Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Benne

Bewertungen

Insgesamt 43 Bewertungen
Bewertung vom 02.04.2024
Notes on an Execution (eBook, ePUB)
Kukafka, Danya

Notes on an Execution (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Seine Geschichte, ihre Sichtweisen

„Notizen zu einer Hinrichtung“ beginnt mit einem Statement, das einer Wucht gleicht: Ansel Packer wartet auf seine Hinrichtung. Nur noch wenige Stunden bleiben ihm bis zu seinem Tod.

Diese Stunden bilden das Grundgerüst des Romans. Ansels Kapitel, in der Du-Perspektive geschrieben, sind nur gespickt mit Informationen aus der Vergangenheit. Wenige Details werden offenbart, dafür umso mehr Gefühle. Der Rückblick auf sein Leben geschieht in Kapiteln aus der Sichtweise seiner eigenen Mutter, der Schwester seiner ehemaligen Freundin und einer Polizistin, die in dem Fall ermittelt, für den Ansel angeklagt wurde. Seine Geschichte ist es im Roman aber nicht, denn solche Täter werden hinreichend beleuchtet und in den Fokus gerückt. Genug Medien stellen Serienmörder in den Vordergrund und vernachlässigen die Opfer. „Notizen zu einer Hinrichtung“ ist eine frische Abwechslung. Zahlreiche weibliche Betroffene erzählen hingegen ihre Geschichten.

Besonders gefallen hat mir Danya Kukafkas Umgang mit Gut und Böse. Ansel selbst philosophiert häufig sehr ernst über das Wesen des Menschen. In genau dem Sinne ist keiner der Charaktere vollständig gut oder vollständig böse. Gleichzeitig hält man den Atem an, denn in dem literarischen Roman, der sensible Themen anspricht, kommt die Spannung nicht zu kurz. Und oben drauf noch ein unvergleichbarer, manchmal poetischer Erzählstil in leisen Tönen von unglaublicher Explosionskraft.

Bewertung vom 12.03.2024
Hallo, du Schöne (eBook, ePUB)
Napolitano, Ann

Hallo, du Schöne (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

In allen Farben des Zusammenhalts

„Hallo, du Schöne“ erobert dich nicht im Sturm, nicht von der ersten Seite an. Sondern Satz um Satz dauert es, bis es sich ganz langsam in dein Herz einschleicht. Und das ist auch gut so.

Ann Napolitanos neuer Roman beginnt ganz rudimentär mit den ersten Kindheitstagen des Protagonisten Williams im Jahr 1960. 48 weitere Jahre und viele weitere Figuren umspannt die Handlung auf den folgenden 520 Seiten. Denn William ist nur der heimliche Hauptcharakter, in Wirklichkeit dreht sich die Geschichte um die Familie und Geschwister Padavano: Julia, Sylvie, Emeline und Cecilia. Die Erzählung springt von Charakter zu Charakter ohne doppelt zu erzählen. Vor allem im letzten Viertel brilliert diese Erzählweise der Autorin. Dort sind die Stärken der Geschichte zu finden. Die Kapitel sind nicht mehr rund 10-12 Seiten lang, sondern nur 3-6, sodass eine Geschwindigkeit aufgebaut wird, der der Geschichte zuvor gefehlt hat. Der Rhythmus wird schneller, es kommt Schlag auf Schlag und dann, kurz vor Ende, wird es noch einmal ganz leise.

Titel, Cover und Handlung waren selten so gekonnt miteinander verknüpft. Der Ausdruck „Hallo, du Schöne“ taucht zwar nur selten auf, spannt sich aber wie ein Rahmen um die Geschwister. Eine zauberhafte Phrase, die besser nicht hätte gewählt werden können. Und vom Cover schwärmt sowieso jeder. Umso erfreulicher, dass es in der Handlung als Gemälde/Wandbild indirekt Erwähnung findet. Denn der Leser kann sich am Ende aussuchen, ob das Bild der Frau in der Geschichte selbst Erwähnung findet und womöglich sogar eine der Schwestern darstellt.

