniert auch als Einzelband.
Wieso allerdings der Begriff „Best man“ nicht ins Deutsche übersetzt wird als „Trauzeuge“, hat sich mir nicht erschlossen.
Die Handlung lebt von den eigenwilligen privaten Ermittlern, die die Aufklärung eines spektakulären Mordes selbstständig und ungefragt in die Hand nehmen und dadurch immer wieder in Konkurrenz zur dörflichen Polizei geraten. Der Leser begleitet Colin und seine Freunde bei ihren Nachforschungen und bei ihrem allabendlichen Treffen im Pub. Die Spannung steigt, als weitere Morde passieren. Allmählich stellt sich heraus, dass die Morde in Zusammenhang mit einem früheren Brandunglück stehen, aber der genaue Zusammenhang bleibt im Dunkeln. Sehr gekonnt legt die Autorin verschiedene Spuren, denen Ermittler und Leser folgen, und nach einigen überraschenden Volten präsentiert sie schließlich in einem dramatischen Finale den Bösewicht.
Ein unterhaltsamer, leichter Krimi, routiniert erzählt und angenehm zu lesen.
4

Bewertung vom 08.01.2025
Mordsache Caesar
Sommer, Michael

Mordsache Caesar


ausgezeichnet

Der Oldenburger Althistoriker Michael Sommer macht sich zum Ermittler in einer Mordsache, die weder neu noch unbekannt ist: der Mord an Gaius Julius Cäsar an den Iden des März im Jahr 44 v. Chr. Ein Mordfall, mehr als 2000 Jahre alt? Sommer hat Glück: die Täter sind bekannt, ebenso der Tatort, der Tathergang auch die Tatwaffen. Er widmet sich daher den Motiven, die zu diesem spektakulären Mord führten.
Dafür holt Sommer weit aus. Er denkt und beurteilt langfristig, und so legt er dar, wie seit der Vertreibung des letzten Königs Tarquinius Superbus der republikanische Konsens Schritt für Schritt ausgehöhlt wurde. Hier spannt Sommer einen originellen Bogen vom Beginn der Republik bis zu Cäsars Ermordung: War Lucius Junius Brutus derjenige, der den letzten König vertrieben hatte, so war es nun Marcus Junius Brutus, der die Verschwörung gegen Cäsar initiierte und mit seinem moralischen Gewicht sanktionierte.
Dieser langfristige Ansatz ist interessant zu lesen, u. a. deshalb, weil wir momentan in unserem Land ebenfalls den Verlust des demokratischen Konsenses erleben. Von Demokratie im modernen Sinne kann in Rom keine Rede sein, aber Sommer verweist auch auf die Aushöhlung traditioneller Werte wie den tief verwurzelten Konservativismus der Patrizier, die Bedeutung der Freiheit, des mos maiorum und der dignitas. Der lang andauernde blutige Bürgerkrieg führte zu einer zusätzlichen Schwächung dieser Werte, sodass Cäsar – ein genialer Feldherr, hochgebildet risikobereit, generös, flexibel – hier eine Lücke fand, seinen Machtwillen auszuleben. Auf Kosten der republikanischen Prinzipien der Annuität und Kollegialität – was wiederum die Anhänger der Republik mobilisierte.
Sommer widmet sich hier etwas ausführlicher Cato dem Jüngeren, der in der Tradition der Stoa ein herausragender und unbestechlicher Vertreter der republikanischen Traditionen war und damit zum Anführer des Widerstands gegen Cäsar wurde, bis er nach der Niederlage des senatorischen Heeres bei Thapsus den Freitod wählte.
Die Mörder Cäsars hatten jedoch nicht nur politische, sondern teilweise auch sehr persönliche Gründe, sich an dem Mord zu beteiligen. Sommer folgt ihren Lebensläufen und stellt ihre Antriebskräfte wie verletzte Ehre, Benachteiligungen, persönliche Kränkungen etc. vor, die sie zur Mittäterschaft brachten. Damit bietet er seinem Leser ein rundes Bild der sich langsam bildenden Verschwörergruppe um Cassius und Brutus.
Im Ausgang wendet sich Sommer der Frage zu, wieso nach dem Tyrannenmord die Republik nicht institutionalisiert werden konnte, sondern einen neuen Bürgerkrieg auslöste.
Das Buch liest sich spannend und kurzweilig und richtet sich dezidiert an Laien. Mir hat es gut gefallen, dass Sommer trotzdem eine sorgfältige, aber niemals langweilige Quellenkritik betreibt und seine Sicht der Dinge aus den Quellen begründet.