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Benutzername: 
Chris
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Wuppertal

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Insgesamt 21 Bewertungen
Bewertung vom 03.10.2024
Hüetlin, Thomas

"Man lebt sein Leben nur einmal"


ausgezeichnet

Von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt

In dem Buch mit dem Titel „Man lebt sein Leben nur einmal“ von Thomas Hüetlin, erschienen im Kiepenheuer und Witsch Verlag, wird die leidenschaftliche, aber auch am Ende toxische Liebesbeziehung von dem Hollywood-Filmstar Marlene Dietrich, dem „Blauen Engel“, und dem Schriftsteller Erich Maria Remarque des Antikriegsromans „Im Westen nichts Neues“ auf 352 Seiten beschrieben. Sie sind einander verfallen, trotz jeweiliger wechselnder Ehepartner und Affären. Kommen nicht voneinander los, bis sie der Tod scheidet.

Sie wollen sich nicht einengen und ein modernes Leben führen, ohne konventionelle Fesseln, leiden aber darunter und sind beide höllisch eifersüchtig. Sie sind ruhelose Figuren in der damaligen High Society im Exil. Geld und Ruhm brauchen sie, wie die Luft zum Atmen, aber bedeuten tun sie ihnen dennoch nichts. Sie geben ihr Geld aus für das Bewahren ihrer Fassaden und zum Betäuben ihrer Sinne. Sie setzen sich für Flüchtlinge bzw. die amerikanischen Soldaten ein, beziehen Stellung gegen ihr Heimatland. Die beiden schillernden Einzelgänger sind voller Zweifel und Ängste. Erich macht sogar irgendwann nach der Beziehung zu Marlene eine Therapie.

Neben den Schaffenskrisen und auch Karriereknicken beutelt das Paar, das sich 1937 in Venedig das erste Mal trifft, eine Amour fou, eine obsessive Liebe. Die Stars verabreden sich meistens in Paris. Oft im Schlepptau mit dabei: die Ehefrau des Schriftstellers und der Ehemann samt der Tochter der Diva. Sie fühlen sich für diese verantwortlich, aber gebunden sind sie nur auf dem Papier. Marlene und Erich streiten aufs Heftigste und sperren sich sogar ein. Marlene versteckt z. B. regelmäßig seinen Autoschlüssel, damit er nicht wegfahren kann. Die Diva greift tief in die Trickkiste, um ihn immer wieder herumzukriegen. Sie bekocht ihn mit deftigen Gerichten und macht ganz auf Hausmütterchen und er schreibt Briefe an sie als „das Puma“, auch wenn er weiß, dass sie einen anderen oder eine andere hat und sich gerade mal wieder deswegen nicht melden kann.

Sich selber treu sein ja, Untreue dem Partner gegenüber ja, Verlassen nein. Das alles spielt sich vor dem Wüten der hassverzerrten Nazischergen ab. Remarque und Dietrich sind wie Zehntausende auf der Flucht vor dem Terrorregime, allerdings in luxuriösen Hotels. Beide gehen später gemeinsam ins Exil nach Amerika. Die Dietrich besorgt sogar Remarques Schiffspassage, obwohl sie da schon nicht mehr so innig miteinander sind. Beide plagt das Heimweh, aber zurück gehen sie nur noch besuchsweise nach Ende des Krieges. Als Remarque im Sterben liegt, schickt sie ein Telegramm: „Ich schicke dir mein ganzes Herz.“ Kurz bevor sie stirbt, liest sie einen seiner Briefe, von ihrem „Alfred“, und schreibt über ihn als ihren „Waffengefährten“.

Dem Autor Thomas Hüetlin, der Reporter beim Spiegel sowie Korrespondent in New York und London gewesen und preisgekrönt ist, gelingt ein Buch, das dank ausführlicher Brief- und Tagebuchrecherchen der Protagonisten im Exil die immer wieder aufflammende Liebe des berühmten Paars Marlene und Erich kurzweilig erzählt.

Bewertung vom 01.09.2024
Wolf
Stanisic, Sasa

Wolf


ausgezeichnet

Anderssein und Ausgrenzung im Ferienlager und ein hilfreicher Wolf

In dem Buch mit dem Titel Wolf, erschienen 2023 beim Carlsen Verlag, erzählt der Autor Saša Stanišić eine Geschichte von einem Jungen, der von seiner alleinerziehenden Mutter eine Woche zu einem Ferienlager im Wald verdonnert wird, weil sie nicht freibekommt. Er ist ein Junge, der zu keiner Clique gehört, dennoch in Ruhe gelassen wird. Im Gegensatz zu Jörg. Er ist ebenfalls Außenseiter, wird aber drangsaliert, besonders von Marko und seinen Freunden. Alle schweigen dazu. Auch unser Ich-Erzähler. Sie landen als Zimmergenossen auf Zeit in derselben Hütte und lernen sich dort zum ersten Mal richtig kennen, obwohl sie dieselbe Klasse besuchen.

