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DieArtderIdaGratias
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München

Bewertungen

Insgesamt 20 Bewertungen
12
Bewertung vom 13.02.2018
Böhmen ist der Ozean
Krcmárová, Rhea

Böhmen ist der Ozean


sehr gut

Seit William Shakespeare etwa 1610 in seiner Romanze „The Winter’s Tale“ das slawische Binnenland Böhmen als ländlich idyllischen Sehnsuchtsort ans Ufer des (Mittel)-Meeres gesetzt hatte „Bohemia. A desert country near the sea“, scheint dieser Ort, den es zwar gibt, aber nicht so gibt, der also real und gleichzeitig irreal ist, die Phantasie der Menschen beflügelt zu haben.

Doch nicht nur in der Kunst bleibt „Bohemia“ bis heute eine Projektionsfläche, eine Leerstelle, die jeder phantasievoll füllen darf, sondern auch der Bevölkerung Böhmens selbst wird nachgesagt ein besonderes Faible für Erdachtes zu haben und das, wo ihr Wahlspruch doch „Pravda vítězí“ (Die Wahrheit zuerst) ist.

Böhmen inspiriert: Von Shakespeares über Ingeborg Bachmann, ihr melancholisches, letztes Gedicht „Böhmen liegt am Meer“ von 1964 ist bei einem Pragbesuch entstanden, von Hans Magnus Enzensbergers Essay „Böhmen am Meer“ bis zu Anselm Kiefer, einem zeitgenössischem Maler, der mit archaischen Materialien wie Blei, Erde und Silber Weltlandschaften kreiert, so auch sein großflächiges Gemälde von 1996 mit dem Titel „Böhmen liegt am Meer„. Das hat es sogar über das große Meer, den Atlantischen Ozean ins Metropolitan Museum of Art geschafft.

Auch in dem im Februar 2018 erschienen Erzählband „Böhmen ist der Ozean“ der in Prag geborenen und in der Österreichischen Hauptstadt lebenden Autorin und transmedialen Künstlerin Rhea Krcmárová ist Böhmen eine Projektionsfläche. Die durchweg weiblichen Erzählerinnen erinnern das reale Böhmen des Jan Hus, der russischen Besetzung, dem flammenden Widerstand gegen die brutale Eindämmung des viel zu kurzen Frühlings, von dem Land der Bespitzelung der Dissidenten, der Samtenen Revolution, dem Neuanfang mit dem Dichterpräsidenten, der die einstigen Opfer der vermeintlichen Einheit opferte, dem wirtschaftlichen Ankommen in Europa und vermischen es mit dem mystischen Böhmen, den Legenden und Märchen vom mächtigen Urvater, von Undinen, Hexen und Wassermänner, von umherirrenden Geistern und vorchristlichen Göttinnen, die für die Böhmen so real sind wie ihre eigenen Erinnerung.



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Quelle: Anselm Kiefer Böhmen liegt am Meer, 1996



In den neun Erzählungen speisen sich die weiblichen Erzählstimmen aus dem Ozean der Geschichten ihrer böhmischen Herkunft. Wassergeborenen Nixen gleich, die es ans Ufer gespült hat, machen sich auf die Suche nach ihrem Ursprung, der Quelle ihres Seins. Frauen, Mädchen, die sich fern der geographischen und emotionalen Heimat arrangieren mussten, lassen die Leser teilhaben an dem Blick zurück, in eine Vergangenheit, die nicht mehr ist oder vielleicht auch nie wahr.

Inhaltlich verbindet das Element Wasser die Geschichten der unterschiedlichen Heldinnen, ob Acht- oder Achzigjährige, ob Immigrantin, Dissidentin oder Handleserin. Starke Frauen, Vorbilder, die nicht aufgeben und ihren Weg finden. Wasser wie Erinnerungen gibt es in dem Band in vielen Formen, ob als Quellen, Bäche, Seen, Flüsse, oder Ozean. Es wird geschwommen, gebadet, auf ihnen gerudert, gereist oder in ihnen fast ertrunken. Es umschließt die Orte wie Inseln, ist Grenze und auch nicht.

Stilistisch ist es die Musikalität der Autorin, die beeindruckt. Poetisch, melancholisch und zart aber auch kraftvoll, grollend und tobend wie die Musik ihrer Ahnen klingen die Geschichten in den Köpfen der Leser.

