Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
CK
Wohnort: 
Raum Stuttgart

Bewertungen

Insgesamt 93 Bewertungen
Bewertung vom 13.12.2024
Nach Mitternacht
Keun, Irmgard

Nach Mitternacht


sehr gut

Beklemmend realistisches Zeitdokument


Der Roman "Nach Mitternacht" von Irmgard Keun spielt an nur 2 Tagen im Jahr 1936 in Frankfurt am Main und beschreibt auf beklemmend realistische Weise den Alltag im nationalsozialistischen Deutschland. Die 19-jährige Erzählerin Sanna muss sich zwischen der Emigration und einem Leben in der Diktatur entscheiden, da ihr Verlobter Franz an die Gestapo verraten wurde.

„Nach Mitternacht“ zeigt auf, dass sich JEDER, der zu diesen Zeiten in Deutschland lebte und überleben wollte, in einem gefahrenbeladenen Alltag befand. Mit seinen eigenen Werten und Ansichten konnte man nicht weit kommen, sie konnten sogar gefährlich werden.
Das Buch ist meiner Meinung nach ein sehr wichtiges Zeitdokument und sollte nicht in Vergessenheit geraten. Der Schreibstil mag einigen gewöhnungsbedürftig vorkommen, aber ich finde, er passt genau so zu diesem Buch und dieser Geschichte. Die leicht naive umd kindliche Art von Sanna macht den Blick auf die damalige Situation während der Diktatur noch eindrücklicher.

"Ich war müde bis zu Verzweiflung - muß ich mein ganzes Leben nun hier bleiben? Plötzlich fielen mir Worte von Paul ein. Nie werde ich vergessen, wie er an einem Abend erzählte von Ländern, in denen man reden könne, was man wolle, in denen man keine Angst zu haben brauche, solange man sich nicht gegen die heiligen Zehn Gebote versündige. Länder gebe es ohne versteckte Gefahren, dort könne man grüßen, wie man Lust habe - an Festtagen dürfen man weinen und an Trauertagen lachen, wie's einem gerade ums Herz sei.
Da überkam's mich plötzlich. Hier saß ich und sollt bestraft werden und wußt nicht warum. Ich wußt nicht mehr, was gut war - ich wußte nicht mehr, was böse war. Ich dachte an die Länder mit den heiligen Zehn Geboten, in denen gut gut und böse böse ist. Ich dachte an die fernen fremden Länder, von denen Paul erzählte. Ich mußte weinen, wie ich noch nie in meinem Leben geweint hatte."

„Das Schlimme ist, dass ich gar nicht verstehe, was eigentlich los ist, ich hab jetzt nur allmählich raus, wo man sich in acht zu nehmen hat.“

Bewertung vom 13.12.2024
wie ich frau bin
Thomas, Ruth-Maria

wie ich frau bin


ausgezeichnet

wie ich frau bin und immer eine meine Hand hält ...


Der in der SUKULTUR "Schöner lesen"-Reihe erschienene Band "wie ich frau bin" von Ruth-Maria Thomas ist ein kleines Büchlein, das sich wie ein sehr langes und sehr persönliches Gedicht liest.
Das ist natürlich immer Geschmackssache, aber ich mag so etwas sehr. Es gibt einem einiges zum Nachdenken und Reflektieren und ich fand es einfach großartig geschrieben. Klare Leseempfehlung von mir!

"- wie ich in Leslie Jamisons Essay lese: " Schmerz, der vorgeführt wird, ist immer noch Schmerz. Schmerz, der abgedroschend klingt, ist immer noch Schmerz. Der Vorwurf des Klischees und der Theatralik bieten unseren verschlossenen Herzen zu viele Alibis und ich will, dass unsere Herzen offen sind. Genau so."

