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Readaholic

Bewertungen

Insgesamt 357 Bewertungen
Bewertung vom 17.07.2024
Kleine Monster
Lind, Jessica

Kleine Monster


sehr gut

Kleine und große Monster
Der siebenjährige Luca soll ein Mädchen in seiner Klasse sexuell belästigt haben. Die Eltern Pia und Jakob reagieren unterschiedlich. Während Jakob nicht glaubt, dass sein Sohn zu so etwas fähig sein könnte, zweifelt Pia. Aus ihrer eigenen Kindheit weiß sie, dass auch Kinder böse sein können. Doch sie kommt nicht an Luca heran, er redet nicht, und sie beobachtet ihn mit Argusaugen. Als später mit dem Mädchen etwas passiert, ist für Pia klar, dass Luca etwas damit zu tun haben muss und sie greift zu drastischen Mitteln.
„Kleine Monster“ wechselt in den Zeitebenen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, in der wir viel über Pias Kindheit und ihr Aufwachsen mit zwei Schwestern erfahren. Dabei wird die Kindheit aus Pias Perspektive geschildert. Doch ist wirklich alles so geschehen? Pia beginnt, ihre Erinnerungen zu hinterfragen. Warum hat sich ihre Adoptivschwester Romi von der Familie losgesagt? Was ist an dem Tag passiert, als ihre kleine Schwester Linda tödlich verunglückte und warum will ihre Mutter partout nicht darüber reden?
„Kleine Monster“ ist ein ausgesprochen spannendes Buch mit Sogwirkung. Man möchte unbedingt die Frage beantwortet bekommen, was in welcher Situation wirklich geschah, doch genau das ist mein Kritikpunkt, denn vieles bleibt offen, was ich als ziemlich frustrierend empfand. Es ist das Psychogramm einer Familie und das Buch wirft die Frage auf, ob Kinder intrinsisch böse sein können und inwieweit Eltern, bedingt durch ihre eigene Lebensgeschichte und Erfahrungen, Dinge in ihre Kinder hineininterpretieren. Ein höchst interessantes und stellenweise sehr bedrückendes Buch.
Erwähnenswert ist noch das wunderschöne und originell gestaltete Cover eines still daliegenden Sees, in dem sich dunkler Nadelwald spiegelt. Das Bild ist wie ein Fenster zweigeteilt, von hinten schiebt sich eine Kinderhand ins Bild, wie um das Fenster zu öffnen, doch dies geschieht nicht, genauso wenig wie der Leser erfährt, was sich an jenem See damals abgespielt hat.

Bewertung vom 15.07.2024
Mitternachtsschwimmer
Maguire, Roisin

Mitternachtsschwimmer


ausgezeichnet

Ein Verlust und seine Folgen
Evan und seine Frau haben ein Kind verloren. Die Trauer entzweit sie und Evan beschließt, eine Woche Auszeit in einem Ferienhaus an der Küste zu nehmen. Was er nicht ahnen kann, ist, dass aus der Woche ein längerer Aufenthalt wird, denn die Pandemie und der ausgerufene Lockdown machen ihm einen Strich durch seine Pläne. Sein Cottage ist muffig und dunkel, die Möbel alt, WLAN gibt es nur im Pub, es sind also nicht die besten Voraussetzungen für einen längeren Aufenthalt. Er lernt seine wortkarge Vermieterin Grace kennen, von der alle sagen, sie sei verrückt, und trifft nach und nach die Dorfbewohner, die ihre anfängliche Reserviertheit gegenüber dem Städter mit der Zeit ablegen. Evan hat sich gut eingelebt, als seine Frau ihm eröffnet, er müsse für eine Weile den achtjährigen Sohn Luca zu sich nehmen, was ihn vor neue Herausforderungen stellt, denn Luca ist taub und ein schwieriges Kind.
„Mitternachtsschwimmer“ versetzt seine Leser in ein idyllisches irisches Dorf mit skurrilen, aber liebenswerten Bewohnern. Es hat mir großen Spaß gemacht, gemeinsam mit Evan ihre Bekanntschaft zu machen. Nach und nach schafft Evan es, sich in der Abgeschiedenheit der Natur seiner Trauer zu stellen und sein Leben zu überdenken.
Roisin Maguire ist eine wunderbare Erzählerin, schon lange hat mir die Sprache in einem Roman nicht mehr so viel Spaß gemacht. Ein großes Kompliment an die Übersetzerin Andrea O‘ Brien, der es hervorragend gelungen ist, die eigenwilligen Wortschöpfungen der Autorin kreativ ins Deutsche zu übertragen. Für mich war dieser Roman ein absolutes Lesehighlight.

