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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Steffy
Wohnort: 
Unna

Bewertungen

Insgesamt 54 Bewertungen
Bewertung vom 14.07.2024
Alte Eltern
Kitz, Volker

Alte Eltern


ausgezeichnet

Ein Thema, worüber niemand sich gerne Gedanken macht. Ein Thema, worüber wir uns früher oder später doch Gedanken machen müssen, wenn unsere Eltern gerade noch da sind.

Dieser literarische Essay ist persönlich und bringt dennoch sachkundig viel Wissen und Informationen mit, um es dem Leser zugänglicher zu machen. In der einen Form oder anderen betrifft es uns ja letztlich auch. Und Kitz geht mit diesem schmerzhaftem Thema so offen und ehrlich um. Die Vulnerabilität, mit der der Autor die Trauer über was war und was sein wird zulässt, ist unglaublich tröstlich.

Der Autor begleitet die fortschreitende Demenz seines Vaters. Durch Rückblenden und Retrospektiven, aber auch durch Introspektion und dem Versuch zu verstehen durch wissenschaftlicher Recherche, Belegen und Erläuterungen, wird das Thema des Erinnern und des Nichtmehrseins verständlicher, greifbarer.

Kitz schafft es, für das Unbeschreibliche Worte zu finden, die berühren, bewegen, beruhigen. Zwischen Zeilen von Zweifel, Frustration und Trauer verstecken sich auch kluge, wertvolle Erkenntnisse, die der Autor erfasst. Die Veränderungen mit dem Altern der Eltern und die damit einhergehende Überforderung sind menschlich. Loslassen, wenn es Zeit ist, ist ein gewaltiger Akt, der trotz reichlicher Vorbereitung, niemals leichter sein wird.
Sorgen und Hilflosigkeit werden trotz der Erkenntnisse nicht weniger, doch ist es tröstlich zu wissen, dass man damit nicht alleine ist.

Ein aufschlussreiches, berührendes Buch über ein Thema, das sonst nur Trauer und Angst verspüren lässt.

Bewertung vom 14.07.2024
Nach uns der Sturm
Chan, Vanessa

Nach uns der Sturm


sehr gut

Aufwühlend, spannend, zutiefst erschreckend. Wenn man an den zweiten Weltkrieg denkt, ist Malaysia nicht das erste Land, woran man denkt. Umso interessanter finde ich diese Perspektiven, die uns durch "Nach uns der Sturm" gezeigt werden.

Unter der Kolonialherrschaft der Briten geht es dem Land Malaya nicht gut. Schlimmer wird es aber noch durch den Einmarsch von Japan. Zerrüttet und voller Angst, aber auch voller Idealen und Hoffnung, wird Cecily zur Spionin für die Japaner und ihre Handlungen bringen Folgen mit sich. Der Verrat an ihrem Land sowie ihrer Familie nagen an ihr.

Über die Jahre passieren den Menschen, aber für Cecily persönlich, unsagbare Dinge. Dinge, für die sie sich die Schuld gibt und sie letztlich in einer Verfassung erstarren lässt, in der sie nicht mehr den Alltag bewältigen kann.
Der Roman wechselt in den Zeiten. Vor der Invasion Japans und danach. Cecilys Erfahrungen und Gedanken wechseln sich auch mit denen ihrer Kinder ab und uns werden Szenen von Brutalität, Gewalt und Trauer gezeigt.

Graphisch und hautnah werden Bilder gezeichnet, die den Magen Radschläge machen lässt. Der Krieg dehumanisiert die Menschen und Hass und Angst verändern Menschen so schnell, dass sie sich kaum selber mehr erkennen.

Der Schmerz ist präsent und zeigt sich in den Handlungen der Charaktere, welche sehr gut entwickelt sind und deren Motive und Handeln nachvollziehbar machen. Wie bleibt man Mensch, wenn man täglich mit solchen Gewalten konfrontiert wird?

Ein großartiges Debüt. Ein Roman der ergreifend ist, gewaltig in Sprache und Szenerie, in Historie, Recherchearbeit und Aufklärung.

