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Benutzername: 
M.Akal
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Bewertung vom 27.03.2017
Alles, was ich sehe
Curtis, Marci Lyn

Alles, was ich sehe


sehr gut

Maggie ist siebzehn Jahre alt. Und sie wurde von einem Tag auf den anderen blind. Die Welt da draußen scheint nun bedrohlich. Ständig stürzt sie oder sie stößt sich an Gegenständen. Der weiße Langstock nervt. Ihre Freundinnen von früher melden sich kaum noch. Doch der zehnjährige Ben krempelt Maggies Leben gehörig um und zwar nicht nur wegen seinem gut aussehenden Bruder Mason, der übrigens der Lead-Sänger von Maggies Lieblingsband ist. Maggie kann Ben sehen! Das ist zunächst ein Geheimnis, dass sie zusammen schweißt. Maggie findet in Ben einen wundervollen Freund, doch sie verletzt ihn. Und liegt es nicht an ihrer unfreundlichen Art, dass alle sie verlassen? Maggie kämpft hart gegen ihre inneren Konflikte. Und dann sind da noch die hohen Erwartungen ihrer Mutter, die ihre Träume durch Maggie verwirklichen wollte.

Gut erzählt!

Der Jugendroman von Marci Lyn Curtis erschien 2016 im Carlsen Verlag. Der Roman ist 432 Seiten stark und packt die Leser schon mit dem ersten Satz: “Blumensträuße sind nicht so meins.” Das ist so unverschämt ehrlich, dass sie damit unser aller Sympathie hat. Zu Beginn werden die vagen Vorstellungen, die die meisten Leute über die Blindheit haben besprochen. Orte und Personen werden in dem Roman genauso häufig beschrieben, wie in anderen auch. Das liegt zum Einen daran, dass die Hauptfigur nicht von Geburt an blind ist und aus geheimnisvollen Gründen zeitweise sehen kann. Zum Anderen ist das Buch auf diese Weise lesefreundlich für ein junges Publikum, die eigentliche Zielgruppe.

Sequenzen mit Beschreibungen von dem Sichtbaren und Unsichtbaren wechseln sich ausgewogen ab. Mal sind es haargenaue Beschreibungen der Gegenstände im Umfeld, mal sind es Düfte, Geräusche und die Erinnerungen, die sie in Maggie wach rufen. Immer wieder heitert Maggie den Leser durch ihren Sarkasmus auf, etwa wenn sie nach einem Sturz lauthals flucht oder wenn sie ihren Opa als “Unterwasserfurz” bezeichnet, weil er sich so schrecklich langsam bewegt. Sie bezeichnet sich selbst als eine “talentierte Erfinderin von kreativen Flüchen”. Mit ihrer erfrischend ehrlichen Art findet sie den Weg in die Herzen der Leser. Insgesamt ist die Handlung witzig erzählt, deswegen war ich nach nur einer Woche mit dem Buch durch. Maggies Art brachte mich überall, ob in der Bahn oder zu Hause, zum kichern. Der Roman entführt den Leser aus dem Alltag. Erstaunlich ist, wie reflektiert Maggie im Laufe des Geschehens mit ihrer Situation umgeht. Sie packt längst verdrängte Gedanken aus und traut sich sogar mit einem selbstkritischen Blick ihr Handeln zu überdenken. Doch darauf kommt sie erst, als Ben sie scharfzüngig kritisiert.

Lustige Dialoge und liebenswerte Figuren

Ab und an liefern sich Ben und Maggie einen rhetorischen Schlagabtausch. Der hat es nämlich faustdick hinter den Ohren und flucht ebenso frech wie Maggie. Ben ist genauso jung wie weise oder er ist einfach nur altklug. Flüche wie “heilige Scheiße” findet man überwiegend am Anfang und im mittleren Bereich des Romans. Daher wirken sie künstlich hineingestreut. Anscheinend sollten sie die Jugendsprache authentischer machen. Amüsant finde ich einen Dialog zwischen Maggie und einem kleinen Mädchen am Waschbecken einer öffentlichen Toilette.

Einmal scheint die Autorin durch: Ben sagt im ersten Trialog mit Maggie und der Sekretärin “fürs Protokoll” und wenige Seiten später benutzt Maggie dieselbe Wendung in einem Gedankengang. Vielleicht interpretiere ich auch zu viel hinein oder es liegt an der Übersetzung?

Fazit

Dieser Roman ist ein Mutmacher. Die Leser erleben zusammen mit Maggie, wie traurig die Isolation ist und wie befreiend die Freundschaft. Seine Hauptaussage ist: “Egal was passiert, du bist wertvoll und du hast verborgene Talente, die dich zum Sieg führen werden.” Jetzt wo ich das Buch durchgelesen habe, merke ich, dass ich es vermissen werde, wie man eine gute Freundin vermisst. Einen Kauf ist es allemal wert.