Bewertung vom 11.07.2024
Solito
Zamora, Javier

Solito


ausgezeichnet

Das Ende einer Kindheit
Im Alter von neun Jahren wird Javier, der in El Salvador bei seinen Großeltern aufgewachsen ist, auf die gefährliche Reise zu seinen Eltern in die USA geschickt. Die Eltern sind vor Jahren vor dem brutalen Bürgerkrieg in ihrem Land geflüchtet und leben als illegale Einwanderer in Kalifornien. Auf der ersten Etappe der Strecke, die per Bus zurückgelegt wird, begleitet der Großvater den Jungen noch, dann übergibt er ihn an einen Fremden, der lediglich aus dem gleichen Ort wie Javier und sein Großvater stammt. Er bekommt dafür Geld, kümmert sich jedoch absolut nicht um Javier, der zum Glück von Patricia unter ihre Fittiche genommen wird, die mit ihrer zwölfjährigen Tochter unterwegs ist.
Die Flucht ist sehr beschwerlich und hart und beinhaltet beispielsweise eine Bootsfahrt auf dem offenen Meer, bei der die Flüchtlinge zusammengequetscht wie Sardinen nachts mit Dieselgeruch und Schlimmerem in der Nase stundenlang durch die Nacht gefahren werden. Angedacht war ein Zeitraum von zwei Wochen, bis Javier die USA erreicht, doch es dauert sehr viel länger. Die stundenlangen Wanderungen durch die mexikanische Wüste, in der es nachts sehr kalt wird, bei der die Flüchtlinge immer Gefahr laufen, entdeckt zu werden, ständige Angst und die Aufenthalte in menschenunwürdigen Behausungen, dazu die Einsamkeit und das Heimweh nach seiner Familie sind mehr als ein Neunjähriger jemals erleben sollte.
Als Leser weiß man zwar von Anfang an, dass die Flucht geglückt ist, denn Javier lebt heute in den USA, doch ist es sehr aufwühlend und herzzerreißend mitzuerleben, welche Strapazen und Ängste er als Kind erleben musste.
Was zunächst sehr irritierend ist, sind die vielen spanischen Ausdrücke, mit denen das Buch gespickt ist. Es hemmt den Lesefluss, immer im Glossar nachschlagen zu müssen und viele Begriffe dann doch nicht zu finden. Ich empfand dies zunächst als Ärgernis, habe dann allerdings in einem Interview mit dem Autor gelesen, dass er dieses Stilmittel ganz bewusst eingesetzt hat. Zamora möchte die Leser in dieselbe Lage versetzen, die Flüchtlinge erleben, die mit einer anderen Sprache, deren sie nicht mächtig sind, konfrontiert sind.
Javier bezeichnet seine Flucht als Ende seiner Kindheit und musste sich jahrelang einer Therapie unterziehen, um die erlebten Traumata zu verarbeiten.
Mich hat dieses Buch sehr bewegt, da es eindrücklich vor Augen führt, was das Wort Flucht eigentlich beinhaltet. Ein Roman, über den ich sicher noch längere Zeit nachdenken werde.

