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Benutzername: 
Veit Feger
Wohnort: 
89584 Ehingen Donau

Bewertungen

Bewertung vom 11.06.2012
Lenin kam nur bis Lüdenscheid
Precht, Richard David

Lenin kam nur bis Lüdenscheid


ausgezeichnet

In einem interessanten Buch zwei unterbeleuchtete Problembereiche,

Prechts Buch 'Lenin kam nur bis Lüdenscheid' hat mich begeistert: Weil es nicht nur von einer ungewöhnlichen Kindheit und Jugend kundig und frisch erzählt (das tun auch andere Autoren), sondern, weil es zahlreiche informierte Ausblicke auf die Zeitgeschichte gibt.
Schade, dass einige Rezensenten ausschließlich auf das INDIVIDUALbiographische Moment dieses Buchs abheben und dass der womöglich GRÖSSERE Gewinn für den Leser nicht genügend oder GAR nicht gewürdigt wurde, der Gewinn, in einem eher unterhaltsamen Kontext über nationale und internationale Zeitgeschichte klug unterrichtet zu werden, jeweils in Parallele zu den Lebensläufen einiger aufgeweckter, engagierter Menschen.

An ZWEI 'Stellen' hatte ich die Empfindung, dass der immerhin 350seitige Text diese zwei 'Stellen' vergleichsweise zu kurz abhandelt.
Das EINE dieser zwei Themen ist die 'Pubertät', von der der Autor erzählt, er habe sie gewissermaßen gar nicht gehabt. Wenn ich nicht etwas --sowieso sehr kurz Gefasstes - überlesen habe, dann fehlt irgend eine Aussage zum Themenbereich 'Pollution, Masturbation'. Auch wenn dieser Bereich bei PRECHT anders als bei vielen anderen Jugendlichen nicht von Erschrecken und Schuldgefühlen begleitet war, so wäre es doch angebracht gewesen, den GRUND zu beleuchten. Der kleine Richard muss wohl eine gute 'Aufklärung' erhalten haben. 'Aufklärung' war früher ein wichtiger Begriff von Erwachsenen im Umgang mit Heranwachsenden: 'Aufklärung über den eigenen und den gegengeschlechtlichen Körper'. Aufklärung in diesem Sinn galt auch der Studentenbewegung als wichtige Aufgabe angehender Erzieher. Aber solche 'Aufklärung' kommt, wenn ich recht gelesen habe, bei Precht NICHT vor. - Kann ja sein, dass bei Precht junior alles ganz perfekt verlief, glücklich, ohne sonderliche Probleme; wir wollen es dem Autor gönnen.

Ganz sicher aber ist, dass ein WEITERER Bereich in der Schilderung des jungen Richard-David-Lebens UNTERbelichtet bleibt - vor allem, wenn man die epische Breite bedenkt, in der Precht sich mit zahlreichen anderen Themen befasst: ich meine das ENDE der ELTERNEHE. Diese Ehe lief - anders als die Körperliche Reifung des jungen Richard - am Ende ganz deutlich schief. Es gab am Ende dieser Ehe (wie es scheint: erstmals) 'heftige Szenen'.
Aber über sie verliert der sonst manchmal fast schon redselig zu nennende Autor nur wenige, insgesamt zudem vage und auf NATURKATEGORIEN zurückgreifende Sätze; ein Beispiel: Die Euphorie meiner Mutter 'verriet viel' ' Ich frage: Was verriet sie? ' Oder dieser kitschige, vor allem aber apologetische Satz 'unsere Familie' brach 'mit unaufhaltsamer Dynamik' auseinander. Seltsam ist, dass ein Autor, der in Philosophie promovierte, bei der Beschreibung des Ende der Eltern-Ehe auf Begriffe aus der Naturwissenschaft zurückgreift, auf das Wort 'Feuer': 'So heftig das Feuer gebrannt hatte, so sehr war es nun erloschen.'
Wenn man bedenkt, wie oft bei der Beschreibung des Verhaltens der Richard-Eltern ethische Begründungen vorkommen, wie sehr die Eltern von ihrem Sohn als ethisch handelnde Menschen dargestellt werden, dann frage ich mich: 'Wo bleibt denn hier, wenn's um die Ehe geht, die sonst so vielberufene Solidarität der Partner' oder wenigstens eines der beiden Partner?'.
Eines ist nämlich klar: Es MUSS Differenzen in der Ehe gegeben haben und sogar STREIT, das folgt aus den zwei Worten 'heftige Szenen'. Precht verliert freilich keine Silbe darüber, was die Inhalte dieser 'Szenen' waren und wie die Vorwürfe (die es gegeben haben muss) lauteten.
Wenn ich nichts überlesen habe, dann verliert der Autor auch keinen Satz darüber, ob und wenn ja, wie seine Eltern später noch Umgang miteinander hatten' oder wohl eher NICHT hatten'.
Veit Feger http://veit-feger.homepage.t-online.de/