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Benutzername: 
R. Krämer
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Kaiserslautern

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Bewertung vom 16.11.2022
Kompetenzentwicklung im betrieblichen Bildungswesen
Emrich, Christoph

Kompetenzentwicklung im betrieblichen Bildungswesen


ausgezeichnet

Konstruktivistische Denkansätze im betrieblichen Bildungs-wesen
Mit seiner Publikation „Kompetenzentwicklung im betrieblichen Bildungswesen“, die sich mit dem Einsatz von systemischer Supervision und Lernbegleitung bei der Kom-petenzentwicklung von Führungskräften und Mitarbeitern beschäftigt, hat unser Kollege Christoph Emrich ein wichtiges Standardwerk zur Fort- und Weiterbildung in Betrieben und Behörden vorgelegt. Ausgangspunkt des Buches sind die Thesen der konstruktivistischen Lerntheoretiker Erpenbeck und Sauter, die bereits Mitte der 90er Jahre zu der Überzeugung gelangten, dass Kompetenzlernen überwiegend am Arbeitsplatz stattfindet. Wissen und Kompetenzen, so lautet ihr Ansatz, können nicht vorab als Vorrat, sondern müssen zeitnah, sobald eine Notwendigkeit besteht, vermittelt werden. Zusammen mit dem Begründer der Ermöglichungsdidaktik, Rolf Arnold, zählen sie zu den „Pionieren“ der Kompetenzentwicklung.
Gestützt wurden diese Annahmen durch folgende Ergebnisse einer Befragung von Führungskräften von Michael M. Lombardo und Robert W. Eichinger aus dem Jahr 1996: Demnach erwarben die Befragten 70 Prozent der für das Berufsleben erfor-derlichen Kompetenzen arbeitsplatzintegriert durch komplexe Aufgabenstellungen und Herausforderungen, also beim „Learning on the job“, sowie 20 Prozent in der Zusammenarbeit und Kooperation mit anderen Personen. Nur 10 Prozent der beruflichen Qualifizierung, so das überraschende Ergebnis, wurden nach Angaben der Befragten über die klassischen Lehr- und Lernformen, wie zum Beispiel Seminare, Schulungen oder andere Formen der Wissensvermittlung, erworben. Dieses als „70-20-10“ bezeichnete Modell kann laut Emrich als wichtiger Initiator für einen Paradigmenwechsel von den klassischen Lehr- und Lernformen hin zur Kompetenz-entwicklung im betrieblichen Bildungswesen betrachtet werden: „Das Modell stellt die empirische Grundlage für die Weiterentwicklung des Bildungssystems der BA dar.“
Christoph Emrichs Ausführungen zur Kompetenzentwicklung im betrieblichen Bil-dungswesen stützen sich in erster Linie auf die Arbeiten von Rolf Arnold, der von der Erkenntnistheorie des Konstruktivismus ausgeht, „dass der Mensch die Welt durch seine Wahrnehmung selbst konstruiert.“ Es geht Emrich darum, das „Weiterlernen“ in der Arbeit nach folgenden Prinzipien zu verbessern: Stärkung der Eigenverantwortung bei den Lernenden, Verbesserung der Selbstorganisation des Lernens im Sinne der konstruktivistischen Ermöglichungsdidaktik Rolf Arnolds, vermehrte Nutzung von Lernformen zur sozialen Interaktion sowie die sinnvolle Verbindung von Lernen und Arbeiten. Emrich setzt sich für eine effiziente „Lernunterstützungskultur“ ein, die durch systemische Supervision, kollegiale Beratung und Lernbegleitung erreicht werden soll.
Interessant ist auch das Resümee, das Emrich am Schluss seiner Arbeit zieht. Laut einer Gallup-Studie fehlt es 80% der betrieblichen Mitarbeitenden an der Motivation für ein selbstgesteuertes Lernen. Axel Koch von der Hochschule für angewandtes Management in Ismaning bezeichnet 20% der Mitarbeitenden als „Top-Lernende, 30 % als potenziell „Top-Lernende“, die mit wenig Aufwand auf die Höchststufe gebracht werden können. Weitere 30% der Mitarbeitenden bedürften einer intensiven Lernunter-stützung und bei den verbleibenden 20% gestalte sich die Kompetenzentwicklung als äußerst schwierig. Emrich folgert daraus: „Damit kann man das Modell 70-20-10 neu formulieren, da die Anzahl der selbstorganisierten Lernenden die Minderheit darstellt, und damit den Weg der tatsächlichen Individualisierung des Lernenden ebnen. Die neue Formel lautet also 20-30-30-20.“ Ein weiterführendes Literaturverzeichnis und eine informative Anlagensammlung runden das lesenswerte Taschenbuch ab.

Dr. Reinhard Krämer