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wieporzellan
Wohnort: 
Köln

Bewertungen

Insgesamt 17 Bewertungen
12
Bewertung vom 30.10.2024
Empathie und Widerstand
Lunz, Kristina

Empathie und Widerstand


weniger gut

Kristina Lunz hat mit „Empathie und Widerstand“ ein Buch geschrieben, das in von Krisen geprägten Zeiten eine hohe Relevanz hat. Auf den knapp 160 Seiten versucht sie, Antworten auf die folgenden Fragen zu finden: Wie finden wir unseren Kompass? Welche Werte vertreten wir? Und wie handeln wir?

Lunz fokussiert sich dabei sowohl auf Empathie als auch auf den Widerstand, definiert und führt aus, was die beiden Begriffe für sie bedeuten und wie sie genau das in ihrem Alltag ausgestaltet.
Es ist ein sehr persönliches Buch geworden und vielleicht ist das auch das Problem, in das es über die Länge läuft: Es ist zu persönlich, zu sehr auf Kristina Lunz’ Alltag als Unternehmerin und Aktivistin geschnitten, als dass es jenes universell anwendbare Handwerkzeug wäre, das der Klappentext verspricht.

Lunz gelingt die Dekonstruktion aktueller gesellschaftlicher Krisen sehr gut, sie macht es auch für Laien verständlich. Was am Ende allerdings fehlt ist die Utopie, die Konstruktion, deren Fehlen sie selbst in einem der Unterkapitel bemängelt.

Bewertung vom 17.03.2024
Der Lärm des Lebens
Hartmann, Jörg

Der Lärm des Lebens


sehr gut

Der unnahbare, irgendwie kauzige Kommisar aus dem Tatort hat ein Buch geschrieben? Mit Jörg Hartmann ist wieder ein Schauspieler unter die Autoren gegangen. Wie so oft bin ich dem Buch anfangs mit Skepsis begegnet, aber die Fragmente, die Begegnungen, die er hier schildert, haben mich sehr positiv überrascht.
Mit seinem Debüt gelingt Hartmann ein unglaublich persönlicher Blick in sein Leben: Mal ist das, was er beschreibt, unruhig, lärmend, mal eher still, aber am Ende steht doch alles im Zeichen einer Entwicklung. Ein Wandel, weg vom flapsigen Jugendlichen aus dem Ruhrpott, rein zu dem ruhigen, philosophierenden Schauspieler an einer der größten Bühnen Deutschlands.
Das Buch ist in seiner Gesamtheit eine Ode an seine Heimatstadt, das kleine Örtchen im Ruhrpott, an seine Familie und an die Schauspielerei; für all das findet er die richtigen Worte und hat mich, über die Länge des Buches, wieder und wieder zum Nachdenken, aber auch zum Schmunzeln gebracht.

Bewertung vom 24.03.2023
Young Mungo
Stuart, Douglas

Young Mungo


gut

Mit "Young Mungo", seinem zweiten Roman, führt uns Douglas Stuart ins Glasgow East End der 1990er Jahre. Die Nachbarschaft ist geprägt von Armut und Bandenkämpfen, die Wege der Bewohner:innen scheinen vorbestimmt. Doch Mungo passt nicht in diesen Rahmen hinein und begibt sich damit auf mehreren Ebenen in Gefahr.

Ich bin unfassbar zwiegespalten, was diesen Roman angeht.
Auf der einen Seite besticht das Buch durch eine unglaublich atmosphärische Schreibweise, die mich fesseln konnte, und wirklich pointierte Dialoge, die ich mir von so viel mehr Autor:innen wünschen würde. Stuart gelingt es wirklich gut, zwischen all der Trostlosigkeit und rohen Gewalt kleine Momente der Intimität zu schaffen, die für sich gesehen doch auch ein wenig Hoffnung wecken.
Nichtsdestotrotz überwiegt letztlich der negative Tonfall, der mich, gerade auch durch die Figur des Mungo', stark an Yanagiharas "Ein wenig Leben" erinnert hat. Hinzu kommt, dass der Plot und auch die Charakterentwicklung in weiten Teilen sehr vorhersehbar waren und der Roman daher doch einige Längen hatte.