Bewertung vom 28.02.2024
Das andere Tal
Howard, Scott Alexander

Das andere Tal


gut

Was würdest du tun?

„Das andere Tal“ ist ein klassischer Fall von: Prämisse yeah, Umsetzung meh. Wenn du in dem westlichen Tal deine Welt vor 20 Jahren und im östlichen Tal in 20 Jahren vorfinden würdest, würdest du hinübergehen? Wenn ja, wohin? Wieso? Würdest du wieder zurückkommen? Was könnte schiefgehen? Wem sollte man es erlauben?

Vor allem der letzten Frage widmet sich Scott Alexander Howard, promovierter Philosoph, in seinem Debüt. Zu Anfang des Romans möchte seine Protagonistin Odile eine Ausbildung machen, an dessen Ende sie eine derjenigen ist, die entscheidet: Wer darf von Osten und Westen kommen? Wer darf gehen? Eine unheimlich spannende Idee, auf die viele Dilemmata folgen, die sich Odile stellen muss. Der erste Teil des Buches war deshalb ein durchdachtes Gedankenexperiment, in dem der Autor womöglich alle Register des philosophischen Erzählens gezogen hat.

Sobald sich die Handlung von ebendieser Ausbildung entfernt und Odile nicht mehr mit Fallbeispielen konfrontiert wird, fällt meiner Meinung nach der Spannungsbogen stark ab. Odile wird zu einer immer undurchschaubareren Person und ganz abrupt wechselt die Charakterzusammensetzung. Es fühlte sich auf weite Strecken sogar wie ein ganz anderes Buch an. Die Brisanz, die heftigsten Vorkommnisse, die in der Theorie passieren könnten, finden nicht statt. Es scheint, als würde der Autor nicht alles ausschöpfen und vor allem auf den letzten 100 Seiten auf der Stelle treten. Schade, denn es steckte wirklich Potenzial in diesem Roman.

Bewertung vom 27.02.2024
Demon Copperhead
Kingsolver, Barbara

Demon Copperhead


gut

(K)ein neuer großer, amerikanischer Roman

Ich hatte so einige Schwierigkeiten mit Barbara Kingsolvers neuem Werk, manche mögen es gar als ihr Magnum Opus bezeichnen: „Demon Copperhead“. Handlung und ebenso Titel sind ein wenig Dickens Geschichte über David Copperfield angelehnt. Ein Junge wächst bereits mit Schicksalsschlägen auf, kämpft sich durch ärmliche unsägliche Verhältnisse. Es ist im Grunde „nur“ eine Lebensgeschichte. Coming of Age bespickt mit „Slice of Life“, wobei die Slices hier besonders groß und ausschweifend sind.

Und das ist es, was andere begeistert und sie in einen Sog zieht, mich aber stets hinterhergeschliffen hat: Barbara Kingsolver lässt sich Zeit. Seite um Seite, Kapitel um Kapitel fühlte ich mich an „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara erinnert, in welchem der Leser die tragischen Lebensumstände des Protagonisten präsentiert bekommt. In Yanagiharas Buch waren mir jedoch alle Charaktere, sogar Nebenfiguren, näher als jegliche in Copperheads neuem Roman. Zwischen mir und Demon war immer eine Distanz, dessen Ursprung ich im Schreibstil zu finden versuchte. Denn es folgen Sätze auf Sätze, die keinen inhaltlichen Zusammenhang haben. Stakkato statt Lesefluss. Klar, Kingsolvers Einfallsreichtum und Mut spürt man, aber der rote Faden innerhalb eines Kapitels bestand eher aus kurzen, abgeschnittenen Garnresten.