Bewertung vom 04.07.2024
Unter dem Moor
Weber, Tanja

Unter dem Moor


ausgezeichnet

Drei Frauen am Stettiner Haff
Die junge Berliner Ärztin Nina leidet an Burnout und beschließt, sich eine Auszeit in einem Ferienhaus am Stettiner Haff zu nehmen. Kaum ist sie angekommen, läuft ihre Hündin Ayla, die sie erst kürzlich aus der Tierrettung geholt hat, davon. Panisch beginnt Nina nach ihr zu suchen und findet sie nach langer Suche eingeklemmt in ein Tellereisen im Wald. Mit Hilfe eines Nachbarn wird Ayla befreit und zur Tierarztpraxis gebracht, doch am nächsten Tag führt die Hündin Nina zurück zu der Stelle und beginnt zu graben. Ayla fördert einen großen Knochen zutage, der Ninas Meinung nach nur von einem Menschen stammen kann. Sie meldet ihren Fund der Polizei.
In einem zweiten Handlungsstrang, der im Jahr 1937 spielt, werden junge Berliner Mädchen, darunter die 14jährige Gine, zu einem Landjahr auf einen Gutshof am Stettiner Haff geschickt. Angeblich auserwählt, sind sie nichts anderes als ausgebeutete Arbeitskräfte, die von früh bis spät schuften müssen. Nach einem sexuellen Übergriff darf Gine schwer traumatisiert das Arbeitslager verlassen.
Schließlich führt uns die Autorin zurück in die DDR im Jahr 1972. Die zwanzigjährige Sigrun lebt mit ihrem Mann und einem kleinen Sohn in einem Dorf am Stettiner Haff, wo die Stasi jeden bespitzelt. Sie träumt von einem freieren Leben und beneidet ihre beste Freundin, die den Absprung schafft und nach Berlin geht, dort jedoch wegen ihrer umstürzlerischen Aktivitäten festgenommen und in ein berüchtigtes Frauengefängnis gesteckt wird.
Zwei Dinge haben die Frauen gemeinsam: den Wunsch nach Freiheit und die Verbindung sowohl zu Berlin als auch zum Stettiner Haff. Die Geschichte wird spannend und mitreißend erzählt. Wir tauchen nicht nur ein in die Lebensgeschichte der einzelnen Frauen, sondern erleben auch die Grausamkeit und die Bespitzelung während der Nazizeit bzw. durch die Stasi in der DDR. Ich habe das Buch als Hörbuch gehört, ganz hervorragend gelesen von Verena Wolfien, die mir mit ihrer angenehmen Stimme und unaufgeregten Sprechweise ein schönes Hörerlebnis geboten hat.
Das Einzige, was ich zu bemängeln habe, ist der irreführende Klappentext: „Als sich dort ein Mann an Gine vergeht, schwört das Mädchen Rache und ahnt nicht, wie sehr es damit den Lauf der Zeit beeinflussen wird.“ Ich habe keine Ahnung, inwiefern Gine den Lauf der Zeit beeinflusst haben soll.

Bewertung vom 04.07.2024
Am Himmel die Flüsse
Shafak, Elif

Am Himmel die Flüsse


ausgezeichnet

Hommage an das Wasser
In „Am Himmel die Flüsse“ der türkisch-britischen Autorin Elif Shafak begleiten wir drei Hauptpersonen, die zu unterschiedlichen Zeiten leben. Das verbindende Element ist das Wasser. Da ist zunächst Arthur, der im Uferschlamm der Themse geboren wird und in extremer Armut im London des 19. Jahrhunderts aufwächst. Trotz widrigster Umstände schafft er es, zu einem der berühmtesten Altertumsforscher Großbritanniens zu werden, dem es gelingt, die Keilschrift auf mesopotamischen Tontafeln zu entziffern. In einer ersten Exkursion in das Gebiet zwischen Euphrat und Tigris verliebt er sich in Land und Leute und setzt alles daran, wieder dorthin zurückzukehren.
Die zweite Hauptperson ist Narin, ein kleines ezidisches Mädchen, dessen Großmutter, eine Heilerin, im Jahr 2014 mit ihr in den heutigen Irak reist, damit sie dort in einem heiligen Tal getauft werden kann. Dabei geraten sie in größte Gefahr, denn der IS hat die Macht übernommen und richtet ein Massaker nach dem anderen an. Die Beschreibungen dessen, was Menschen einander antun, sind schockierend, umso mehr, als sich die Autorin dabei an Berichten von Überlebenden orientiert hat.
Schließlich lernen wir Zaleekhah kennen, die 2018 als Wissenschaftlerin mit dem Fachgebiet Hydrogeologie in London forscht. Ihre Eltern kamen als Immigranten aus dem Nahen Osten. Zaleekhah hat sich vor kurzem von ihrem Ehemann getrennt und lebt nun auf einem Hausboot auf der Themse.
All diese Geschichten werden kunstvoll miteinander verwoben. Die Recherche zu diesem Roman muss Jahre gedauert haben, so ausführlich werden Artefakte und historische Begebenheiten beschrieben. Manchmal hatte ich fast das Gefühl, eine Dissertation zu lesen. Ich habe aus diesem Buch viel gelernt und bedaure, kein fotografisches Gedächtnis zu haben, denn die Fülle an Informationen werde ich mir niemals merken können. Die Beschreibung der Gräueltaten der IS und früherer Herrscher im Land zwischen Euphrat und Tigris haben mich hart an meine Grenzen gebracht. Ich hatte in keinster Weise in diesem teilweise sehr poetischen Roman mit solch grausamen Szenen gerechnet. Es ist ein anspruchsvolles Buch, berührend, spannend und informativ, das sich nicht scheut, Themen wie Genozid und die menschenverachtende Behandlung von Minderheiten anzusprechen. Ein sehr lesenswerter Roman.