Das hier ist auf keinen Fall ein schlechter Roman, aber das Gesamtkonzept ging für mich nicht auf. Stuart werde ich trotzdem gerne weiter verfolgen.

Bewertung vom 07.03.2023
Macht
Furre, Heidi

Macht


gut

Es ist kein leichter Roman, keiner, den man mal eben liest, mal eben wegsteckt, denn thematisch dreht sich alles, was Heidi Furre hier schreibt, um Vergewaltigung und sexualisierte Gewalt.

Auf den rund 170 Seiten begleiten Liv, die mit Mann und KIndern in Oslo lebt, gut situiert ist, und, was die wenigstens wissen, vor Jahren vergewaltigt wurde. Dieser Roman gleicht einem Protokoll dessen, was in ihrem Alltag, dem Danach, passiert, wie sie vehement versucht, nicht in die Opferrolle zu fallen, wenngleich die Tat als ständiger Begleiter, in unheimlich vielen Facetten, auftaucht.

Der Roman ist sehr fragmentarisch, sehr beobachtend, in weiten Teilen auch sehr distanziert und beschreibt, was diese Frau durchmacht. Auch, wenn ich Furres Wahl der stilistischen Mittel nachvollziehen kann, hatte ich tatsächlich Probleme damit, mich wirklich in den Roman einzufinden. Über die Distanz konnte es mich am Ende nicht überzeugen.

Bewertung vom 21.11.2022
Alle_Zeit
Bücker, Teresa

Alle_Zeit


sehr gut

Teresa Bücker war mir bereits vor diesem Buch ein Begriff. In ihrer journalistischen Arbeit betrachtet sie aus einer feministischen Perspektive gesamtgesellschaftliche Themen. Das geschieht auch in diesem Buch.

Das Kernthema, dem sie sich annimmt, ist Zeit. Beginnend bei unserem in der Kindheit geprägten Verständnis von Zeit führt Bücker uns durch die unterschiedlichen Lebensphasen. Dabei zentral ist der Zustand, zu wenig Zeit zu haben. Es sei kein individuelles, sondern ein gesamtgesellschaftliches (gewolltes) Problem, das sich allerdings in unterschiedlichen Schichten unterschiedlich äußert.

Das Plädoyer, was Bücker für eine gerechte Verteilung von Zeit hält, ist gut strukturiert und klärt sowohl Fragen, die im private(re)n Bereich liegen als auch solche, die unserer Gesellschaft entwachsen. Die Vision, die sie anstrebt, verliert sie dabei zu keiner Zeit außer Augen und kommt immer wieder zu ihrer Kernthese zurück. Auch, wenn es im Kontext des Aufbaus strukturell nachvollziehbar ist, wirkten ihre Ausführungen auf mich so in einigen Punkten redundant. Was mir am Schluss etwas fehlte, war ein konkreteres Bild, wie wir ihre Vision - abseits der einzelnen Aspekte - erreichen können.

Bücker hat mit ihrem Buch ein gut recherchiertes und strukturiertes Plädoyer für eine Neuausrichtung der vorherrschenden Zeitkultur geschrieben, aus dem ich einige wichtige Punkte mitnehmen konnte.

Bewertung vom 11.09.2022
Carrie Soto is Back
Reid, Taylor Jenkins

Carrie Soto is Back


sehr gut

Taylor Jenkins Reid portraitiert in diesem Roman die fiktive Tennislegende Carrie Soto, die in ihrer Karriere einen Rekord nach dem nächsten aufgestellt hat. Weil eine junge Nachwuchsspielerin ihr ihre Rekorde streitig macht, startet Soto mit 37, ganze sechs Jahre nach ihrem Karriereende, ihr Comeback auf dem Centercourt.