Die beiden könnten gegensätzlicher nicht sein und doch haben sie am Ende einige Gemeinsamkeiten und freunden sich zögerlich an. Der Ich-Erzähler ist anfangs eher erleichtert, dass es ihn nicht trifft und erst später verlässt er die passive Beobachterrolle. Die Betreuer bemerken erst einmal nichts und später, als sie das Mobben mitbekommen, greifen sie nicht ein. Sie reagieren hilflos. Nur der Koch ist einer, der wach ist und immerhin ein bisschen etwas mitbekommt, und auch zu helfen versucht. Es wird gewandert und Jörg in einen Wasserfall geworfen, es wird gesungen und Jörgs Pudding wird ihm weggenommen. Es passiert viel unter der heilen Oberfläche.

Aber der Ich-Erzähler macht eine Wandlung durch, denn da ist auch noch der Wolf. Die Figur des Wolfes soll den inneren Konflikt, das innere Ringen deutlich machen. Der Wolf erscheint im Traum und zeigt nicht nur Angst, sondern auch Wut. Die Wut, die am Ende hilft, selbst ins Handeln zu kommen. Bis dahin fiebert der Leser ab 11 Jahren – das Buch sollte aber auch jeder Erwachsene gelesen haben, um sich an Gruppendynamiken zu erinnern – sich durch die ganzen Aktivitäten des Freizeitlagers, das auch gefährliche Aktionen, wie den Besuch eines Klettergartens, beinhaltet. Dabei soll nämlich ausgerechnet Marko Jörg mit den Seilen sichern.

Fazit: Der Ich-Erzähler leidet mit, wird zum Beobachter und Erzähler über das Mobben und traut sich zuerst nicht, etwas zu tun. Der Grat zwischen Anderssein und Ausgrenzung ist sehr schmal und es wird auf den 160 Seiten klar: Jeden kann es treffen. Die Illustratorin Regina Kehn hat das grandiose Buch virtuos mit Silhouetten und der Schmuckfarbe Gelb in Szene gesetzt. Der Autor, der im Buch auch davon erzählt, wie man die eigene Geschichte umschreiben kann, wurde 1978 in Jugoslawien geboren. Seine Bücher wurden in über dreißig Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Er wohnt und arbeitet in Hamburg. Dieses nominierte Buch hätte den Jugendliteraturpreis auf jeden Fall verdient.

Bewertung vom 03.06.2024
Ohren auf Weltreise
Franzen, Stefan

Ohren auf Weltreise


ausgezeichnet

Musikalische Weltreise: Wissen experimentell und auditiv aneignen

Der Offenburger Stefan Franzen, Musikwissenschaftler und Germanist, legt das unwiderstehliche Buch mit dem Titel „Ohren auf Weltreise“, im Hannibal Verlag erschienen, vor. Für jeden Tag im Jahr präsentiert er ein Stück sogenannte Weltmusik, das man sich auf mitgelieferten Playlists anhören kann (mit Barcodes). Alte und neue Musik stellt er nebeneinander, bekannte und unbekannte Musiker, es ist eine wilde Entdeckungsreise für Musikliebhaber, die gerne in fremde Kulturen abtauchen. Monat für Monat, Tag für Tag gibt es einen neuen Sound. Ein Musikkalender in Buchform. Schon allein im Monat Januar erleben die Leser viele Meister und talentierte Newcomer der verschiedenen Genres aus allen Herren Länder kennen.

Mau Mau aus Italien, aber auch Nive Nielsen aus Grönland werden in meine Plattensammlung spontan aufgenommen. Ich denke, ich werde an dem Buch noch länger meine Freude haben, denn es eignet sich nicht nur zum Reinhören und Schmökern, sondern auch zum Nochmal-Hören und -Lesen. Die Überschrift beinhaltet jeweils Name und Geburtsdatum sowie Geburtsort der Interpreten, den Titel des Songs natürlich, ebenso wie das Album (inklusive Entstehungsjahr und -ort). Zu jeder Musik gibt es eine Seite geballte Information. Kompakt und unterhaltsam gibt Franzen Einblicke zum Background der Interpreten und zur Entstehung des Stückes. Franzen trifft die Musiker auch und zitiert aus den Interviews. Die Kulturgeschichte liefert er gleich mit. Er recherchiert zum Musikstil/-Mix, zum Herkunftsland und ergänzt durch musikalische Querverweise.