Bewertung vom 14.07.2024
Cascadia
Phillips, Julia

Cascadia


gut

Mysteriös und atmosphärisch tauchen wir in den Alltagstrott von den beiden Schwestern Elena und Sam ein, die mit ihren schlecht bezahlten Jobs versuchen, Berge von Rechnungen zu tilgen und sich nebenher noch um ihre kranke Mutter zu kümmern. Der Bund der beiden Schwestern ist stark und unzertrennlich und es schein zunächst, als könnte sie nichts trennen.

Für mich werden im Laufe der Geschichte Elenas Motive und Handlungen, aber auch Ihre Zuneigung zum Bären nicht ganz verständlich. Man hat häufiger aus Sams Perspektive etwas erfahren, ihre Sorgen und Ängste, welche in dieser Situation in der die beiden sich befinden, natürlich sind. Elenas Faszination für den Bären sind zu Beginn noch einleuchtend, jedoch gleitet ihre Figur nur so hin und wirkt fremd.
Auch für Sam ist Elena nun fremd, denn mit dem Erscheinen des Bären zeigen sich Differenzen auf, die sich vorher nicht bemerkbar gemacht haben.
In Rückblenden erfährt man schnell, wie sich die Beziehung der beiden sonst so innigen Schwestern verändert hat und wie diese Erkenntnisse die Gegenwart beeinflussen. So viele Jahre auf engem Raum und trotzdem weiß man wenig über die Person, von der man denkt, man stehe ihr nahe.

Die Charakterzüge von Sam, aber auch von Elena, kommen deutlich aus der Perspektive von Sam hervor. Die Trauer, das Leid und die Verantwortung, die sie Tag für Tag mit sich schleppen, in der Hoffnung, dass bald alles besser wird. Und trotz unausweichlicher Enden, kommt das Ende immer überraschend.

Julia Philipps schreibt unaufdringlich und doch sehr schön. Das bildhafte San Juan und die Natur, das Meer und die gemütlich vor sich hinbewegende Fähre.

Obwohl ich die langsam fortschreitende Geschichte der beiden Schwestern und dem Bären gerne und überraschend schnell gelesen habe, bleiben immer noch so viele Fragen um den Bären und die Mystik, die er mit sich bringt und ein tragisches Schicksal einfordert. Wie durch den Wald hallt es "Warum?".

Bewertung vom 22.01.2024
Nachbarn
Oliver, Diane

Nachbarn


ausgezeichnet

Kaum zu glauben, dass diese Kurzgeschichten damals von einer noch so jungen Frau geschrieben worden sind. Ich habe zunächst drei Geschichten gelesen und wollte immer mehr, obgleich die Erzählungen bis ins Knochenmark traurig sind.

Zutiefst berührend und aufwühlend zeigt uns die Autorin Einblicke von den Leben Schwarzer Menschen in den Südstaaten Amerikas zur Jim Crow Ära in den 60er Jahren.

Diane Oliver schreibt souverän und erweckt eine Atmosphäre die intensiv, spannend und doch beängstigend ist. Wie ein kühler Windzug, der die Haut streift. Die Art und Weise wie sie von den Leben schwarzer Amerikaner erzählt verdeutlich die Angst und Furcht, die diese Menschen gefühlt und tagein tagaus durchlebt haben müssen. Rassismus und Armut sind wiederkehrende Themen, die die Realität dieser Menschen widerspiegeln.

Es ist einfach, mit den Figuren mitzufühlen. Aus den Geschichten geht eine unglaubliche Tiefe hervor, ein großes Verständnis für die prekären Situationen, in denen sie sich wiederfinden, während sie nur versuchen das Leben zu navigieren, zu überleben. Die Geschichten sind so verschieden und doch gibt es so viele Gemeinsamkeiten. Sie haben so viel Potential für ausgereifte Romane, stehen aber auch als Kurzgeschichte großartig.

Berührt und beeindruckt lassen diese Geschichten mich zurück, welche an Aktualität nicht verloren haben. Diane Olivers Stimme ist laut und mutig und ich wünschte, ihr wäre ein längeres Leben gegönnt gewesen. Kraftvoll und klug, trotz der nur 22 Jahren.