"- wie ich auch will, dass unsere Herzen offen sind, genau so"

" - wie ich denke, dass das ganz schön viel weibliches Leid für einen Text ist, vielleicht bisschen was streichen, damit niemand 'ne Überdosis bekommt

- wie ich nichts streiche"

Bewertung vom 12.12.2024
Unter Frauen

Unter Frauen


sehr gut

Unter Frauen: Für alle, die das Lesen lieben

Die Anthologie "Unter Frauen: Geschichten vom Lesen und Verehren" ist eine sehr schöne Idee, die mich sofort begeistert hat: Schriftstellerinnen schreiben etwas über ihre Lieblings-Schriftstellerinnen. Über Autorinnen, die sie beeinflusst und geprägt haben, die sie lieben und verehren.
Das einleitende Vorwort von Maria-Christina Piwowarski hat mir sehr gut gefallen, ebenso die meisten Beiträge im Buch. Beteiligt haben sich an dieser Sammlung Gabriele von Arnim, Simone Buchholz, Ulrike Draesner, Mareike Fallwickl, Yael Inokai, Rasha Khayat, Mirrianne Mahn, Daria Kinga Majewski, Jacinta Nandi, Deniz Ohde, Jovana Reisinger, Ruth-Maria Thomas und Kathrin Weßling. Die Texte sind alle sehr unterschiedlich, genauso wie die Autorinnen, um die es geht.
Am allerbesten gefallen haben mir die Beiträge von Mirrianne Mahn und Ruth-Maria Thomas, diese haben mich wirklich sehr, sehr berührt. Auch der Beitrag von Rasha Khayat hat mir unheimlich gut gefallen!
Ganz sicher stößt man auf Autorinnen und Bücher, auf die man ansonsten (leider) nie aufmerksam geworden wäre. Und das ist gut so: Die Stimmen von Frauen müssen gehört werden, die Texte dieser Schriftstellerinnen sollen nicht vergessen werden!
Klar ist, dass man am Ende eine ganze Menge Bücher auf seinen Wunschzettel setzen wird und der SUB immer weiter wachsen wird. Aber über solch persönliche "Buchempfehlungen" in literarischer Form freue ich mich sehr!
Einen Stern Abzug gebe ich, da es (trotz meiner sehr guten Englischkenntnisse) meiner Meinung nach den Lesefluss etwas stört, dass oft lange Textteile auf Englisch enthalten sind. Dies hätte man vielleicht anders lösen können. - Ansonsten eine klare Leseempfehlung von mir!

"Es reicht nicht, dass Bücher existieren. Es braucht auch immer einen Zugang zu diesen Büchern. Dass ich dieses Buch gelesen habe, ist eines der Erlebnisse in meinem Leben, dass mich für immer verändert hat." (aus "Niemals nur für mich schreiben“ von Ruth-Maria Thomas über Irmgard Keun)

Bewertung vom 11.12.2024
Leon Hertz und die Sache mit der Traurigkeit
Surmann, Volker

Leon Hertz und die Sache mit der Traurigkeit


ausgezeichnet

Einfühlsames Jugendbuch über Traurigkeit, Tod, Mobbing und Anderssein

Auf das Buch "Leon Hertz und die Sache mit der Traurigkeit" von Volker Surmann bin ich aufgrund des Titels und des interessant gestalteten Covers aufmerksam geworden.
Das Buch bietet eine sehr einfühlsam geschriebene Geschichte über Traurigkeit, Angst und Alleinsein, auch die Themen Mobbing und Homosexualität kommen vor. Gleichzeitig ist es aber auch eine Geschichte über Freundschaft und Mut.
Die Hauptperson Leon fand ich wirklich authentisch und sympathisch dargestellt, auch Rouven und Edda mochte ich sehr.
Der Schreibstil hat mir gut gefallen, es ist leicht zu lesen und auch spannend geschrieben. Besonders das Ende fand ich sehr gelungen.
Das Buch ist insgesamt sehr stimmig und bekommt von mir eine klare Leseempfehlung für Jugendliche ab ca. 12/13 Jahren, aber auch Erwachsene können das Buch gut lesen.
Sicherlich wäre es insbesondere in Bezug auf die Themen Mobbing und Ausgrenzung auch gut als Schullektüre geeignet, um einen Einstieg ins Gespräch über diese Themen zu haben.

"Ich heulte schon ein bisschen, als ich über den Friedhof lief, aber so richtig losgeflammt habe ich erst an Lukas' Grab. Später grübele ich, wieso ich unbedingt dorthin wollte. Vielleicht, weil ich meine Traurigkeit an einen Ort bringen wollte, wo sie niemanden verwirrt. Es sah mich zwar keiner an Lukas' Grab, aber wenn, wäre es auch egal gewesen. Niemand verurteilt einen auf einem Friedhof für Tränen. Dort gehören sie zum Leben dazu. Das gefällt mir."