Mit diesem märchenhaften Erzählband führt Rhea Krcmárová die literarische Tradition würdig fort: Böhmen bleibt uns als Land der utopischen Hoffnung auf eine bessere Welt, von der wir auf keinen Fall lassen sollten.

Bewertung vom 29.01.2018
Bananama
Hirth, Simone

Bananama


sehr gut

Auf beklemmende Weise geht Simone Hirth den Widersprüchen und Absurditäten unserer Gesellschaft auf den Grund. Dabei kratzt sie mit herrlich ironischem Blick an der Utopie eines sicheren Lebens, bis diese endgültig zerbricht.

„Wenn wir jetzt die Tür immer zusperren müssen, sind wir dann eingesperrt in Bananama, sind wir dann nie wieder frei?“

Die Figur des „aus der Gesellschaft und ihren Konventionen Aussteigenden“ ist äußerst beliebt in der europäischen Literaturgeschichte. Das Streben nach individueller Freiheit, das Gefühl der Entfremdung, das Bedürfnis nach größtmöglichen Entfaltung der Persönlichkeit sind sehr dankbare Topoi, sind sie doch stets auf neue aktuell. Ob nun ein Querulant aus dem 18. Jahrhundert wie Michael Kohlhaas, der verbissen für sein Recht streitet, ein sich dem geschäftigen Treiben verweigernder Oblomov im zaristischen Sankt Petersburg oder gar der nackte Anführer des fernen Kokosnussordens Engelhardt in Krachts „Imperium“ wie auch die junge Ich-Erzählerin in Hirths „Bananama“, im deutschen Irgendwo, sie alle dienen dem Leser als Projektionsfläche für die Darstellung des Spannungsverhältnisses zwischen den Ansprüchen der Gesellschaft und des Individuums.

Das kleine Mädchen beschreibt sehr eindrucksvoll, mit dem kindlichen Blick für die Wahrheit hinter den Dingen, ihr Leben in der Unfreiheit, die der Preis für das Freiheitsstreben ihrer Eltern ist. Rapunzel gleich wird sie weggesperrt, fern gehalten von der Schule & gleichaltrigen Freunden & Verwandten. Ihr Turm ist ein verwunschenes Paradies ohne Bananen & bösem Zucker, dafür mit eigener DIY Busshaltestelle, der einzige menschliche Außenkontakt ist der Mann, der die fast täglich eintreffenden Internetshoppinggüter anliefert, beschult vom Vater, um die gelebte Systemkritik in die nächste Generation zu implementieren, und natürlich selbstversorgt vom heimischen permakulturellen Garten, in dem mehr Tod als Leben herrscht.

Deren „Permakulturerfinder“ Bill Mollison sagt: „Die wichtigste ethische Entscheidung ist, Verantwortung für unser eigenes Leben und das unserer Nachkommen zu übernehmen. Und zwar JETZT.“

Diese Verantwortung nimmt Hirths Rapunzel eines Tages ihren Eltern aus der Hand, sehr emanzipiert, ganz ohne Prinz & macht sie sich auf dem Weg und steigt aus, aus diesem Anti-Leben, das ihr mehr ungeliebtes Gefängnis ist, als die gelebte Utopie eines besseren Seins.

Ein ganz wunderbarer zweiter Roman von Simone Hirth ist das, Absolventin des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig, weniger Sprachmontage als in ihrem Debut, was mir Stilistikspießerin entgegen kommt, aber trotzdem sprachlich eindrucksvoll. Und inhaltlich? Ich muss geschehen, ich hatte manches Mal die schreckliche Vermutung Frau Hirth hätte mich und mein Lebensumfeld gestalkt, so bekannt kamen mir, wenn auch überzeichnet und auf zwei Charaktere zugespitzt, Verhalten und Argumente ihrer Figuren vor. Meine unbedingte Leseempfehlung, ob für die schwafelnden Theoretiker in Kreuzberg und der Schanze oder die Fundamentalisten im pommerschen Niemandsland.