Franzen hat für den 14. Januar, um nur ein Beispiel zu nennen, die Sängerin Emel Mathlouthi aus Tunesien ausgewählt, deren Musik den „Arabischen Frühling“ begleitet hat. Die Leser lernen so unglaublich schnell etwas über die Musik, können sie einordnen und zuordnen. Man merkt, dass Franzen ein Mann vom Fach ist und er überall auf dem Gebiet der Musik bewandert ist. Er hat sich auf Roots music, Jazz und die Grenzbereiche zu Klassik, Pop und Rock spezialisiert und schreibt seit 1996 für Fachzeitschriften und Tageszeitungen. Franzen arbeitet als freier Autor u. a. für die Sender SRF2, WDR3, WDR Funkhaus Europa und NDR Info. Sein Buch ist eine Entdeckung und jedem zu empfehlen, der Interesse hat, sein globales Musikwissen zu vertiefen.

Bewertung vom 06.05.2024
Tyger
Said, S. F.

Tyger


ausgezeichnet

Ein poetisches Abenteuer über die Macht der Schöpfung

Das Jugendbuch mit dem Titel Tyger von dem Autoren S. F. Said, erschienen im Karibuverlag, spielt in London. Man kann die ganze Zeit rätseln, in welcher Zeit der Roman wohl angesiedelt sein mag, denn technische Geräte kommen nicht vor und auch sonst ist die beschriebene Welt rückständig, nicht aufgeklärt. Es ist die Rede von Sklaven. In dieser düsteren Welt begegnen wir als Leser dem Jungen Adam, der mit seiner Familie in einem Ghetto lebt. Er geht nicht zur Schule, sondern hilft den Eltern, die einen Laden besitzen. Er macht Botengänge und auf einem dieser Botengänge trifft er auf das mythische Wesen Tyger, einer sprechenden märchenhaften Raubkatze, die ihn vor einem Dieb beschützt.

Es stellt sich heraus, dass Tyger nur die Form eines Tieres angenommen hat und ein unsterbliches Wesen ist, von dem Adam und seine Freundin Zadie, die wie er besondere Fähigkeiten besitzt, im Laufe der Handlung noch viel lernen. Sie öffnen Tore unter anderem zu ihrer Wahrnehmung und Vorstellungskraft. Doch einem Bösewicht, der ebenfalls unsterblich ist, begegnen sie natürlich auch und das wird für alle gefährlich. Bis zum Showdown dieses poetischen Buchs hat man als Leser sehr viel Freude an der bildhaften Sprache und spannend ist die Geschichte auch.

Said hat viel recherchiert, das merkt man dem Buch an. Es werden Londoner Straßennamen und historische Orte genannt. Zum Beispiel die königliche Tower-Menagerie, die es wirklich im 17. Jahrhundert und 18. Jahrhundert im Tower gegeben hat. Dort wurden exotische Tiere, die Geschenke an die Monarchen waren, eingesperrt. Und zu der Zeit gab es auch einen Bürgerkrieg in England, der die Gründung des Commonwealth of Nations zur Folge hat. Denn nicht nur die Lammhirten im Buch begehren später gegenüber ihren Peinigern und der Obrigkeit bzw. dem Bösewicht auf.

Ich vermute, dass Said darüber hinaus das Gedicht The Tyger des englischen Dichters William Blake inspiriert hat. Es wurde 1794 als Teil seiner Sammlung Songs of Experience veröffentlicht und im Zeitalter der Romantik gelangte es zu großer Bekanntheit. Das Gedicht, das dem englischen Literaturkanon angehört, hinterfragt christliche religiöse Paradigmen, die im England des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts vorherrschten, und erörtert Gottes Motivation für die Erschaffung der Welt und ihrer Kreaturen, also insbesondere des Tigers als auch des Lamms, des Mächtigen und des Opfers.

Said lässt seine jungen Hauptfiguren erkennen, dass sie mächtiger sind, als sie glauben und, dass sie einiges in ihrer Welt durch ihr Tun zum Positiven verändern können. Es ist eine Ode an die Schöpfung, ans Erschaffen und auch an den Künstler als Schöpfer. Adam ist nämlich begabt und kann sehr gut zeichnen. Diese Fähigkeit wird für den Fortgang der Geschichte noch wichtig werden.