Bewertung vom 22.01.2024
Wellness
Hill, Nathan

Wellness


sehr gut

Ich bevorzuge lieber kurze Bücher, mit einer Durschnittslänge von 300 Seiten. Hier haben wir 700+ gerne gelesene Seiten. Nathan Hill hat’s wieder geschafft mich zu unterhalten. Nach seinem Debütroman "Geister" habe ich gespannt gewartet, wann wieder was Neues von ihm erscheinen wird und habe mich so gefreut, dass es nun endlich soweit war.

"Wellness" ist gepackt mit unglaublich vielen Themen. Einige angeschnitten, andere intensiver ausgearbeitet. Alles, was erwähnt wurde, hat die Geschichte von Jack und Elizabeth so viel Tiefe und Detail geschenkt, dass obwohl das ein oder andere Kapitel recht ausufernd war im Nachhinein doch so gut reingepasst hat.

Wahrnehmungen und Widersprüche, Verbindungen und Einsamkeit, Gier und Verlust. Ob basierend auf Fakten oder nicht, der Placebo Effekt mit dem sich Elizabeth auseinandersetzt wird auf‘s Kleinste seziert.
Thematisch ist es reich an Paradoxen. Trotz des tiefen Bewusstseins über das vergiftete Internet und der Einsamkeit in der modernen Ehe und der trüben Welt, gibt es einen einfühlsamen Optimismus, geprägt von all den Geschichten die wir über unser Leben und unsere Liebe erzählen, welche unsere Glauben und Hoffnungen formen und unser Handeln beeinflussen. Geschichten, die unsere Beziehungen durch Zeit und Alter erhalten.

Die Charakterentwicklung ist hier außerordentlich. Man fühlt mit ihnen und ist manchmal auch voller Frust über ihre Entscheidungen und Handeln. Hill versteht es, wie man Seiten füllt. Mit Beobachtungen und Gefühlswelten, die authentisch und echt wirken. Ich wollte mehr, ich wollte alles für sie. Ich wünschte ihnen Erkenntnis und persönliches Wachstum. Diese 700+ Seiten haben sich viel kürzer angefühlt. Ein tolles Leseerlebnis, das durch einer aufregenden Sprache unterstützt wird.

Bewertung vom 23.07.2023
Cleopatra und Frankenstein
Mellors, Coco

Cleopatra und Frankenstein


gut

Durch den Hype hatte ich unglaublich große Erwartungen an das Buch. Vor allem, weil es mit Sally Rooney verglichen wird, die meiner Meinung nach einen unglaublich interessanten literarischen Stil hat und deren Charaktere abstoßend und zugleich bemitleidenswert sind.

Wie auch Frank und viele andere Charaktere, die in diesem Roman in Erscheinung treten, war ich anfangs von Cleo angetan. So jung und schön in ihren 20ern, anstrebende Künstlerin und idealistisch, gerade zu naiv. Tieftraurige Jahre in der Jugend und eine dysfunktionale familiäre Beziehung. Leider verflog ihr Charme schnell und sie wirkte als Hauptcharakter eher wie eine leere Hülle.

Ein wenig ist das Buch auch prätentiös, so wie es versucht, subtil und nonchalant zu wirken. Diese Fassade versuchen aber auch immer wieder die beiden Hauptcharaktere aufrechtzuerhalten, genauso wie die Nebencharaktere, die Teil des Umfelds von Cleo und Frank sind und man lernt, dass deren Leben durch die enge Verbindung zu dem Liebespaar sich ebenfalls verändern.

Mellors erzählt nicht nur von der Romanze zweier Personen, sondern führt auch schwierigere Themen wie Alkohol- und Drogenkonsum, Suizid und mentale Gesundheit an, welche aber leider nur oberflächlich bearbeitet werden und just wieder versinken. Es fehlte oft an Substanz und obwohl manche Dialoge doch sehr spitz, ausdrucksvoll und überzeugend waren, verliert sich das alles wieder schnell in der Tragik und Schönheit Cleos, so blendend, dass eine intensivere Auseinandersetzung oder bedeutungsvoller Diskurs schnell im Keim erstickt wurde.