Bewertung vom 05.08.2017
Runaway
Sedlaczek, David

Runaway


sehr gut

Ein ambitioniertes, gesellschaftskritisches Debut. Meist spannend, wenn auch eher auf einer psychologischen Ebene, als dass es sich im Blutrausch verliert. Gut gezeichnete Figuren, allen voran der Protagonist ist ein interessanter Held, der nicht dem üblichen Klischee des zu Unrecht eingesperrten Sympathieträgers entspricht. Die Idee die Flucht als Roadtrip durch die USA anzulegen, hat mir gut gefallen. Die Stimmung des Gehetzten ist durch die Beschreibung der stundenlangen Fahrten Überland, der Motelzimmer, der Dinnerketten sehr gut ausgedrückt worden. Ich finde den Plot an einigen Stellen nur nicht ganz realistisch und den Realitätsanspruch stelle ich persönlich an Genre Literatur wie Thriller. Ich störe mich an Dingen wie z.B. wird der immense Medikamenten-Cocktail, den die Patienten in der Psychiatrie einzunehmen gezwungen werden, beschrieben, der physische und psychische Auswirkungen hat, unter dem ich mir eine solche Ausbruchsplanung und – durchführung nur schwer vorstellen kann, auch wie die Anschaffungen von elektron. Equipment während der Flucht mit den Geldmitteln aus nur einem kurzen Aushilfsjob möglich sein soll . Weiter frage ich mich, wie ein Mietwagenvertrag ohne Kreditkartenhinterlegung funktioniert. Kleinigkeiten vielleicht über die andere hinweglesen, die aber meinen Lesegenuss etwas mindern, trotzdem ein lesenswerter Erstling.

Bewertung vom 26.06.2017
Der Gaukler und die Tänzerin
Steyer, Nicole

Der Gaukler und die Tänzerin


weniger gut

Magdalene, die aufgeweckte 6 jährige Tochter des Landgrafen zu Darmstadt-Hessen und seiner wunderschönen langjährigen Mätresse ,wird zufällig Zeugin, wie die eifersüchtige Geliebte ihres Vaters Luise von Spiegel ihre im nach einer Fehlgeburt im Kindbett liegende Mutter tötet. Aus Angst vor der Rache dieser Frau, die nichts zu verlieren hat, da die Schwangerschaft von ihrem langjährigen Geliebten, dem Wanderzirkusbetreiber Lorenzo, bald sichtbar sein wird, und somit ihre Chance den Grafen dazu zu bringen sie zu einer ehrbaren, sprich verheirateten, Frau und das ungeborene Kind zu seinem zu machen, mit jedem Tag geringer wird, läuft das Mädchen aus der Stadt. Der Graf lässt nach der geliebten Tochter suchen, gibt aber bald auf, als Frau von Spiegel das Gerücht streut, Romi hätten die Kleine entführt. Dies führt dazu, dass der Graf alle Roma auf seinem Herrschaftsgebiet zum Abschuss frei gibt, ein Kopfgeld auslobt, an jeden zu zahlen, der einen Angehörigen dieser eh schon ungeliebten Minderheit tötet. Bei einer kleinen Gruppe genau dieser herumziehenden Heimatlosen findet Magdalene nun Unterschlupf und liebevolle Aufnahme. Sie wird zu Suni und tritt mit ihnen als Tänzerin auf Märkten auf. Ihre Erinnerung an ihr früheres Leben verblassen mit der Zeit, zurück bleibt ein unbestimmbares Sehnen.


Erst als sie den 2 Jahre älteren, ehemaligen Schokoladenjungen aus dem Haushalt ihres Vaters, Mathis, wieder trifft, mit dem sie einst eine innige Kinderfreundschaft verband, kehren diese langsam zurück. Mathis war damals auch aus dem Haus geflüchtet, aber direkt dem skrupellosen Lorenzo in die Arme gelaufen, der durch Zwang und Schläge allerlei exotische Menschen um sich versammelt hat, die er in seinem Zirkus für sich recht einträglich ausstellt. Seine Beziehung zu Frau von Spiegel hält über die Jahre an und eines Tages, nach einem unerwarteten Aufeinandertreffen mit der nun fast erwachsenen Magdalene, gesteht sie dem ihr hörigen Geliebten ihre einstige Tat, und bittet ihn die junge Frau, die ihr immer noch gefährlich werden kann, zu finden und zu töten.