Es ist einige Tage her, seit ich dieses Buch beendet habe - und so ganz weiß ich immer noch nicht, wohin ich dieses Buch stecken soll. Reid schreibt mitreißend und dieses Buch war auch für mich ein wahrer Pageturner. Es ist der Ehrgeiz, den Soto in sich hat, der auch die Leser:innen durch den Roman trägt. Auch, wenn Soto keine Romanfigur war, die bei mir große Sympathien wecken konnte, mochte ich ihre Geschichte, mochte ich die Darstellung der Tennis-Matches, der Rivalitäten, aber vor allem die Beziehung zu ihrem Vater. Letztere ist das, was in Soto die Menschlichkeit hervorbringt - ansonsten wirkt sie kühl, distanziert, irgendwie wie die Kampfmaschine, die sie auf dem Court ist.

Und trotz dass es sich gut las, wirkte es - gerade in den Matches - doch unglaublich repetitiv und insgesamt hatte das Buch trotz des Umfangs wirklich nicht viel Plot zu bieten. Es gab einige Stellen, bei denen ich etwas Angst hatte, dass es ins romantisch-kitschige abschweifen könnte, aber TJR hat immer eine gute Balance zwischen Biopic und Liebesgeschichte gefunden.

Die Message, die sie vermittelt, ist in ihrer Essenz einfach, aber dennoch stark. Wirklich guter, aber vor allem authentischer, Roman, der unterhält, aber mir fehlte das gewisse Etwas, das dieses Buch aus der Masse stechen lässt.

Bewertung vom 07.09.2022
Anleitung ein anderer zu werden
Louis, Édouard

Anleitung ein anderer zu werden


sehr gut

Édouard Louis setzt sich in diesem autofiktionalen Roman erneut mit seiner Herkunft auseinander: Bereits im Kindesalter ist der Autor, aufgewachsen in schwierigen, von Armut geprägten Verhältnissen, aufgrund seiner Homosexualität Anfeindungen und Gewalt ausgesetzt. Seine Flucht führt ihn über Amiens nach Paris, seine Transformation hinaus aus dem Arbeitermilieu hinein in das Leben eines Pariser Intellektuellen.

Der Prozess ist kein einfacher. Eindrücklich schildert er, wie schmerzhaft dieser Prozess sein kann: Da ist die Entfremdung von der eigenen Familie; von einer Freundin, die ihm den Weg für so vieles geebnet hat; die Selbstzweifel, mit denen er sich aufgrund des Klassensystems konfrontiert sieht; die Gefühle, die dieses Bewusstsein bei ihm auslöst.

Wieder und wieder drängt sich der Vergleich zu Eribon auf. Und ziemlich schnell wird klar, weshalb: Eribon erweist sich nicht nur als eine Art Mentor, sondern fungiert auch als Vorbild, dem Louis versucht, nachzueifern; vielleicht in gewissen Punkten auch versucht, eine Art Kopie von ihm zu werden.

Wenngleich Louis’ Abhandlungen oftmals sehr abgeklärt erscheinen, zeigt sich immer wieder: Louis ist ein Getriebener; einer, der vielleicht noch nicht am Ziel seiner Selbstfindung, seiner Selbstverwirklichung ist. Diese Rastlosigkeit schlägt sich auch stilistisch nieder: Er arbeitet viel mit langen, verschachtelten Sätzen, teilweise wirken seine Gedanken gehetzt, ganz als würde er noch kein Ergebnis finden können, finden wollen.

An diesem Roman wird deutlich, dass die Geschichte, die Édourd Louis zu erzählen hat, nämlich seine eigene, keinesfalls auserzählt ist.

Bewertung vom 22.08.2022
Intimitäten
Kitamura, Katie

Intimitäten


sehr gut

Die Protagonistin, eine namenlose Frau, kommt nach Den Haag, um zunächst für ein Jahr als Dolmetscherin am Internationalen Gerichtshof (ICC) zu arbeiten. Sie begegnet Adriaan und sieht in ihm einen Grund, zum Bleiben. Als dieser jedoch für die Klärung privater Angelegenheiten das Land verlässt und sie sich beruflich im Prozess gegen einen Kriegsverbrecher findet, gerät ihre Welt ins Wanken.