Obwohl ich Bücher mag, wo nicht viel passiert außer dem Alltäglichem, sind die Charaktere einfach nicht rund genug bis auf Eleanor, welche aber nur ein Nebencharakter ist. Alles wirkte leider zu sehr wie eine Romantisierung depressiver Phasen und selbstzerstörerischem Verhalten und ist für mich fernab von Großstadtromanze, sondern hätte vorab Triggerwarnungen dringend nötig.

Es liest sich einfach und bietet hier und da schöne Zitate. Zum Ende hin hat es wieder Fahrt aufgenommen. Es ist eines dieser Bücher, die man entweder mag oder nicht und obwohl ich nicht immer mit dem Charakteren mitfühlen konnte, habe ich immer auf eine gute Wendung für sie gehofft.

Bewertung vom 13.07.2023
Sylter Welle
Leßmann, Max Richard

Sylter Welle


sehr gut

Kurzweilig und dennoch berührend. Nostalgisch und fast schon melancholisch. Zum schmunzeln und auch zum weinen.

"Sylter Welle" lässt erinnern und sehnen, wirft einen sanft zurück in die Tage zwischen Familie und Ferien, geteilte Momente mit den Großeltern, rückblickend gewonnene Erkenntnisse und ist geprägt von wiederbelebende Gefühlen.

In einer Sprache die beobachtet und gleichzeitig verschmitzt in der Vergangenheit schwelgt fühlt man sich als Leser schnell auf Sylt. Trotz der Ausschweifungen durch sämtliche Rückblenden und Einblicke in eine Familiendynamik, findet Leßmann immer wieder zurück zu seinem Anfang und rundet jede Anekdote gekonnt mit der aktuellen Erfahrung aus. Mal tiefgründig, mal poetisch, mal voller Witz und Humor.

Max hat mit seinem Roman für sich die Frage beantwortet, ob man die eigene Familie auch lieben würde, wäre man nicht mit ihnen verwandt. Obgleich man nicht immer einer Meinung ist, sich Ansichten stark differenzieren, man den Mut und das Recht haben sollte, sich gegen die Familie zu stellen, ist für ihn klar, dass die Liebe die er für seine Leute empfindet immer da.

Das Älterwerden und das Altern werden wahrgenommen. Wie wenig sich Menschen denen wir nahestehen ändern und uns mit der Zeit doch noch überraschen können. Die Vergänglichkeit des Lebens, welche unausweichlich ist und trotz des Bewusstseins, bin neben Max auch ich traurig über manche Dinge, Beziehungen, wie sie verlaufen und ich denke "Daran, dass ich das gar nicht zu schätzen weiß" (Seite 183).

Bewertung vom 28.04.2023
Keine gute Geschichte
Roy, Lisa

Keine gute Geschichte


gut

Ein wenig bin ich, naja, enttäuscht ist zu hart ausgedrückt, doch irgendwie trifft es das doch, denn wie Arielle bereits beschrieb, ist das alles nicht sehr "deep".

Was "Keine gute Geschichte" so besonders macht ist für mich die gelungene Sprache. Eine Balance aus authentischem Pott und Zynismus.
Die Sprache die die Protagonistin verwendet ist authentisch. Vulgär mit Anglizismen und Wörtern, die eine Social Media Managerin wie sie wohl häufiger verwendet. Ihre Sprache und die Art wie sie sich ausdrückt ist gemäß der Zeit, doch fand ich es machmal schon zu sehr überspitzt. Ja, sie kennt und lebt ihre Branche, aber es ist auch ziemlich unerträglich wie inkohärent manche Gedanken sind, obwohl mir die Begriffe und Satzstrukturen so nicht unbekannt sind. Die Reise von der Großstadt zurück in die Heimat hat Arielles Mundwerk wohl gelockert.
Die Ausdrucksweise der Bewohner des Prekariat passen auch hier zu ihren Charakteren. Trockener Humor und Ironie, grob und direkt und dennoch eine leichte Herzlichkeit, die die ein oder andere Person rüberbringt.

Es ist alles so oberflächlich und wiederum doch so passend zu Arielle, die in ihren letzten Jahren nur so an der Oberfläche ihrer Vergangenheit und Probleme gekratzt hat.
Die Art und Weise wie sie Probleme und Traumata verdrängt fand ich als Leser unglaublich traurig und gleichzeitig waren ihre Motive und ihr Verhalten doch so nachvollziehbar.
Es ist ein Auf und Ab zwischen Entsetzen und Mitgefühl, Bestürzung und Hoffnung, für Arielle, für die verschwundenen Mädchen, für eine Auflösung der Geschehnisse, die Arielle seit über 20 Jahren beschäftigt und schmerzt.