„Demon Copperhead“ hat mich ganz schön herausgefordert. Dabei war ich anfangs Feuer und Flamme, die Erwartungen waren hoch. „Das könnte mein neuer Lieblingsroman werden“, dachte ich in den ersten Zügen sogar. Ich bin mir sicher, dass der Roman die breite Masse erreichen und viele sogar begeistern kann, Demon und ich werden so schnell aber leider keine Freunde.

Bewertung vom 08.12.2023
Himmelfahrt (eBook, ePUB)
Binge, Nicholas

Himmelfahrt (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Hinauf in den Tod

In der englischen Originalausgabe wird „Himmelfahrt“ (OT: „Ascension“) als Mix aus „Der Marsianer“ und „Interstellar“ beschrieben. Zwei Werke - ungeachtet ob als Roman oder Film -, die ich in Nicholas Binges Roman nicht wiederfinde. Weder Mark Watneys Isolation und Erfindungsdrang noch die Finesse von Christopher Nolans Drehbuch. Viel mehr könnte Binge von Denis Villeneuves „Arrival“ inspiriert worden sein, sind die Parallelen doch nicht von der Hand zu weisen: Ein unerklärliches, plötzlich auftauchendes Phänomen. Ein Wissenschaftler, der vom Militär rekrutiert wird, um es zu erforschen. Die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit. Das Phänomen, welches den Hauptcharakter signifikant verändert. Und auch Jeff Vandermeers „Auslöschung“ kam mir in den Sinn: Eine Gruppe von Wissenschaftlern auf einer Mission, deren Vorgänger scheiterten.

„Himmelfahrt“ bedient sich genau der richtigen Elemente aus bekannter Sci-Fi-Unterhaltung und untermauert das mit der Prise wissenschaftlicher Recherche, mit deren Hilfe es einem unwissenden Leser als äußerst plausibel verkauft werden kann. In mehreren langen Briefen schreibt Harold Tunmore seiner Nichte von einer Expedition zu einem gigantischen Berg, der im Ozean aufgetaucht ist. Die Erzählweise mittels Briefen ist gewagt. In ruhig erzählten Romanen funktioniert sie wunderbar, einer rasanten und actionreichen Handlung wie dieser, schadet sie aber eher. Harold gibt vor, schnell diesen und jenen Brief hingekritzelt zu haben, während es um ihn herum drunter und drüber geht. Irgendwie unglaubwürdig, oder? Aus irgendeinem Grund erwähnt er ständig, dass er das Geschehene notieren müsse, dass es so wichtig sei. Von ihm persönlich diese Dinge zu erfahren ist sehr wohl interessant, manchmal aber auch ganz schön cheesy (die Rückblicke!). Aus der Ich-Perspektive funktioniert die Erzählweise hervorragend, die Rahmengeschichte hätte dennoch anders von statten gehen können.

Der Roman wird nicht der ganz große, hellste Stern am Sci-Fi-Himmel sein, er wird nicht der neue „Marsianer“. Dafür ist „Himmelfahrt“ aber auch zu gewagt, Harold zu ambivalent in seinen Handlungen und manche Passagen zu undurchdringlich. Dennoch ist der Roman mutig und einfallsreich und das zieht mich direkt in seinen Bann.

Bewertung vom 18.11.2023
Hope's End
Sager, Riley

Hope's End


ausgezeichnet

Twists and Turns

Ein weiblicher Hauptcharakter. Eine herausfordernde Situation. Ein einzigartiges Setting.
Riley Sagers Thriller laufen immer nach einem ähnlichen Schema ab. Ein Schema, das wirkt. In seinem neuesten Roman „Hope’s End“ (OT: „The Only One Left”) muss die Pflegerin Kit nach Hope’s End, einem Anwesen, dessen Ruf ihm vorauseilt. Denn dort soll 1929 ein dreifacher Mord innerhalb der Familie geschehen sein. Alle Menschen im Ort glauben, dass die einzige Überlebende, Lenora Hope, die Mörderin war. Und ebendiese muss Kit pflegen.