Fazit: Das Buch ist ein wunderschön illustriertes Buch, das seine Geschichte langsam entfaltet und den Lesern den Glauben an die Menschheit wiedergeben kann, denn Tyger glaubt als göttliches Wesen an die Menschen und an deren schöpferische Fähigkeiten. Nur sie können Tyger und die Welten vor dem Bösen retten.

Bewertung vom 16.04.2024
Mein Name ist Estela
Trabucco Zerán, Alia

Mein Name ist Estela


ausgezeichnet

Ein atemlos erzähltes und sehr gelungenes Buch über die Abgehängten dieser Welt

In dem Roman mit dem Titel „Mein Name ist Estela“ von der chilenischen Autorin Alia Trabucco Zerán, erschienen im Hanser Berlin Verlag, sitzt die Hausangestellte Estela García, auch Lita genannt, vermutlich in Untersuchungshaft. Sie spricht über die Umstände, die zu allem geführt haben. Das Mädchen ist tot, das sie sieben Jahre betreut hat. Die Erzählstimme ist ungewöhnlich. Dabei wird klar, dass Estela ihre Arbeit durch Sachzwänge nicht einfach so hätte kündigen können. Sie ist von der Insel Chiloé nach Santiago gekommen, um die arme und kranke Mutter finanziell zu unterstützen. Dafür muss sie sechs Tage in der Woche in der Villa schuften, die sie ebenfalls bewohnt. Vielmehr ein Zimmerchen neben der Küche mit Schiebetür. An ihrem freien Tag ist sie so ausgelaugt, dass sie den ganzen Tag im Bett bleiben muss.

Das bedeutet Null Privatsphäre, kein eigenes Leben. Die beiden Arbeitgeber sind nur mit sich selbst beschäftigt und laufen der Zeit hinterher, ohne ebenfalls selbst zu leben. Ein leeres Leben, in das Lita hineingezogen wird. Der Schreibstil ist sensationell. Die Spannung ist sofort da und man möchte wissen, wie die Tochter des Hauses, Julia, gestorben ist. Das erfolgreiche und wohlhabende Paar, bestehend aus der tablettenabhängigen Anwältin Mara und dem zynischen Arzt Cristobal, ist extrem gefühlskalt und sieht Julia eher als ein Projekt, das nach Fortschritt beurteilt wird und das anderen als eigene Leistung vorgeführt wird. Diese bricht sich selbst einen Finger, damit sie nicht Klavier spielen muss. Drei Wochen Gips bedeuten, drei Wochen nicht üben zu müssen. Was für eine überzogene Reaktion. Das Kind wird immer aufsässiger, tyrannischer und selbstzerstörerischer. Die Eltern üben zu starken Druck aus, das wird überdeutlich.

Die streunende Hündin Yany, die Lita ins Herz schließt, betritt die Bühne und wird von einer Ratte gebissen und beißt wiederum die Tochter des Hauses. Eine tragische Kettenreaktion. Wie so vieles. Es folgt eins auf das andere, wie beim Dominoeffekt. Nach einem Überfall im Haus werden Alarmanlage und Elektrozaun installiert. Nicht nur im Haus selbst spitzen sich die Ereignisse zu, sondern auch im Viertel. Die Armen gehen auf die Straße und protestieren gegen die Ungerechtigkeiten, die Ungleichheit, gegen die Obrigkeit. Es läuft darüber etwas im Fernsehen, der immer läuft. Die reiche Familie hat Angst. Angst führt zu Kurzschlussreaktionen. In fast allem zeigt sich die unfassbare Ungerechtigkeit, mit der die Familie entscheidet, dabei die Verluste anderer in Kauf nimmt. Die Erzählung Estelas hebt sich aber die ganze Auflösung bis zum Schluss auf.

Fazit: Ich habe mitgefiebert und auch gelitten. Das Buch ist keine einfache Kost. Man kann so viel Unrecht und Tragik kaum aushalten. Und die Duldsamkeit kaum ertragen. Aber der Roman fesselt trotz alledem oder gerade deswegen. Ein atemlos erzähltes und sehr gelungenes Buch über die Abgehängten dieser Welt. 5 Sterne!

