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WAI
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München

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Bewertung vom 10.11.2015
Die verklärte Diktatur
Welsch, Wolfgang

Die verklärte Diktatur


ausgezeichnet

Der Rezension von Detlef Kühn ist in den allermeisten Punkten vehement zu widersprechen.
Vorbemerkung: Vor allem aber muss man wissen, dass Kühn respektive die F.A.Z. wegen dieser bzw. einer ähnlichen Rezension der Autobiographie von Wolfgang Welsch („Ich war Staatsfeind Nr. 1“) vom Deutschen Presserat gerügt worden ist. Kühn war nämlich als Direktor des Gesamtdeutschen Instituts in die Causa Welsch involviert – und als Betroffener verbietet es der Pressekodex, Rezensionen in eigener Sache zu veröffentlichen. Wolfgang Welsch hat seine Geschichte geschrieben und das veröffentlicht, was er hat veröffentlichen wollen. Es grenzt an Voyeurismus, wenn Kühn von „unklaren Details“ spricht – wem nützt das? Welche Details aus Welschs Privatleben gehen ihn etwas an?
Welsch war beim Mauerbau knapp über 17 Jahre alt, Schüler und Schauspielschüler, lebte in einer christlich-bürgerlichen Familie – da verwundert es doch nicht, wenn er zunächst bei den Eltern blieb und nicht in den Westen ging. Kühn spricht dann im Zusammenhang mit Welschs gescheitertem Fluchtversuch von einem „ominösen Dokument“ – was unterstellt er hier? Meint er seinen Bundespersonalausweis? Den konnte sich jeder Deutsche vor dem 13.8.1961 ausstellen lassen. Kühn fragt, „was ist die Wahrheit?“ Nach welcher Wahrheit fragt er hier? Nach welchem menschlichen Makel sucht er? Danach, dass ein 17jähriger nicht die erste Fluchtgelegenheit wahrnahm? Hier scheint mir ein erheblicher Mangel an Empathie und Verstand vorhanden zu sein.
Richtig ist, dass Welsch in der „Verklärten Diktatur“ zahlreiche Zitate zur Untermauerung seiner Analysen verwendet. Das Motiv dafür scheint Detlef Kühn nicht zu kennen bzw. geflissentlich überlesen zu haben. Als Welsch Anfang der 90er Jahre zahlreiche Strafanzeigen gegen seinen mutmaßlichen Stasi-Mörder stellte, wurde ihnen nicht nachgegangen, obwohl der § 211 StGB ein Offizialdelikt ist. Man hat ihm einfach „nicht geglaubt“ (Manfred Kittlaus). Diese Erfahrung mit einer „ungläubigen“ Justiz nötigt Welsch geradezu, alle Behauptungen immer wieder zu belegen. Weiterhin zweifelt Kühn Welschs Effektivität als Fluchthelfer an. Sind 220 gelungene Fluchten dafür kein Beweis? Warum sonst verfolgte ihn die Stasi mit drei Mordversuchen? Wegen Ineffektivität?
Die Häme Kühns gegenüber Welschs Forderung nach Anerkennung hat sich mittlerweile überholt: Am 5. Oktober 2015 erhielt Wolfgang Welsch im Europaparlament die Robert-Schuman-Medaille, u.a. für seine Verdienste um die deutsche und europäische Einheit und auch, man höre und staune, für seinen effizienten Widerstand.
Kühn bleibt in seiner als “Rezension“ bezeichneten Schmähschrift eine Antwort darauf schuldig, von welchen gegenteiligen „Fakten“ er spricht. Er hat auch nicht verstanden, welches Problem Welsch mit den Bürgerrechtlern hat. Es sei ihm hier nochmal erklärt: Die Bürgerrechtler wollten bis zum ernüchternden Wahlergebnis vom 18. März 1990 die DDR und den Sozialismus erhalten!!
Das Buch ist in Zeiten der Verharmlosung des DDR-Unrechts ein absolut notwendiges Buch. Atemlos und in beeindruckender Dichte analysiert der Autor das System der Staatssicherheit mit all ihren Folgen. Widerstand gegen den Unrechtsstaat der DDR gab es jedoch von Anfang an: durch Flüchtlinge, Fluchthelfer, später Ausreisende riskierten ihr Leben. In Wirklichkeit wurde die DDR durch permanenten Widerstand der Flucht- und Ausreisebewegung delegitimiert und wirtschaftlich ausgezehrt. Die Menschen, die durch ihre Flucht und durch Fluchthilfe Widerstand leisteten, stehen heute im Abseits, werden weder geehrt noch entschädigt. Weiterhin zeigt der Autor schonungslos den Umgang der deutschen Justiz mit dem DDR-Unrecht auf. Die Täter gingen weitgehend unbeschadet aus der zweiten deutschen Diktatur heraus, während die Opfer um ihr Recht kämpfen müssen und es oftmals nicht bekommen.
Das Buch geht weit über eine Standard-Analyse hinaus und wird zu einer Anklage gegen Ignoranz und Mangel an Empathie. Unbedingt lesenswert.