Bewertung vom 25.06.2024
Das Licht in den Birken
Fölck, Romy

Das Licht in den Birken


gut

...jetzt musste er nur noch sein Herz öffnen
Nach 20 Jahren in Portugal kehrt Thea in ihre Heimat in der Lüneburger Heide zurück. Sie hat eine Wohnung auf einem Gnadenhof für Tiere gefunden. Die Wohnung gefällt ihr gut und sie hat Platz für ihre zwei aus Portugal mitgebrachten Tiere, lediglich der Besitzer Benno ist ein alter Griesgram, dem man anmerkt, dass er viele Jahre allein gelebt hat. Kurz nach Theas Ankunft findet Benno eine junge Frau im Wald, die eigentlich auf Wanderschaft ist, jedoch so unglücklich gestürzt ist, dass sie nicht mehr laufen kann. Er nimmt sie mit auf den Hof, wo sie bei Thea unterkommen kann.
Jede dieser drei Personen hat Probleme, seien diese finanzieller, familiärer oder gesundheitlicher Art. Doch die drei, die sich nach anfänglichen Schwierigkeiten zusammenraufen, finden für alles in Nullkommanix eine Lösung. Als sie beschließen, eine alte Scheune auszuräumen und zu renovieren, passiert dies innerhalb eines Tages. Jeder, der jemals renoviert hat, weiß, dass dies ein Unding ist. Die Idee für dieses Buch hat mich gereizt, aber die wenig glaubhafte Umsetzung, bei der sich alle Probleme in kürzester Zeit in Luft auflösen, konnte mich nicht überzeugen. Ich habe „Das Licht in den Birken“ als Hörbuch gehört, gesprochen von Tessa Mittelstädt. Die Stimme der Sprecherin war angenehm, doch hat es mich sehr gestört, dass der Mittfünfziger Benno so behäbig wie ein Greis sprach und manche Vokale unpassenderweise gedehnt wurden. Aus Küche wurde Küüüche, aus Geruch Geruuuch. Und beide Wörter kommen gefühlt in jedem zweiten Satz vor!
Natürlich weiß man von Anfang an, dass Thea und Benno sich mit der Zeit näherkommen, die ganze Geschichte ist ziemlich vorhersehbar. Der Stil erinnert teilweise an einen Groschenroman, so heißt es beispielsweise über Benno „den Hof hatte er schon geöffnet, jetzt musste er nur noch sein Herz öffnen.“ So war dieses Buch zwar ganz nett, aber im Großen und Ganzen doch ein bisschen zu seicht für meinen Geschmack.

Bewertung vom 19.06.2024
Mühlensommer
Bogdahn, Martina

Mühlensommer


sehr gut

Alles andere als eine Idylle

Maria wächst auf einem abgelegenen Bauernhof auf. Während die Klassenkameraden in den Sommerferien ins Schwimmbad gehen, muss sie bei der Ernte helfen. Urlaub kennt sie nicht und sie hasst den ersten Schultag nach den Sommerferien, wenn die Lehrerin sich neugierig erkundigt, wer wo in Urlaub war. Aus den ersten Kapiteln des Buchs wissen wir, dass die erwachsene Maria mittlerweile in der Großstadt lebt und das Landleben so schnell wie möglich hinter sich gelassen hat.
In der ersten Szene will sie gemeinsam mit ihren beiden Töchtern und Freunden eine Bergwanderung machen, als sie einen Anruf ihrer Mutter erhält. Der Vater ist schwer verunglückt, Maria soll sofort nach Hause kommen. Dort angekommen, muss sie sofort kräftig anpacken, die Tiere müssen versorgt werden und jemand muss sich um die demente Großmutter kümmern.
In Rückblicken erfahren wir viel über Marias Kindheit, die strenge Großmutter, Mobbing in der Schule, die harte Arbeit tagein, tagaus. Diese Kindheitserinnerungen nehmen einen Großteil des Buchs ein, womit ich nicht gerechnet hatte. Lieber hätte ich mehr über die erwachsene Maria erfahren.
Der Autorin war es offensichtlich wichtig, nicht nur die romantisch-verklärte Seite des Lebens auf dem Bauernhof zu zeigen, sondern auch die harte Realität. Sie beschreibt minutiös krasse Szenen, beispielsweise das Schlachten des Hausschweins Emma und dessen anschließende Verarbeitung, sowie andere Situationen, über die ich lieber nichts gelesen hätte. Tierquälerei wird teilweise wie eine lustige Anekdote beschrieben, was mir sehr gegen den Strich ging. Da vieles aus der Sicht eines neunjährigen Mädchens geschildert wird, ist die Sprache entsprechend einfach, was auf Dauer etwas anstrengend und stellenweise albern ist, wenn sie zum Beispiel erzählt, dass sich in einem Schrank im Schweinestall auch Zigaretten finden, „aber die sind nicht für die Schweine“.
Vieles in diesem Roman hat mich aber auch angesprochen, nicht zuletzt, weil es mich an meine eigene Kindheit in einem Dorf erinnert hat. Das wunderschöne Cover suggeriert heile Natur und ein Wohlfühlbuch, doch davon sollte man sich nicht täuschen lassen. Manche Szenen sind wahrhaftig nichts für Zartbesaitete.