Von dieser Suche nach Suni handeln nun die weiteren gefühlten 390 Seiten von 400. Endlos wiederholt sich das Aufspüren durch den grausamen Lorenzo, Sunis abenteuerliche Flucht in letzter Minute, gefolgt von einer freundlichen Aufnahme bei gutherzigen Menschen. Aufspüren, Flucht, Aufnahme, immer nach dem selben Prinzip Zufall, also "hyperkonstruiert". Ein ewiger, einlullender Kreislauf bis zum Happy End. Währenddessen kämpft die junge Frau mit ihren zwei Identitäten, diesen belastenden, inneren Konflikt zwischen Roma und deutschem Adel wird die Erzählerstimme nicht müde ein weiteres und noch ein weiteres Mal zu erwähnen. Der auch für den unsensibelsten Leser überaus deutlich mit den zwei Mädchennamen ausgedrückt wird.


Alles in allem wirkt der aktuelle historische Roman "Der Gaukler und die Tänzerin" von Nicole Steyr leider uninspiriert auf mich, der Plot zu unelegant konstruiert, der Weg vom Beginn zum Ende der Geschichte mir zu oft nach zäher Füllmasse, um auf die Seitenzahl zu kommen. Sprachlich hingegen fehlt mir die Opulenz, die Üppigkeit der Beschreibungen von Raum, Zeit und Figuren, die ich an diesem Genre liebe.

Bewertung vom 09.05.2017
Ketzerhaus
Hübner, Ivonne

Ketzerhaus


gut

Kritik:
Ein wunderschönes Cover, dass einen Bildausschnitt aus dem Gemälde "Die Fabel vom Mund der Wahrheit" von L. Cranach d. Ältere Werk "" zeigt, nach dem ich im Buchhandel sicherlich motiviert gegriffen hätte. Eine von Männern bedrängte Frau. Ich finde auch, ein passend gewähltes Motiv, um die Situation der Protagonistin des Romans darzustellen.

Der Plot des historischen Romans "Ketzerhaus" von Ivonne Hübner, die Darstellung der Zeit, der Beginn der histor. sogen. Neuzeit, so eine Art Zwischenzeit, in der das mittelalterlichen Weltbild der gesellschaftlichen Mehrheit nun erstmals unkittbare Risse bekommt, die detaillierte Beschreibung des Settings in Görlitz, die mich neugierig auf diese Stadt gemacht hat, die gelungene Verflechtung von Haupt- und Nebenhandlungen, sowie die Zeichnung der Haupt -und Nebenfiguren, all das hat mir gefallen.
Der Roman ist kenntnisreich geschrieben, natürlich gut recherchiert.

Leider hat mich die alles überlagernde Erzählerstimme gestört. Wäre sie eine handelnden Figuren, also als Zeitzeuge für mich erkennbar, hätte ich mich möglicherweise auch mit ihrem Duktus, der gerade zu Beginn mehr von den Gebrüdern Grimm als von Luther inspiriert klang, arrangieren können, so empfand ich ihn oft als aufgesetzt. Hier erzählt und beschreibt dieselbe, allwissende Figur, vermittelt ihre Sicht auf alles und jeden, was ich über 568 Seiten dann doch etwas eintönig fand.

Bewertung vom 07.05.2017
Schierlingstod
Dorra, Simone

Schierlingstod


sehr gut

Simone Dorra ist mit „Schierlingstod – Ein Reformationskrimi“ das Kunststück gelungen einen wirklich unterhaltsamen, bis zur letzten Seite spannenden, gut recherchierten historischen Roman zu schreiben, aus dem von jeder Seite das pralle Leben der umbrüchigen Reformationszeit quillt.

Fidelita von Frauenalb, eine junge, heilkundige Nonne, begleitet als Pflegerin die gichtkranke Gräfin Johanna von Eberstein nach Cannstadt. Diese besucht den Handelsort am Neckar, fern der heimischen Burg und ihrem Ehemann, lediglich in Begleitung einiger weniger Bediensteter, um neben einer Bäderkur auch ein paar eigene, ehrgeizigen Pläne zu machen.

In ihr angemietetes Haus bestellt sie ihren Lieblingssohn Bruno ein, um ihn vor vollendete Heiratspläne zu stellen. Eine gewinnbringende eheliche Verbindung soll die leeren Schatullen füllen und damit der Familie zu altem Glanz verhelfen.