Es ist kein Roman, der von seiner Handlung lebt, vielmehr sind es die Charaktere und die besondere Ton, den Kitamura anschlägt. Die Protagonistin fungiert als Medium, als Dolmetscherin im Rahmen der Handlung, als Erzählerin für die Leser:innen. Im Inneren bleibt das oftmals sehr distanziert, fast kühl, im Außen mochte ich die detaillierte Beobachtungsgabe, die hier an den Tag gelegt wird, die Fragen, die wieder und wieder aufgeworfen werden.

Katie Kitamura hat es trotz der Distanziertheit geschafft, mich mit ihren Charakteren und der spärlichen Handlung einzunehmen. Wirklich toller Roman, der mich noch eine Weile beschäftigen wird.

Bewertung vom 17.08.2022
Sanfte Einführung ins Chaos
Orriols, Marta

Sanfte Einführung ins Chaos


gut

Marta und Dani sind ein Paar, beide Anfang 30, mit Jobs, die sie über Wasser halten, und ohne gemeinsame Zukunftsvision. Als Marta schwanger wird, stellt sie Dani vor vollendete Tatsachen: Sie wird dieses Kind nicht bekommen.

Wir begleiten das Paar in den Tagen zwischen der Kenntnis über die Schwangerschaft und dem Termin zum Abbruch. Mit Beginn dieser Phase tritt das Paar Marta und Dani in den Hintergrund. Orriols setzt sich tiefgründig und im Detail mit den Gedanken der Einzelnen auseinander, widmet sich deren persönlichen Päckchen, dem, was das Paar voreinander im Verborgenen lässt. Das ist klug konstruiert, mir gefällt die Psychologie dahinter, auch die Art, wie sie aus den durchaus egoistischen Betrachtungen manchmal philosophisch anmutende Aussagen ableitet, welches Verständnis von persönlicher Freiheit, Paarbeziehung und vor allem Zukunft beide in die Beziehung hereintragen, ohne jemals darüber zu sprechen. Und genau das fehlte mir in dem Roman: Der wirkliche Versuch, in den Dialog miteinander zu treten, den eigenen Horizont zu verlassen, sich vielleicht auch voll und ganz, ohne Rettungsleine, auf jemanden einzulassen.

Vielleicht ist das der Grund, warum dieses Buch an den Problemen einer Generation kratzt. Was der Autorin allerdings wirklich gut gelingt, ist, dass das Buch niemals den Eindruck erweckt, als Sprachrohr fungieren zu wollen. Es ist eine *Sanfte Einführung ins Chaos*, für eine tiefergehende Auseinandersetzung, fehlte mir dann aber leider zu viel.

Ein wirklich interessantes Fragment, aber keines, was noch lange hängen bleiben wird.

Bewertung vom 20.07.2022
Baumschläfer
Duda, Christian

Baumschläfer


sehr gut

In einem Rutsch durchgelesen und seit langer Zeit mal wieder ein Jugendbuch, das mich überzeugen konnte.

Basierend auf den Fall Mark S. aus Mönchengladbach, erzählt Christian Duda die Geschichte von Marius, 14 Jahre alt, der direkt zu Beginn Zeuge einer Gewalttat wird. Im Folgenden skizziert Duda die bedrückende Chronologie von Marius’ Falls durch das soziale Netz.

Unterstrichen wird das Ganze von dem auffallendem Stil: Duda arbeitet überwiegend mit kurzen, pointierten Sätzen, erst zum Ende hin bricht es auf, wird weiter, den Umständen geschuldet aber auch wirrer - und bildet damit sehr gut ab, was im Verlauf mit Marius passiert.

Auch, wenn Duda es nie explizit benennt, den Fingerzeig auf bestimmte Akteure unterlässt, übt er mit diesem Roman Kritik an der Gesellschaft, die gehört werden sollte. Ein wirklich gutes Buch, das nachhallt.

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