Ich bewundere Sagers Einfallsreichtum und Schreibgeschwindigkeit. Jedes Jahr erscheint ein neuer origineller Pageturner, dessen Prämisse es nicht zulässt, das Buch ungekauft liegen zu lassen. So auch bei seinem neuesten. Besonders die Atmosphäre und die Geheimnisse im Haus haben mich begeistert. Die ständige Ungewissenheit, dieses neue Umfeld nicht zu kennen, nagt natürlich an Kit, aber auch an mir als Leser.

Der Autor schafft es, wie sonst auch, mehrere Zeitebenen zu verflechten. Hier geschieht das durch Seiten, die von einer Schreibmaschine geschrieben wurden und Lenoras Vergangenheit beleuchten. Dadurch ändern sich ständig die Sichtweisen, es gibt neue Enthüllungen und man rätselt und rätselt und rätselt. Natürlich schafft man es kaum, die letzten Plot-Twists vorauszuahnen, dennoch sind diese absolut schlüssig. Die allerletzten Seiten waren dann tatsächlich seit langem mal wieder ein Thriller-Abschluss, der mich sehr zufriedengestellt hat.

Hope’s End: Solide Thrillerkost aus den Vereinigten Staaten. Mal sollte das Buch nicht immer vollständig ernst nehmen, kann aber damit durchaus seinen Spaß haben. Für Fans von: Lisa Jewell, Ruth Ware, Freida McFadden.

Bewertung vom 29.10.2023
Endstation Malma
Schulman, Alex

Endstation Malma


sehr gut

Reise in die Vergangenheit

Es kann einfach nicht geradlinig verlaufen. Alex Schulman kann scheinbar keine chronologische Geschichte erzählen. Ist ja auch nicht schlimm. Denn in seinem Roman „Die Überlenden“ (2021 auf Deutsch erschienen) alternieren zwei Zeitachsen mit denselben Protagonisten andauernd, die eine chronologisch, die andere antichronologisch erzählt. Auch in „Verbrenn all meine Briefe“ (2022) spinnt sich eine Dreiecksbeziehung über mehrere Zeitebenen. Und nun in „Endstation Malma“ öffnet Schulman drei Erzählstränge, die sich scheinbar alle im gleichen Zug abspielen. Denkt man zumindest. Hier ein kleiner Spoiler, den der Klappentext nicht verrät, jedoch die Handlung nach nur drei Kapiteln offenbart: Die Charaktere befinden sich zwar auf der gleichen Zugstrecke, aber in unterschiedlichen Jahrzehnten. Und das gewitzte: Sie sind alle miteinander verwandt.

Schulman wagt es, eine kleine, feinfühlige Familiengeschichte aus drei Perspektiven zu erzählen, in denen er sich als Autor nicht verliert. Eine Jahreszahl hinter den Kapitelnummern hätte das Erkennen des Zeitstrangs einfacher gemacht, denn gewisse Namen werden ständig in jedem Kapitel erwähnt. Und durch die Tatsache, dass der Leser viel mehr in die Vergangenheit eintaucht als der Zugfahrt beizuwohnen, macht das Einordnen der Personen in die Handlung nicht einfach.

Noch immer Frage ich mich: Wieso wurde die Geschichte nicht in einer chronologischen Gesamthandlung erzählt? Momentan lautet die Antwort wohl: Weil Alex Schulman es kann. Kunstvoll verwebt er die einzelnen Stränge, gibt nicht zu viel preis, aber streut gewisse Informationen an den richtigen Stellen, sodass die Leser es vor den Charakteren wissen. Innerhalb der Kapitel hätte ein einfacher „Strich“ zwischen den Absätzen geholfen Vergangenheit von der Gegenwart zu trennen. Dennoch merkt man dem Buch die Mühe und das Können an.