Bewertung vom 29.03.2024
Neue Heimat 1404
Angel, Frauke

Neue Heimat 1404


ausgezeichnet

Gelungener Auftakt zur Kinderkrimi-Reihe

Das Cover des Buchs "Neue Heimat 1404" von Frauke Angel, erschienen im Tulipan Verlag, ist mir positiv aufgefallen und vor allem die Hauptfigur mit dem Wuschelkopf und dem roten Pulli. Eine rote Zora, die sofort eine Bande um sich scharrt. Das Buch ist ein wunderbarer Krimi im sozialen Brennpunkt. Die Hauptfigur zieht erst dorthin und muss sich einleben und neue Freunde finden: den Panda, die Zwillinge und das Pufferjackenmädchen. Sie sind alles liebenswerte Figuren und man begleitet die Kinder gerne beim Ermitteln. Sie finden heraus, wer im Wohnturm die ganzen Sachen entwendet.

Die Figuren sind eigenwillig und spannend kreiert. Das Buch ist flüssig zu lesen und humorvoll geschrieben. Das Buch liest sich gut und die Geschichte kommt in Schwung. Ich mag die Figuren und, wie sie miteinander agieren. Ich persönlich finde die Genderei ja sehr löblich, aber der Lesefluss im Roman wird während der Stelle, in der Enna und das Pufferjackenmädchen Nachrichten austauschen, gestört. Und mal ehrlich, wie authentisch sind die pädagogisch richtigen Formulierungen wirklich?

Das Buch ist dennoch sehr gelungen! Ganz nebenbei wird Verständnis für das Tourette-Syndrom geweckt. Die Kinder finden sich zu einer Gruppe zusammen und wollen Ennas verschwundenes Rad wiederfinden. Die Kinder sind nicht auf den Kopf gefallen und wissen sich zu helfen. Heimat ist nicht unbedingt ein Ort, sondern viel mehr ein Gefühl, das man hat, wenn man sich sicher und geborgen fühlt. Dieses Gefühl stellt sich ein, wenn man Menschen vertrauen kann und ein Ort einem vertraut vorkommt. Durch die Menschen, die sich an diesem Ort aufhalten. Das erlebt Enna, die mit Mutter Stella nach deren Trennung umziehen muss.

Fazit: Echte Freunde sind Gold wert! Enna, die zuvor keine Freunde gefunden hat, findet sie dort, wo sie diese niemals vermutet hätte. Eine hoffnungsvolle Geschichte, die Spaß macht und einem das ein oder andere Lächeln entlockt.

Bewertung vom 03.03.2024
Zauber der Stille
Illies, Florian

Zauber der Stille


ausgezeichnet

Illies erklärt den morbiden Zauber der Romantik

Ein erhellendes Buch über den Maler Caspar David Friedrich

Das Thema Tod – er verlor vorzeitig Bruder, Schwester, Vater, eines seiner Kinder sowie einen engen Künstlerfreund – zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben und die Gemälde des Malers Caspar David Friedrich (*1774 Greifswald– 1840 Dresden), den ich nicht zu meinen Lieblingsmalern zählen würde. Allerdings gelingt es Florian Illies in seinem Buch Zauber der Stille, bei Fischer erschienen, dass ich dem Maler der Romantik meine gesteigerte Aufmerksamkeit schenke. Dass er mir den Mann mit dem Hang zur Melancholie näher bringt. Da ich die vorigen Bücher 1913 und Liebe in Zeiten des Hasses verschlungen habe, widme ich mich auch diesem Werk aus der Feder Illies und noch einigen Nachforschungen. Das Buch liest sich wie ein literarisches Kaleidoskop. Die Ereignisse sind nach Themen zusammengestellt und nicht chronologisch geordnet.

Der Tod seiner Schwester und der des Vaters treffen Friedrich schwer. Unter dem Eindruck des Schmerzes entstehen die Bilder: Der Mönch am Meer und Abtei im Eichwald. Heinrich von Kleist bespricht die beiden Bilder wohlwollend und macht so diese einem breiteren Publikum bekannt. Illies nennt das Bild Mönch am Meer das kühnste Bild Friedrichs überhaupt. Nach vielen Monaten Arbeit hat Friedrich es auf das Wesentliche reduziert. Man sieht viel Meer und noch mehr Himmel und winzig klein eine Gestalt. Damit will der streng gläubige Friedrich sein Zweifeln an Gott und die Hilflosigkeit des Menschen künstlerisch darstellen. Der Autor sieht in dem Bild gar den Anfang der abstrakten Malerei.

