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fafone
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hanau

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Insgesamt 2 Bewertungen
Bewertung vom 14.02.2022
Abschied der zerschellten Jahre
Biondi, Franco

Abschied der zerschellten Jahre


sehr gut

Erzählt wird die Geschichte von Mamo, dem jungen Mann, der in Deutschland aufgewachsen ist, ohne Bezüge zur Heimat seiner Eltern. Was er ist, weiß er nicht genau. Doch gegen das Etikett vom „Ausländer“ wehrt er sich. Mamo hat einen Bescheid von der Ausländerbehörde bekommen. Er soll abgeschoben werden. Der Rahmen von Franco Biondis Novelle ist die Nacht, in der sich Mamo mit einem US-Army-Gewehr, etlichen Magazinen und Aldi-Vorräten in seiner Dachwohnung verschanzt und auf das Abschiebekommando der Polizei wartet. Erinnerungen tauchen auf in dieser Nacht; an die vergangenen Jahre, Kinderspiele, Schullektionen über “Ausländerkinder“, an den alten Mann, der Fischer gewesen war, an dessen Erzählungen, die Mamo empfindlich machten für die Zerstörungen an den Menschen seiner Umgebung. Erinnerungen an Volker, der gern groß tat, mit „Ausländer raus“-Parolen, der zur Polizei ging und vielleicht zu dem Kommando gehört, das Mamo aus seiner Wohnung holen soll. Erinnerungen an Dagmar, an seiner Freundin, das mit ihm zur Heimat seiner Eltern weggehen wollte. Ein Missverständnis, er will bleiben. Nicht, weil Deutschland Heimat wäre, sondern weil er sich nicht wegschicken lassen will. Er hat sich nicht täuschen lassen, nicht vom Gerede über tolle Jobs und Geld, dem Geschwätz der Leute. Er hat sich auch nicht hinreißen lassen, gewalttätig zu werden. Er wusste Bescheid. “Aber was nutzt mir jetzt das Wissen — ich fahre nur noch solange ich Sprit habe. Ich bin sozusagen nun auf Automatik eingestellt, wie ein aufladbares Püppchen.“ Franco Biondi gelingt es meisterhaft, die Zwangsläufigkeit einer Entwicklung zur mörderischen und selbstmörderischen letzten Verteidigung darzustellen. Es ist kein revolutionärer Akt, kein Amoklauf, nur die letzte Kundgebung einer menschlichen Existenz, der jeder Rahmen zu sinnvollem Weiterleben genommen wurde.
Herbert Friedmann

Bewertung vom 09.02.2019
Der Engelfotograf
Chiellino, Gino

Der Engelfotograf


ausgezeichnet

Traumaverarbeitung durch Entwicklung einer eigenen Sprache.
Der Roman führt den Leser in das Leben eines Heranwachsenden in den 1950ern. Rusco wächst in einer bäuerlich und von Emigration geprägten Familie in einem kleinen Ort auf dem Gebirge Kalabriens auf. Dort spüren viele Bauern die Notwen-digkeit, Zukunftsperspektiven für die Nachkommen außerhalb ihres Berufes zu fin-den und nehmen die Gelegenheit in Anspruch, ihre Kinder den ›Missionaren aus dem Norden‹ anzuvertrauen.
Im Internat angekommen, nimmt sich Rusco vor, der Beste zu werden. Er taucht in die Wörterbuchwelt ein und schirmt sich damit ab. Er bekommt von den Patres die nötige Anerkennung, die ihm helfen, Beziehungs- und Kontextkontrolle zu spüren, und erlebt den Heimwehschmerz nicht, der andere Mitschüler heim-sucht. Zwar kann seine Seele im Internat »atmen lernen«, wo das ›leise Reden‹ vor-herrscht, Beziehungen übersichtlich und klar geregelt sind. Über das Erlernen der Sprachen (der intra- und der interkulturellen) feilt er sein Verteidigungssystem aus, denn: »Die Wörter ziehen ihn an, weil die Patres gegen sie machtlos sind«. Doch das reicht nicht, sich, seinen Körper und seine Seele, zu schützen.
Auf den Protagonisten fällt Schuld. Ab diesem Augenblick ist er nicht mehr Herr seines Körpers, seiner Gefühle und Gedanken. Nach und nach erschließt es sich, dass es um sexuelle Handlungen geht. Weder Beichte noch Bußübungen brin-gen ›den erlösenden Trost‹. Rusco ist davon erschüttert. Das, was ihm von da an begegnet, macht ihn hilflos, ohnmächtig und ausgeliefert. Mit allen erdenklichen mentalen Leistungen versucht er, wieder Herr seines Selbst zu werden. Über seine Lernbegierde, über Fachwissen, Wörterbuch, aber auch durch den unausgespro-chenen Beistand des ihm wollgesonnenen Paten, bekommt er wieder Kontakt zu seinem Körper und zu seinen Gefühlen.
Dennoch ist das traumatische Ereignis hartnäckig. Seine Selbstbeobachtung und die kognitive Auseinandersetzung reichen nicht aus. Er zeigt Phobien. Bei-spielsweise Waschzwang, der die Funktion hat, nicht tolerierbare Gefühle wie Scham und Körperempfindungen wie Schmerz zu dämpfen bzw. einzukapseln und – insbesondere bei unerwünschten sexuellen Handlungen – das Abtragen des Schmutzens vom Körper, die gründliche Körperreinigung. So ist er bemüht, über Fachwissen zu den Eigenschaften der Haut und der Hauterneuerung, seine Reini-gung zu bekommen. Doch der empfundene Schmutz ist zutiefst emotional und letztendlich seelisch. Er »fährt mit einem Loch in der Seele nach Süden«, zu einer externen Beichte, auf der Suche nach Absolution bzw. Erlösung, sprich nach Befrei-ung vom Trauma. Zunächst durchläuft er während der Reise die psychosomati-schen Reaktionen nach dem Ereignis und rekapituliert innerlich die Stationen des Leids.
Nicht die kirchlich geprägte Begegnung mit dem jungen Beichtvaters, sondern sein kurzer Aufenthalt in seinem Herkunftsort und die Aufgabe seiner gehegten Träume, Missionar in Afrika oder Asien zu werden, bringen Rusco zum Entschluss, seinen Gymnasiumabschluss im Internat anzustreben und für sein Leben eine neue Sprache zu finden. Im Schlusskapitel erfährt der Leser, dass der Protagonist zwar nicht vom Trauma befreit ist, doch, dass er dabei ist, sich in den Sprachen seiner Kontexte zu bewegen und zu lernen sowie sich der Sprache seiner Individualität anzunähern. Das birgt Potenzial in sich, Traumaspuren in den tiefen Schichten sei-ner Emotionalität und in seiner Seele Stück für Stück abzutragen.
Ein sehr gelungener Roman. Schuld und Sühne, Enthaltsamkeit und Sexualität, Traumatisierung unter der Obhut des christlichen Glaubens und Selbstschutz über Lernleidenschaft, krude Realität des Alltags und die Vision einer erfüllten Zukunft, das sind die Themen, die den Leser fesseln. Unbedingt lesenswert!