Es werden viele Themen angeschnitten, doch wie auch bei Arielle bleibt alles ein wenig in der Luft hängen. Das Patriarchat bekommt sein Fett weg, doch auch sexuelle Gewalt, Drogenkonsum sowie die prekären Verhältnisse in den verwahrlosen und runtergekommenen Wohnvierteln am Rande der Stadt werden aufgeführt. Es wurde auch sehr in der Klischeekiste gewühlt. Nicht nur was die Beschreibungen der desolaten Wohnviertel angeht sondern auch deren Bewohner. Ganz falsch sind sie nicht, denn ich als Pottkind habe hier und da eine Szene wieder erkannt, doch alles in diesem überspitzten Ton zu streichen ist doch ein wenig zu streng. Ich denke, ein Stich gegen Staat und Gesellschaft wäre für mich schön zu lesen gewesen. Diese Verhältnisse entstehen nicht nur durch die Bewohner, sondern auch durch die Ohnmacht die diese Menschen empfinden.
Depressionen sind hier ebenfalls Thema, doch es ist mir nicht "deep" genug, obwohl es doch so gut Arielle als Protagonistin beschreibt, denn schließlich sehen wir alles aus ihren Augen.

Um die 200 Seiten sind nicht sehr viel und obwohl alles auf den Punkt gebracht ist, wurde für mich nur das Minimum für eine gute Geschichte erbracht. Es hat alles Hand und Fuß, doch Krankheiten und Zustände sind Erklärungen für Verhaltensweisen, aber sie entschuldigen nicht Handeln. Ich wünschte, es wäre etwas "deeper" in Hinblick auf Charakterentwicklung, doch ich sehe auch, wieso es so geworden ist, wie es nun ist, obwohl ich nicht immer mit Arielle sympathisieren konnte.

Ich mochte es, kann mir aber vorstellen, dass es nicht bei jedem Anklang gewinnen könnte. Es fühlt sich für mich noch unvollendet an, auch wenn nun für mich Klarheit vorliegt.

Bewertung vom 28.04.2023
Institut für gute Mütter
Chan, Jessamine

Institut für gute Mütter


sehr gut

Man wird sehr schnell in diese dystopische Welt eingeführt. Alles was die Autorin erzählt wirkt so plausibel, als wäre das auch unser Alltag. Obwohl ich hier und da Fragen zur Entstehung des Institutes hatte, waren diese während des Lesens schnell vergessen. Die Autorin erzählt in einem Ton voller direkter, unverblümter Rohheit von dem Geschehen, dass die ersten Rückfragen zum System erst mal nebensächlich sind. Alles scheint sehr authentisch zu wirken.

Es wird sich sozialkritisch geäußert und zwischendrin ist auch ein dunkler, satirischer Humor zu erkennen. Frauen werden schnell als "schlechte Mütter" verurteilt, der Mangel an Mitgefühl von Sozialmitarbeitern ist erschreckend, vor allem auch, wenn es um die mentale Gesundheit von Frauen geht. Die Erwartungen und der Druck den Mütter haben und dass sie immer und alles geben müssen ist enorm. Wie einfach sie verächtlich beurteilt werden, während Väter nur das Minimum zu tun scheinen und dafür schon gefeiert werden. Diese Ungerechtigkeit wird vor allem durch das Institut für Männer ersichtlich und den Frauen ist dies sehr bewusst.
Das Buch geht auch auf die Intersektionalität in Rassen und Kulturen ein und wie diese die Idee von richtiger Erziehung, die die Gesellschaft hat, beeinflusst. Ängste und Sorgen verschiedener Familiendynamiken werden dargestellt. Auch die Schwierigkeiten, die Familien mit Migrationshintergrund haben, wenn sie ihre Methoden oder Sichtweisen den Autoritäten verständlich machen wollen, werden sehr detailreich durch die vielen, facettenreichen Charaktere veranschaulicht.