Doch es kommt anders. Nach einem gemeinsamen Abendessen wird Bruno am nächsten Morgen sterbend in seinem Bett gefunden. Wenig später stellt Fidelita eine Schierlingswurzelvergiftung fest. Jene Pflanze, die sie regelmäßig außerhalb der Stadtmauern sammelt, um der Gräfin daraus Umschläge zur Schmerzlinderung zu bereiten.

Nachdem Tod ihres Lieblingssohnes ist die Gräfin gezwungen etwa zwei Wochen auf die Abholung durch ihren Mann Graf Wilhelm in Cannstatt auszuharren, ohne den Leichnam nach Hause bringen zu können. Es besteht die Gefahr, dass durch eventuelle offizielle Ermittlungen der Ruf der Familie leidet, deshalb stimmt sie auch zu, als ihr jüngster Sohn Otto den protestantischen Theologieprofessor der Universität Tübingen, Valentin Schmieder, ins Haus holt, um den Fall diskret zu untersuchen.

Magister Schmieder macht sich daran das Personal, die Köchin Bärbel, ihren Sohn Andres, Brunos Freund aus Kindertagen, die ambitionierte Zofe Clarissa, das Küchenmädchen Magdalena, den Kutscher Jörg, natürlich auch die von Standesdünkel beherrschte Gräfin selbst, und sogar die Verfechterin des alten Glaubens Fidelita zu befragen.

Die Gespräche bleiben lange ergebnislos, bis er sich mit der jungen Nonne zu einem effizienten und in ihrem theologischen Schlagabtausch höchst amusanten Ermittlerduo zusammen schließt.

Nach einer ungeplanten Entführung, einem verbotenen Flirt, nächtlichen Überfällen, einer heimlichen Romanze und einem weiteren Mord können die Zwei das Netz aus Geheimnissen und Intrigen endlich entwirren.

Ein höchst unterhaltsamer historischer Kriminalroman, mit einem gut konstruierten Plot, stimmig gezeichnete Figuren, einem dicht gewebten, aber trotzdem nicht aufdringlichen belehrenden, historischen Hintergrund und einem überaus sympathischen Ermittlerduo, das sich mit diesem Fall für eine ganze Romanreihe qualifiziert hat.

Bewertung vom 25.09.2016
Der Mädchenreigen
Gantert, Susanne

Der Mädchenreigen


gut

Das altbekannte Personal aus dem "Fürstenlied" der Susanne Gantert hat es diesmal mit einem besonders perfiden Verbrechen, dem Kidnapping junger Mädchen, für ein pädophiles Spektakel, eine Art Incentive zur Wahlbeeinflussung zu tun.

Das Oberhaupt des Welfenhauses Braunschweig-Wolfenbüttel, Herzog Julius plant 1580, ganz Herr seiner Zeit, die Flüsse Ocker und Bode miteinander zu verbinden, um einen Anschluss an die Elbe und damit zur Nordsee zu erreichen, als Tor für den zukunftsträchtigen Atlantikhandel.

Diese mittelfristig möglicherweise sehr einträglichen Pläne, verlangen dem prosperierenden Herzogtum einen hohen Einsatz ab und sind schon einmal gescheitert, der Druck das dies erneut passiert, ist groß, da die konkurrierenden wirtschaftlichen Interessen anderer Herzogtümer und vor allem das der freien Hansestadt Braunschweig berührt werden.

Der ehrgeizige Thronfolger Heinrich Julius versucht die Widerstände mit Hilfe des undurchsichtigen, württembergischen Adeligen Martin von Kaltenburg zu überwinden, dessen immer und immer wieder vom Erzähler gebetsmühlenartig beschworene äußere Schönheit in Verbindung mit seinem häßlichen Charakter doch arg stereotyp daherkommt.

Gleichzeitig ist der junge Konrad von Velten zum herzoglichen Sonderermittler ernannt worden, der sich mit wissenschaftlicher Methodik besonders schwerwiegenden Kriminalfällen widmen soll. Sein erster Fall ist der der jungen Elise, Tochter des wohlhabenden Braunschweiger Kaufmanns Lorenz Kale, die angeblich von einem feuerspeienden Drachen entführt worden ist. Schnell stößt er auf weitere vermisste Mädchen und trifft die unter Gedächtnisverlust leidende Laura, deren nach und nach wiederkehrende Erinnerung ihm eine große Hilfe bei der Aufklärung der mysteriösen Vorfälle ist.