Bewertung vom 14.06.2024
Das Baumhaus
Buck, Vera

Das Baumhaus


sehr gut

So hatten sie sich ihren Urlaub nicht vorgestellt

Henrik und Nora fahren mit ihrem fünfjährigen Sohn Fynn in Urlaub nach Schweden. Dort haben sie ein Ferienhaus mitten im Wald geerbt. Jahrelang war niemand dort gewesen und entsprechend heruntergekommen ist es. Die Atmosphäre ist alles andere als idyllisch, zumal sich jemand Zutritt zu dem Haus verschafft haben muss, denn der Keller ist voller Tierskelette.
Henrik war in seiner Kindheit zuletzt dort, er erinnert sich an Abenteuer im Wald gemeinsam mit seinem Opa, der das Haus ursprünglich gekauft hatte. Bei Spaziergängen entdeckt er ein Baumhaus, das ungute, lang verdrängte Erinnerungen in ihm weckt. Als dann auch noch Fynn während eines Versteckspiels verschwindet, beginnt ein Albtraum.
In einem zweiten Handlungsstrang lernen wir Rosa kennen, die in ihre schwedische Heimat zurückgekehrt ist, um sich gemeinsam mit dem Vater um ihren Bruder zu kümmern, der seit einem Kletterunfall ein Pflegefall ist. Rosa interessiert sich beruflich für die Auswirkungen von verwesenden Tieren auf die Bäume in unmittelbarer Nähe. Als nun Fynn verschwunden ist und Rosa in der Gegend ein jahrzehntealtes Kinderskelett ausgräbt, bittet die Polizei sie um Mithilfe. Vielleicht erkennt sie im Wald Veränderungen, die auf weitere vergrabene Leichen hindeuten.
„Das Baumhaus“ ist ein ausgesprochen spannender und vielschichtiger Krimi, der mich teilweise an Vera Bucks Roman „Wolfskinder“ erinnert hat. Auch hier ist von „Spielen“ die Rede, wenn der Entführer seine Opfer quält. Was mir nicht gefallen hat, war ein weiterer Handlungsstrang um einen Stalker aus Noras Vergangenheit. Die Anhäufung von traumatischen Ereignissen in so kurzer Zeit war übertrieben und nicht glaubhaft. Insgesamt ist „Das Baumhaus“ aber ein spannender Psychothriller, der bis zuletzt mit Überraschungen aufwartet.

Bewertung vom 10.06.2024
Cascadia
Phillips, Julia

Cascadia


sehr gut

Es waren einmal zwei Schwestern und ein Bär...