Bewertung vom 09.12.2024
Fürs Leben zu lang
Huppertz, Nikola

Fürs Leben zu lang


ausgezeichnet

Tiefsinniges und kluges Jugendbuch über das Leben und den Tod

„Fürs Leben zu lang“ von Nikola Huppertz erzählt die Geschichte der 13jährigen Magali, die ihrer Meinung nach „fürs Leben zu lang“, also viel zu groß für ihr Alter ist. Viel zu groß, um von jemandem geküsst zu werden – darüber ist sie sehr unglücklich. Wäre sie wie ihre große Schwester Malve, würde sie ein Tagebuch über ihr eigenes Leben führen, aber das scheint es ihr nicht wert zu sein, also schreibt sie ein Buch „über alle anderen“. Zum Beispiel über ihren 98jährigen Nachbarn, Herrn Krekeler. Dann taucht dessen Enkel Kieran auf und stellt ihr Leben gehörig auf den Kopf – und Herr Krekeler möchte sterben. Gemeinsam stellen sich Kieran und Magali die Frage, wie „richtiges“ Leben überhaupt geht ...
Das Buch hat mir sehr gut gefallen, der Schreibstil genauso wie die durchaus kluge und tiefsinnige Geschichte. Meiner Meinung nach ein wirklich empfehlenswertes Buch für Kinder/Jugendliche ab ca. 12 Jahren. Von dieser Autorin werden wir sicher noch mehr Bücher lesen!

„Ein Philosoph, meint ihr wohl, der muss sowas doch parat haben. Der hat über alle wichtigen Fragen nachgedacht und alle Antworten gefunden. Da muss ich euch leider enttäuschen. Nachdenken tun Philosophen tatsächlich viel, aber akzeptable Antworten finden sie selten. Meistens verstehen sie hinterher nur die Fragen besser. Oder sie verstehen wenigstens, warum wir Menschen uns solche Fragen stellen.“

Bewertung vom 06.12.2024
Die schönste Version
Thomas, Ruth-Maria

Die schönste Version


ausgezeichnet

Gesellschaftskritischer Roman in einer der schönsten Versionen

"Die schönste Version" von Ruth-Maria Thomas erzählt die Geschichte von Jella und Yannick, die in den 2010er Jahren in einer ostdeutschen Kleinstadt ihre erste große Liebe erleben. Es ist aber auch die Beschreibung einer toxischen Beziehung, es geht um sexualisierte Gewalt und Übergriffe.
Es ist erschreckend gut und realistisch hier dargestellt wird, wie Mädchen und Frauen sozialisiert wurden - und leider immer noch werden! Wie sie lernen, gefallen zu wollen (zu müssen), begehrenswert zu sein, verfügbar zu sein, sich selbst zu verleugnen und zu verstellen. Wie sie Dinge erleben müssen und sich Fragen stellen müssen, die sich keine Frau oder Mädchen stellen sollte. „Was ist mir da gerade passiert?“ – „Ist das wirklich passiert?“ – „War das wirklich so schlimm?“
Einige Leser*innen haben die Sprache der Autorin kritisiert. Ja, die Ausdrücke und Darstellungen sind heftig, aber das passt aber meiner Meinung nach gerade so gut zu diesem Buch, ganz genauso wie es geschrieben ist. Das muss man nicht unbedingt schön finden, genauso wenig wie man Jella und Yannick sympathisch finden muss oder ihren Lebensstil gutheißen muss. In der Literatur geht es ja nicht um Sympathie. Ich fand die Charaktere alle ziemlich authentisch dargestellt, und vor allem wird hier ein sehr schweres und wichtiges Thema so umgesetzt, dass man es fast „leicht“ lesen kann. Die Geschichte zieht einen sofort in den Bann und ich konnte das Buch gar nicht mehr zur Seite legen. Bei meiner Bewertung schwankte ich zwischen 4 und 5 Sternen, da ein ähnliches Thema noch einen ganz kleinen Ticken besser verarbeitet wurde in dem Buch "Geordnete Verhältnisse" von Lana Lux. Aber "Die schönste Version" ist tatsächlich auch ziemlich großartig. Meiner Meinung nach sehr lesenswert, ein wichtiges Thema - und das Buch sollte von Männern bitte genauso gelesen werden wie von Frauen!