Der historische Hintergrund ist sicherlich gewissenhaft recherchiert, wobei gerade die Darstellung der Empörung über die abweichende Sexualität doch zu sehr aus der heutigen moralischen Wertung beschrieben scheint, ohne weiter auf kulturelle und soziale Besonderheiten des 16. Jahrhunderts einzugehen. Der, für den Beginn der Neuzeit typische Konflikt zwischen Verharren im Aberglaube einerseits und dem Aufbruch in eine neue Geisteswelt andererseits, werden in diesem historischem Krimi geografisch in der deutschen Provinz verortet, was mir gefällt, ist mir aber zu plakativ lehrerhaft und punktuell im Plot aufgezeigt. Es wird weniger durch die Figuren getragen als von der Erzählerstimme vermittelt. Auch dass fast das gesamte Personal verwandtschaftlich verbunden ist und irgendwo eine, wenn auch winzige Rolle spielen muss, ist mir zu konstruiert.

Ein wunderschön gestalteter Roman aus dem auch dafür bekannten Gmeiner Verlag, mit zusätzlichen Informationen über die historischen Hintergründe, um die Fiktion von den Tatsachen abzugrenzen, sowie einem Personenregister und einem Glossar. Trotzdem für mich leider ein historischer Kriminalroman mit Schwächen, die mein Lesevergnügen etwas geschmälert haben.

Bewertung vom 16.08.2016
Kopfzecke (eBook, ePUB)
Blauensteiner, Iris

Kopfzecke (eBook, ePUB)


sehr gut

Es ist später Vormittag, während ich das hier in mein Mac Book hämmere, noch im Bett sitzend, im zu großen T-Shirt, aus der Kategorie, ein textiles Überbleibsel von irgendeinem Ex, die Haare, fürs Frühstück im Bett, ungekämmt zus. geknotet, der Kaffeebecher, nordisches Design und seit ich es mir leisten kann nicht mehr aus dem schwedischen Möbelhaus, zum 2. Mal gefüllt mit dem Überlebenshelfer schlechthin, meinem geliebten Milchcafé, 1/3 Espresso, 2/3 heiße Milch, dazu ein Madeleine, ein fluffiges frz. Biskuitgebäck, oder auch gerne einer mehr, auf das ich nur in Phasen besonderem Gesundheitsbewusstseins verzichte.

Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich mich Koffein abhängig nenne , aber mir der Espresso nur zur Färbung der Milch dient, weiß, dass ich lieber aus der Kanne trinken würde, bevor ich eine mir ästhetisch nicht genehmen Tasse unter die Augen kommt, jeder, der mich auch nur ein bisschen kennt, weiß, dass das, was man in meiner neuen Heimat Brotzeit nennt, mir nie freiwillig über die Lippen käme, selbst, wenn man mich nach einer Woche Zwangsdiät aus der Wüste Gobi fischen würde.

So bin ich. Das bin ich. Das ist Teil meiner Identität.

Meine Identität, also die Gesamtheit der Eigenschaften oder auch gerne Marotten, die mich kennzeichnen, die mich von anderen Individuen unterscheiden, mich charakterisieren.

Es sind Erfahrungen, die ich gemacht habe, die mich so geformt haben, die Erinnerungen daran trage ich ihn mir. Das Frühstück bei der französischen Verwandtschaft, die erste große Liebe, ein Künstler, Gene und Sozialisation haben mich zu mich gemacht.

Was ist aber nun, wenn da eine Zecke kommt, ein Parasit, der sich statt vom Blut seines Wirtes, von meinen Erinnerungen nährt? Wenn er andockt, sich vollsaugt mit all dem, was mich ausmacht, mir mein Ich stiehlt? Was bleibt dann von mir? Wenn ich ganz anders bin, bin ich dann noch ich?

In Roman "Kopfzecke" von Iris Blauensteiner berichtet die Ich-Erzählerin, eine freiberuflich tätige Singlefrau in den 50ern über ihr Leben aufgerieben zwischen beruflichem Termindruck, dem Ansinnen ihres Kollegen aus ihrer Affaire eine Beziehung zu machen und der alles überschattenden Demenzerkrankung ihrer Mutter. Deren Ich sich vor ihren Augen auflöst, der sie morgens und abends dabei zusieht, wie das, was diese wortkarge, nun immer sprachlosere Frau ausmachte, aus deren Erinnerung verschwindet.