Auch wenn die starken Traueremotionen in den intuitiv gemalt wirkenden Bildern Friedrichs vermehrt Niederschlag finden, hat Friedrich seine Bilder geometrisch konstruiert. Alles, was er in der Natur entdeckt, zeichnet er naturgetreu und verwendet es in seinen collagenartig zusammengesetzten Gemälden nur als gestalterisches Element. Als Napoleon anrückt, geht Friedrich in die Wälder und beginnt, akribisch Tannennadeln zu zeichnen, um die Ereignisse gedanklich mit dem Stift verarbeiten zu können. Trotz aller Zweifel sieht Friedrich in jedem Stein und Ast Gott. Deshalb existiert vielleicht neben der Schwermut auch immer wieder eine erstaunliche Leichtigkeit, die der Maler in den Bildern mit viel Himmel ausdrückt. Eine Verklärtheit wird dort sichtbar, die zu den düsteren Nebelbildern kaum passt.

Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt – dieses Goethe-Zitat kann die Gefühle von Menschen, die an bipolarer Störung erkrankt sind, beschreiben. Früher wurde die Krankheit als manisch-depressiv bezeichnet. Vielleicht ist Friedrich so einer, aber auch zudem ein guter Dokumentarist der Atmosphäre, die nach dem Jahr ohne Sommer herrschte, den Klimaforscher später auf den Ausbruch des Vulkans Tambor im heutigen Indonesien zurückführen. In dem aufgrund dessen kalten, trüben und nassen Folgejahr 1818 heiratet er die viel jüngere Line Bommer, die Tochter eines Blaufärbers. Im Sommer 1818 unternehmen die beiden ihre Hochzeitsreise mit dem Boot, die er bildlich verewigt und die mit diesem Gemälde auf dem Cover des Buches abgebildet ist.

Aufgeteilt ist das Buch in vier Bereiche, und zwar in die der Elemente: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Es geht am Anfang um das Begeisterungsfeuer Friedrichs, das ihn als Maler antreibt. Und vor allem um die Liebe zum Wasser und den Booten, um die erste Bootstour mit seiner Frau Line, aber auch um den Unfall, bei dem der Bruder ihn, als er klein war, rettete und dabei selbst ertrank. Dieses Ereignis wird als eine Ursache für Friedrichs Depressionen benannt. Man nimmt heute verstärkt an, dass belastende Lebensereignisse, wie Trauerfälle, bei einer Veranlagung zu einer Depression führen können. Und der Vorfall wäre eine Erklärung von vielen für die düstere Stimmung und die Todessehnsucht auf einigen seiner Bilder.

Es bereitet sehr viel Vergnügen, das Buch zu lesen, auch weil der große Maler als verletzlicher Mensch beschrieben wird. Das erzeugt Nähe und Verständnis. Illies hat ein einfühlsames Porträt über Friedrich geschaffen. Der Leser lernt einen sensiblen Maler kennen, der sich oft unverstanden gefühlt haben muss, obwohl er als Pionier seiner Zeit weit voraus gewesen ist.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.02.2024
Die Mur checkt's nicht
Fromm, Christoph

Die Mur checkt's nicht


sehr gut

Nick und die erste große Liebe

Ein Jugendbuch-Debüt der besonderen Art über die nicht perfekte Liebe

In dem Buch „Die Mur checkt’s nicht“ von Christoph Fromm, erschienen im Primero Verlag, macht die Hauptfigur Nick sein Abitur und verliebt sich in Hannah. Die ist aber nicht einfach, ist manchmal sogar richtig fies. Warum macht sie das? Sie hat aber auch etwas Geheimnisvolles und Wunderbares an sich. Beide spielen im selben Verein Fußball. Dann hat sie plötzlich einen anderen. Wie soll Nick ihr das verzeihen? Die Mur, also Nicks Mutter, ist nicht die Richtige, um ihn in Beziehungssachen zu beraten. Sie hat sich gerade von seinem Vater getrennt und ist zum neuen Mann gezogen. Sie checkt's nicht, nach Nicks Meinung.

Sein Bruder ist auch nicht der Richtige dafür. Für ihn hat nur sein Sport Priorität, er hat gar keine Beziehung. Er denkt nur daran, wie er mit seinem Verein gewinnen kann und achtet mit darauf, dass Nick in Form bleibt und ihm Torvorlagen liefern kann. Und seine Bros, die Freunde, haben auch alle ganz unterschiedliche Anschauungen zu dem Thema. Nick muss selber herausfinden, was er will. Dann lernt er auch noch selber eine andere Frau kennen und das Chaos ist perfekt. Nun weiß er schon gar nicht mehr Bescheid. Wie entscheidet er sich? Herz über Kopf?