Wenn wir die Entscheidung von Frida verfolgen, fällt es einem doch schwer Mitgefühl für sie zu entwickeln und gleichzeitig sympathisiert man doch mit ihr und den anderen Müttern. Dieser grausame Ort an den die Frauen gebracht werden gleicht Big Brother. Ein Überwachungsstaat, die Kontrolle über so eine private und intime Sache wie die Erziehung der eigenen Kinder durch den Staat, von künstlicher Intelligenz bewertet zu werden, Dinge, die unvorstellbar klingen und doch so echt und nah durch die Autorin herangebracht werden.

Obwohl ich mir gewünscht hätte, man würde mehr über die Entwicklung der Gesellschaft und des Staates bis zu der Einführung des Institutes erfahren, fand ich die Geschichte doch sehr spannend. Der Mittelteil war doch etwas zäh, da viele Praktiken in der Schule repetitiv waren, doch das Buch gibt einem viel zu denken.
Es ist moralisch mehrdeutig und es gibt kein gut oder böse, sondern alles schwimmt in der Grauzone. Es wirft viele Fragen auf. Wie weit der Staat eingreifen sollte, welche Maßnahmen sinnvoll wären, an welchen Faktoren man gute Eltern festmachen sollte. Es zeigt verschiedene Aspekte von Klassizismus, Rassismus, Sexismus und Kindesmissbrauch. Die Ungerechtigkeit wird hier sehr deutlich und leider sind einige der Beispiele nicht nur fiktional, sondern finden sich auch in der Realität wieder. Ein spannendes Buch mit ergreifender Erzählweise, treffender Satire, dunklem Humor und Beobachtungen eines schwierigen Themas, das zum Nachdenken anregt.

Bewertung vom 19.02.2023
Lichte Tage
Winman, Sarah

Lichte Tage


sehr gut

Es sind die 1960er in Oxford und eine Begegnung zweier Jungen erweckt eine plötzliche Freundschaft. Ellis, künstlerisch interessiert und von seiner Mutter ermutigt, seiner Affinität nachzugehen und weiterhin in der Schule zu bleiben. Oft in Gedanken versunken und observierend. Im Kontrast zu ihm Michael, der von nun an bei seiner Oma aufwächst. Wortgewandt und nahezu poetisch betrachtet er die Welt. Voller Gefühle und Impulse formen die beiden Jungen eine Freundschaft, an die sie festhalten und an ihr wachsen, als Trauer und Einsamkeit ihnen gegenüberstehen und sie Zuflucht in Kunst und Träumen finden.

Und dann ist da Annie. Kann man so viel Liebe für zwei Personen gleichzeitig empfinden? Und wie fühlt sich der nahezu Verlust der allerersten Liebe an? Wenn ein klagendes Loch sich nach Zusammengehörigkeit sehnt? Sowohl von Michael als auch von dem Paar, welches Ellis und Annie fortan gebildet haben.

Zwischen Intensität und Euphorie habe ich gefühlt und geliebt, gesehen und gefürchtet. Die Autorin schafft eine warme Atmosphäre und zugleich wird man von einer kühlen Brise überrascht. Wie es Michael erging, womit Ellis zu kämpfen hat, wie die Balance aus dem Schwanken gerät, von einer Freundschaft, die doch so felsenfest und eine solche Standhaftigkeit zeigte, doch durch das notwendige Loslassen aus Selbstschutz, nun brüchig erscheint.

Bittersüß, voller Liebe und Zwischenmenschlichkeit, erfahren wir von Liebe in ihren vielen Facetten. So innig und tiefsinnig, dass jeder Moment einen prägenden Eindruck hinterlässt und trotz des gleichzeitigen Schmerzes alles ist, was man will.

"Lichte Tage" ist berauschend schön. Poetische Beschreibungen von warmen Landschaften und Bildern bringen einem Kunst näher, Introspektionen und nuancierte Charaktere, die Handeln und Emotionen versuchen zu verstehen. Trotz der schweren Melancholie und der Trauer gibt es Freude. Freude am Leben und der Liebe. So wie wir uns an die alltäglichen Freuden festhalten. Denn was bleibt uns, wenn nicht die Hoffnung? Auf Freundschaft und Liebe.