Sie stemmt sich mit all ihrer Kraft dagegen. Erzogen zur Härte gegen sich selbst, versucht sie in den immer seltener werdenden Momenten der Klarheit der geliebten Mutter ihr Erinnerungsfetzen zu entreißen, um deren Vergangenheit zu entschlüsseln und damit die schmerzlichen Lücken ihrer eigenen zu füllen.

Eine überaus berührende Geschichte, deren Besonderheit für mich das sprachliche Vermögen der Autorin ist. Durch ihre sinnlichen Beschreibungen selbst der Absurdität des Alltäglichen, der Momente, in denen doch eigentlich die Welt stillstehen müsste, hält sie mich gefangen im Kosmos der überforderten Protagonisten.

Ich fühle mich wie sie, gehetzt, mein Puls ist beschleunigt, ich eile atemlos, ohne eigene Hast, von Seite zu Seite. Ich empfinde mit ihr die Trauer über den Verlust der Mutter bevor diese gegangen ist und ahne den Schmerz der Befreiung, der darauf folgt.

Die letzte Seite ist gelesen und ich bleibe zurück. Da sind Fragen, viele Fragen.

Ein wirklich gutes Buch hat keine Antworten für uns alle, es lässt uns Lesern den Raum uns Fragen zu stellen.

Bewertung vom 02.05.2016
Schandweib
Weiss, Claudia

Schandweib


sehr gut

Das "Schandweib" von Claudia Weiss ist ein modern anmutender Entwicklungsroman im historisch prallen Setting der freien Hansestadt Hamburg zu Beginn des 18. Jahrhunderts.

Der erste Band der Advokat Hinrich Wrangel Reihe hat alles, was ein historischer Roman braucht, um seine Leser von der ersten bis zur letzten Seite völlig aus der Zeit zu reißen; das und noch viel mehr.

Es bietet einen spannenden Plot, in diesem Fall zwei Kriminalfälle. Die grausige Ermordung einer jungen Frau, deren nackter Leichnam kopflos in einem städtischen Abbort gefunden wird, sowie die wegen Körperverletzung und Sodomie festgesetze, unter dem Namen Hinrich lebende Ilsabel Brunk, der der neue, junge und äußerst idealistische Prokurator der Stadt Hinrich Wrangel als Pflichtverteidiger zugeteilt wird.

Die Geschichte verfügt über Personal, das die gesamte Bandbreite menschlicher Tiefen und Untiefen abbildet. Als da wäre der sympathische Held, hier der Jurist, Vertreter der Aufklärung, "Kapitalismuskritiker" und Kämpfer für Gerechtigkeit, mit einer emotionalen Schuld, der er sich stellen muss, sein guter Freund, hier der junge Hamburger Vikar Claussen, Vertreter der christlichen Moralethik, der betagte, jüdische Bankier Absolon und seine gebildete Tochter Ruth, geduldet, aber nicht wirklich zugehörig, die das weltmännisch Rationale mit dem alttestamentarische Prinzip der Vergeltung verbinden, der strenge, leicht gönnerhafte, sehr ambitionierte Vorgesetzte Wilkens und natürlich die ambivalente Gefühle auslösende Angeklagte.

Der Handlungsort, das stets um seine Unabhängigkeit und damit seine materiellen Vorteile ringende Hamburg, ist detailliert dargestellt, die Pfeffersackmentalität seiner Kaufleute, die im Geist der Aufklärung klingenden Salons der weißen Landhäuser, vom Unrat rutschigen Twieten, der Odeur der Fleete und der fast selbstherrliche Stolz auf ihre freie Stadt der Bewohner.

Ein wirklich sehr gelungener historischer Roman, faktenreich und detailliert beschrieben, der eine vermeintlich moderne Diskussion über Geschlechteridentität im 18. Jahrhundert anstößt, aber auch ein überaus interessanter Entwicklungsroman einer jungen Frau, die hofft als Mann die Freiheit leben zu können, die ihr als Frau verwehrt wird und deren Sehnsucht nach Liebe sie das Leben kostet.

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