Die Schwestern Sam und Elena leben mit ihrer pflegebedürftigen Mutter auf einer kleinen Insel im Nordwesten der USA. Es gibt nur wenige Jobs in der Gegend und so arbeiten sie beide in schlechtbezahlten Jobs in der Gastronomie und kommen mehr schlecht als recht über die Runden. Sam bedient verwöhnte Touristen in der Cafeteria einer Fähre. Auf dem Rückweg in den Hafen sieht sie eines Abends einen schwimmenden Bären und traut ihren Augen kaum, denn Bären sind in dieser Gegend normalerweise nicht heimisch.
Ein paar Tage später steht der riesige Bär direkt vor ihrem Haus. Die anfängliche Panik weicht bei Elena schnell einer Faszination für das Tier und sie beginnt ihn mit Essen anzulocken. Sam hat Angst vor dem Tier und seiner Wirkung auf die Schwester und kontaktiert die Behörden.
Ihr größter Wunsch ist es, endlich die Insel und ihr altes Leben hinter sich zu lassen. Schon vor Jahren haben die beiden Schwestern beschlossen, nach dem Tod der Mutter das Haus zu verkaufen und woanders gemeinsam ein neues Leben aufzubauen. Doch jetzt scheint es plötzlich, als ob Elena die Insel gar nicht mehr verlassen will. Sam fühlt sich verraten und die Dinge eskalieren.
„Cascadia“ weist einige Parallelen zu „Schneeweißchen und Rosenrot“, dem Märchen der Gebrüder Grimm, auf. Wie im Märchen versprechen sich die Mädchen, ewig zusammenzuhalten, sie pflegen ihre Mutter, wobei eine Schwester mehr Verantwortung übernimmt als die andere, die Schwestern begegnen einem Bären, der sich allerdings im Gegensatz zum Märchen nicht am Schluss in einen Prinzen verwandelt.
Ich bin ein bisschen gespalten, was diesen Roman anbelangt. Den Anfang fand ich fesselnd, doch dann kamen Passagen, die sich sehr in die Länge zogen und mir die Eintönigkeit von Sams Leben sehr deutlich machten. Sams Langeweile und ihr monotoner Alltag waren für mich regelrecht körperlich spürbar, falls das die Intention der Autorin war, ist ihr das gut gelungen. Andererseits gibt es dramatische Ereignisse, bei denen ich nur so durch die Seiten flog. Den Schluss, als Sam dann selbst die Analogie zum Grimmschen Märchen zieht, hätte ich allerdings nicht gebraucht.
Hervorherben möchte ich noch das wunderschöne Cover in ungewöhnlichen Farben. Der zartlila Horizont mit der angedeuteten Silhouette von hohen Bergen und die dunklen Bäume im Vordergrund erzeugen eine mystische Atmosphäre. Auch die hervorragende Übersetzung von Pociao und Roberto de Hollanda ist erwähnenswert. Ein lesenswertes Buch.

Bewertung vom 05.06.2024
Bonjour Agneta
Hamberg, Emma

Bonjour Agneta


ausgezeichnet

Unsichtbar war gestern

Das Leben der 49jährigen Agneta ist von Routine geprägt. Ihr Job ist eintönig, im Kollegenkreis fühlt sie sich als Außenseiterin. Ihr Mann Magnus ist davon besessen, jung und fit zu bleiben und entsprechend sind seine Freizeitaktivitäten und Essgewohnheiten. Selbstverständlich erwartet er von seiner Frau, es ihm gleichzutun. Agneta fügt sich allem, isst brav kalten Haferbrei zum Frühstück, nur um sich danach heimlich ein verstecktes Frühstück mit Butter und Marmelade zu gönnen. Als sie eines Tages eine etwas kryptische Annonce in der Zeitung entdeckt, in der ein „älterer Junge“ in der Provence eine schwedischsprachige Person als Betreuung sucht, beschließt sie, einmal im Leben etwas Verrücktes zu wagen und bewirbt sich. Sie bekommt die Stelle und reist in die Provence, denn momentan hält sie nichts in Schweden, die Kinder sind aus dem Haus und ihrer Ehe kann eine Weile Abwesenheit nur guttun.
Allerdings stellt sich dann der ältere Junge als 80jähriger heraus, der zudem an Demenz leidet und in einem riesigen heruntergekommenen Kloster lebt. Nachdem sie den anfänglichen Schock überwunden hat, stellt sich Agneta den Herausforderungen, lernt die Nachbarn und die Umgebung kennen und entdeckt eine Seite an sich, die sie selbst überrascht.
Die Geschichte von „Bonjour Agneta“ wurde sicher schon oft so ähnlich erzählt, eine Frau in der Mitte ihres Lebens fragt sich, ob das schon alles gewesen sein soll und bricht aus, aber in diesem Buch erwarten die Leser doch einige Überraschungen. Der 80jährige Einar hat beispielsweise ein bewegtes Leben hinter sich, allerdings hätte ich eine dermaßen detaillierte Beschreibung seines Liebeslebens nicht unbedingt gebraucht.
Das humorvolle Buch hat mich sehr gut unterhalten und es hat mehr Tiefgang, als ich erwartet hätte.