Was will er wirklich? Dem muss er nachgehen. Es ist ein ruhiger langer Fluss, der sich vor dem Leser ausbreitet. Nick erzählt von seinem Alltag und seinen Mitmenschen. Vor allem teilt er dem Leser seine beobachteten und analytischen Gedanken mit. Aber auch seine Gefühle, seinen Schmerz und seine Zweifel. Spätestens nach dem zweiten Kapitel ist man mitten drin im Geschehen und nimmt die Jugendsprache mit dem Szenejargon als die Stimme der Hauptfigur wahr. Ein Jugendbuch der besonderen Art und nur für diejenigen zu empfehlen, die keine Action oder Spannung brauchen.

Ein Debüt, das davon handelt, dass man nicht immer sofort die wahre Liebe erkennt und nicht immer alles perfekt sein muss, wenn man auf sein Herz hört.

Bewertung vom 29.01.2024
Schneesturm
Walsh, Tríona

Schneesturm


ausgezeichnet

Kaltblütiger Mord und abgeschnitten von der Welt

Düsterer Thriller mit einer Inselpolizistin, die über sich hinaus wächst

Schneesturm von Tríona Walsh, bei Fischer erschienen, spielt auf Inishmore, einer irischen Insel. Auf den ersten Seiten wird der Mord beschrieben und doch weiß man so gut wie nichts darüber. Szenenwechsel. Freunde, die sich jahrelang nicht gesehen haben, werden bei ihrem erneuten Treffen aufgrund eines Schneesturms von der Außenwelt abgeschnitten. Sie treffen sich zum zehnten Todestag von Cillian, der bei einer Bootstour ums Leben gekommen ist. Cara ist Polizistin und die Witwe. Seamus, der Bruder des Toten, ist Drehbuchautor in Kalifornien geworden. Daithi gehört der Pub im Ort. Maura ist die Grundschullehrerin der Insel, sie ist die ehemalige Freundin von Seamus. Der Eventmanager Ferdy und seine Frau Sorcha leben mittlerweile in London. Doch das Treffen steht unter keinem guten Stern.

Cara erreicht ein anonymer Anruf: eine Leiche schwimmt im Becken des Serpent´s Liar. Was für eine dramatische Szene! Ein krasser und gelungener Auftakt, als Cara mit Daithi versucht, die Leiche zu bergen. Es wird immer extremer. Das Wetter, die Stimmung zwischen den Freunden und auch die Ermittlungen. Cara folgt den Spuren des Mörders zeitweise in total durchnässter Kleidung. Dann taucht ein Zeuge auf. Und eine Nachricht des Mörders. Die Spannung nimmt zu und ich habe das Buch nicht aus der Hand legen können. Sind die Freunde ebenfalls in Gefahr? Zwar sind nicht alle Handlungen nachvollziehbar, aber die Figuren handeln oft unter Druck oder erschwerten Bedingungen, also damit auch für mich glaubhaft.

Die Autorin stimmt in eine sehr kalte und düstere Atmosphäre ein. Nicht nur wetterbedingt. Die Jugendfreunde haben sich lange nicht gesehen und entfremdet. Alle sind immer noch von dem damaligen Verlust gezeichnet. Es gibt Wortgefechte und Tränen. Alle benehmen sich verdächtig, jeder hat etwas zu verbergen. Cara fallen die Ermittlungen, besonders im Freundeskreis, nicht leicht. Erneut stirbt jemand. Cara kann es nicht verhindern und fühlt sich schuldig. Als Leser tappt man lange im Dunkeln, wer der Täter ist. Und was hat es mit dem Paket auf sich, das der Mörder bei ihnen sucht?

Im letzten Teil kommen endlich alle Geheimnisse der Freunde ans Licht und die Ereignisse überschlagen sich. Cara, die ja eigentlich nur eine Dorfpolizistin ist, wächst über sich hinaus und überrascht auch die Leser. Sie klärt alles restlos auf. Das Buch bleibt bis zum fulminanten Finale mit Todesfolgen extrem spannend. Für mich war das Motiv des Mörders am Ende nicht stark genug. Aber die Menschen begehen ja bekannterweise wegen kleinerer Dinge einen Mord, deshalb ist das vermutlich Geschmackssache. Insgesamt eher ein ruhiger Thriller, der die Spannung kontinuierlich aufbaut und erst am Schluss so richtig Fahrt aufnimmt.