„Endstation Malma“ ist eine schnelle, unterhaltende Lektüre und ein Griff ins Belletristik-Regal, der sich lohnt. Allein schon wegen des fantastischen Covers, das sich von den deutschen Vorgängern deutlich abhebt.

Bewertung vom 31.08.2023
Die Lügnerin
Karig, Friedemann

Die Lügnerin


ausgezeichnet

Hinters Licht geführt

„Die Lügnerin“, oder wie ich es nennen würde „Wassermann, Roulette und Glaube“ hat mich hinters Licht geführt. Auf Basis der Inhaltsangabe erhoffte ich mir einen Roman mit einer Protagonistin voller fieser Geheimnisse und Lügentechniken. Therapiesitzungen, in der sie Schicht für Schicht ihr Leben offenbart bis die große Lüge enttarnt wird, die alles vorhergehende in ein anderes Licht rückt.

Stattdessen hatte die Handlung nichts mit dem eigentlichen Thema zu tun. Im ersten Drittel wird der – ehrlicherweise sehr lügenhafte – Beruf der Protagonistin lang und breit erklärt. Sie arbeitet bei einer Firma, die anhand von Horoskopen, Aszendenten u.Ä. Menschen am anderen Ende der Telefonleitung ihre Zukunft voraussagt. Hätte ich das vorher gewusst, wäre ich dem Buch fern geblieben. Irgendwann driftet der Plot dann in die Welt der Glücksspiels ab und die Protagonistin bekommt einen Charakter an die Seite gestellt. Am Ende wird es plötzlich stark religiös und ich hatte absolut keine Ahnung mehr, was überhaupt passierte. Die Aneinanderreihung vieler Versatzstücke ergibt nicht automatisch ein großes Ganzes und wo kein Handlungs- oder Spannungsbogen ist, da schalte ich als Leser auch ab. Die Abwesenheit von dialoganzeigenden Zeichen tut sein übriges. Allein durch kursive Schrift wird Dialog gekennzeichnet. Wer wann spricht, ist häufig unklar.

Der Roman ist kurz und vor allem durch Karigs Wortwahl und Stil verhältnismäßig schnell zu lesen. Leider ist „Die Lügnerin“ aber meiner Meinung nach Opfer eines falschen Marketings und konnte mich nicht überzeugen. Oder stand der Mond einfach falsch?

Bewertung vom 20.06.2023
Die Affäre Alaska Sanders
Dicker, Joël

Die Affäre Alaska Sanders


ausgezeichnet

Wer verbirgt diesmal etwas?

Marcus Goldman kehrt zurück! Nach den Ereignissen in „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ (DWÜDFHQ), Joel Dickers Durchbruch aus dem Jahr 2012, kann der Autor Goldman es nicht lassen, in seiner Vergangenheit zu leben. Harry Quebert und das Städtchen Aurora beschäftigen ihn immer noch. Keine Angst! Selbst Leser, die den Vorgänger nicht gelesen haben sollten, werden in die Geschehnisse eingeführt. Nach und nach werden für „Die Affäre Alaska Sanders“ relevante Dinge wiederholt, sogar das physische Buch „DWÜDFHQ“ von Joel Dicker existiert in der fiktiven Welt, nur geschrieben von Goldman.
In Joel Dickers neuem Buch geschieht (mal wieder) ein Mord, der aufgeklärt werden muss. In jedem anderen Kriminalroman häufig ein nach Schema F verlaufender Plot gefüllt mit Klischees. Zum Glück schafft Dickers Schreibstil es, die Handlung komplex und immersiv zu gestalten. Wie gewohnt werden Geheimnisse und Unklarheiten nicht direkt aufgelöst. Der Leser wird auf die Folter gespannt, manchmal ein wenig zu lange. Denn wie das so ist, steckt meist viel mehr hinter dem Verhalten und den Aussagen der Charaktere. Hätten sie von Anfang an die hundertprozentige Wahrheit gesagt, hätte Marcus Goldman nichts mehr zu ermitteln, wo wäre da die Spannung?
Diesmal ist es auffällig, dass Marcus immer zur richtigen Zeit die richtigen Menschen trifft, sodass die Handlung vorankommt. Er reist von Nord nach Süd, von New Hampshire nach Florida, dann Boston, Mount Pleasant und Montreal. Es wiederholt sich viel, wird noch einmal aus einer anderen Perspektive erzählt und das wirklich immer und immer wieder.
Es ist eine Fortsetzung zu „DWÜDFHQ“, die man nicht unbedingt gebraucht hat, die herzlich wenig mit Harry Quebert zu tun hat, die man aber lesen kann und will, um Marcus Goldman als Protagonisten wieder zu treffen. Es ist eine Wohltat zurückzukehren und beinahe 600 Seiten lang Dickers Schreibstil genießen zu können.