Fazit: Die Debütautorin punktet mit atemberaubenden Naturbeschreibungen und einer überzeugend düsteren Atmosphäre, in der die Handlung wie ein Kammerspiel mit den nur wenigen Protagonisten eingebettet ist. Für mich eine Autorin, von der man sicher noch hören wird.

Bewertung vom 19.11.2023
Die Bibliothek im Nebel
Meyer, Kai

Die Bibliothek im Nebel


ausgezeichnet

Mörderische Geschichte im Graphischen Viertel

Der Autor Kai Meyer beschreibt in „Die Bibliothek im Nebel“, erschienen bei Knaur, die Geschichte in großen Zeitabständen. Die 11-jährige Liette findet zurückgelassene Koffer, ein verschlossenes Buch und eine Mondsteinkette der Kalinins auf dem Dachboden des Hotels ihres Onkels an der Côte d’Azur, dann entdeckt sie die verlassene Villa der Eisenhuths ganz in der Nähe des Hotels. Dort gibt es diese geheimnisvolle Bibliothek. Liette will zeitlebens mehr darüber erfahren, auch weil sie die benachbarte Villa samt Bibliothek kaufen will. Sie bringt als erwachsene Frau den Ganoven Thomas Jansen dazu, mit ihr das Rätsel der Erben der Villa entschlüsseln zu wollen. Ich habe atemlos die Figuren begleitet. Ich kann mir alles gut vorstellen und mich in die Situationen sehr gut hineinversetzen. Je mehr ich lese, desto mehr fügen sich die Puzzleteile zusammen und neue Fragen drängen sich auf.

Der junge Bibliothekar Artur Kalinin erzählt als Ich-Erzähler davon, dass seine Cousine Ofeliya verschleppt und seine Tante und sein Onkel vermutlich getötet worden sind. Sie sind seine Familie, die ihn nach dem Tod seiner leiblichen Mutter aufgenommen haben. Es sind gefährliche Zeiten in St. Petersburg, während der Revolution. Nur mit der Hilfe seines Freundes Spiridon kann er mit ein paar Habseligkeiten und einem Manuskript auf ein Schiff entkommen und will seiner großen Liebe, der Malerin Mara, über die Ostsee nach Leipzig folgen, die allerdings einem anderen versprochen ist. Einem der Eisenhuth-Söhne. Die Eisenhuths aus Leipzig sind ebenfalls eine reiche Verlegerfamilie und haben ihre Urlaube wie die Kalinins an der französischen Mittelmeerküste verbracht. Arturs Ziel ist also das Graphische Viertel in Leipzig, von dem ihm Mara vorgeschwärmt hat. Aber es herrschen in Deutschland Krieg und Hunger.

Die raffiniert erzählte Geschichte in der Geschichte ist ein gut recherchiertes Zeitporträt und zugleich eine Hommage an die Buchdruckkunst - Heyms bedrückende Schattengedichte über den Untergang „Umbra vitae“ erschienen nicht 1917 bei Eisenhuths, sondern 1912 bei Rowohlt, aber in Leipzig. Die hochspannende und auch abgründige Geschichte folgt Liette und Thomas bei ihrer Recherche, die sie in die eine oder andere Gegend führt. Was oder wer ist der Schatten? Was will dieser vertuschen bzw. verhindern, das die beiden herausfinden können? Warum ist es nach so langer Zeit noch wichtig, Spuren zu verwischen? Das Buch ist eine unwiderstehliche Mischung aus Liebesroman, historischem Roman und abgründigem Krimi.

Alle möglichen Figuren wirken geheimnisvoll, wenn nicht gefährlich. Artur kommt mir vor, wie der arglose Neffe in Arsen und Spitzenhäubchen, der entdecken muss, dass seine geliebte Familie auf die eine oder andere Weise aus Mördern besteht. Ehrlich gesagt waren es dann doch zu viele Leichen für mich. Aber das ist sicher Geschmackssache. Alles in allem ein Buch, das einen bis zum Schluss stark fesselt und atemlos nach dem Ende fiebern lässt. Im letzten Kapitel tritt noch einmal Grigori auf, den Leser womöglich aus Meyers vorherigem Buch „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ kennen, am Ende kehrt man mit ihm ins heute historische Graphische Viertel zurück. Es beginnt damit schon die nächste Geschichte. Es schließt sich ein Kreislauf der unendlichen Geschichten und Märchen, die in der Buchstadt übersetzt, gesetzt, gedruckt, gebunden und verkauft wurden.