Bewertung vom 12.10.2022
Unsre verschwundenen Herzen
Ng, Celeste

Unsre verschwundenen Herzen


sehr gut

Auf der Suche nach der Mutter und andere Vorkommnisse

Es kann sein, dass aus Celeste Ngs Feder imposante Romane erscheinen. Ihr zuvor erschienenes Buch „Kleine Feuer überall“ hat mich beeindruckt, aber erst die Umsetzung als Serie hat mich umgehauen. Mit ihrem neu erschienenen Roman geht es mir wiederum ähnlich wie mit ihrem Debüt „Was ich euch nicht erzählte“. Eigentlich ist alles da, was ich für ein tolles Leseerlebnis brauche: Starke Protagonist:innen, abwechslungsreiche Handlung, feine Sprache. Dennoch hat mir auch dieses Mal etwas gefehlt. Denn, wenn ich ehrlich bin war die Handlung im Kern gar nicht abwechslungsreich. In Dialogen und viel zu langen Rückblenden geschieht das Wahre, aber im Jetzt, ist die Geschichte von Bird schnell erzählt: Er lebt mit seinem Vater in einem Studierendenwohnheim, seine Mutter hat er seit Jahren nicht mehr gesehen, nachdem in den USA asiatisch aussehende Menschen diskriminiert wurden und immer noch werden. Also sucht er sie.
Der erste Teil des Buches, der sich um Birds Geschichte, seine Vergangenheit und die Sehnsucht nach seiner Mutter dreht, ist am interessantesten. Eine kindliche Sichtweise, die jedoch bereits erwachsene Züge trägt und jeden Tag mit Zeichen auf der Straße konfrontiert wird, die ihn nachdenklich machen. Dann vollzieht sich ein tonaler Wechsel am Midpoint der Geschichte. Dieser nimmt die Energie heraus, die Klimax zerbricht und der Story fehlt es an Substanz. Was vorher noch abwechslungsreich und unvorhersehbar war, dümpelt nun vor sich hin. Zwischen den Charakteren passiert erstaunlich wenig, bei allem was passieren könnte. Dialoge tragen keinerlei Anführungszeichen, ein Mittel, was meinetwegen angewandt werden darf, aber nicht, wenn ich dafür eine Stelle fünfmal lesen muss und danach immer noch nicht weiß, ob der zweite Satz zur wörtlichen Rede gehört oder nicht. Ng ist offensichtlich eine Verfechterin vieler stilistischer Mittel. Analogien, Metaphern und Vergleiche werden gestreut wie Salz auf einen zugefrorenen Gehweg am Morgen. Manchmal ist weniger mehr.

Dabei bleibt „Unsre verschwundenen Herzen“ trotzdem ein ausdrucksstarker Roman, der eine klare Message am Ende vermitteln kann. Die Prämisse ist klug, die Umsetzung ein wenig schwammig. In der Story stecken viele Ansätze, die Leser:innen durchaus lange zu denken geben.