„Weißt du, warum ich in Wahrheit immer Kondome dabeihabe?, sagte Linh zu mir, als wir uns beide nach dem Kino in mein Bett quetschten. Ihr Atem roch nach Pfefferminz, und ich fragte: Warum? Falls ich mal vergewaltigt werde, kann ich den Vergewaltiger immer noch anbetteln, dass er ein Kondom nimmt.“

"Das bin ich diesem Körper schuldigt, diesen Punkten, dass ich ihnen nachgebe, dass ich mich ziehen lasse. Dass ich jetzt eingreife. Da eingreife, wo er reingegriffen hat. Reingeschlagen hat. Reingedrückt hat. In meine Magenwürde. Und in meine Halswürde. Meine Körperwürde. Meine Alleswürde."

"Was weiß ich denn, mein Vater klingt hilflos. Zu so was gehören doch aber immer zwei.
Ich halte den Atem an. Auf einmal ist alles sehr still in mir. Mein Handy vibriert wieder, und als ich die SMS von Yannick öffne und da steht "ich mache mir solche sorgen, bitte melde dich. y"
ist da keine Wut, kein Widerstand mehr."

„Und was so gruselig ist, ist, dass, wenn er dich loslässt, wenn du wieder atmen kannst, ganz alleine, endlich wieder atmen, dann bist du so erleichtert, dass du schon irgendwie... irgendwie dankbar bist. Dass er dir die Luft zurückgegeben hat. Und dann. Danach. Das Abtun, als wäre nichts gewesen. Als würdest du übertreiben. Dann bist du selber unsicher, zweifelst, bekommst das Gefühl, dass du deiner eigenen Angst nicht mehr vertrauen kannst. Und dann. Wischst auch du es weg, als wäre es nichts, nur ein Teil des Streits, keine lebensbedrohliche Situation, die dich verfolgt, bis in deine Träume. Bis du nicht mehr Fahrstuhl fahren kannst. Wischst es weg, als wäre es nicht nichts. Und das ist das, was dich am meisten fertig macht.
Ich meine mich.
Korrigiere ich mich.
Das ist das, was mich am meisten fertig macht. Der Verrat an mir selbst.“

Bewertung vom 05.12.2024
Stumme Gewalt (eBook, ePUB)
Emcke, Carolin

Stumme Gewalt (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Sehr kluges Buch mit intelligenter Fragestellung & viel Stoff zum Nachdenken


"Stumme Gewalt - Nachdenken über die RAF" ist ein weiteres überaus beachtenswertes Buch der Journalistin und Autorin Carolin Emcke.
Ich muss zugeben, dass ich eine riesige Bewunderin von ihr bin - ich schätze und liebe Ihre unfassbar kluge und empathische Art zu denken und zu schreiben.
Besonders gut fand ich ihre Veröffentlichungen "Über den Hass", "Wie wir begehren", "Ja heißt ja und ..." sowie "Weil es sagbar ist", aber alle ihre Bücher sind mehr als lesenswert und klug!
Hier in dem sehr persönlichen Buch "Stumme Gewalt" verarbeitet Carolin Emcke nach 18 Jahren die Ermordung ihres Patenonkels, dem Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen.
Er wurde bei einem der letzten RAF-Morde in Bad Homburg mit einer Sprengladung getötet.
Das Buch ist ebenso eine persönliche Aufarbeitung wie auch ein politischer Text.
"Freiheit gegen Aufklärung", nur so könnte es Carolin Emcke zufolge helfen, diese Epoche des Terrors in Deutschland wirklich zu begreifen und aufzuarbeiten.
Ich fand auch dieses Buch wirklich sehr gut und klug geschrieben; es regt zum Nachdenken an und ist gleichzeitig unfassbar berührend.
Ganz klare Leseempfehlung von mir!

„Das hatte ich mir geschworen. In der ersten Woche. Da war Alfred Herrhausen noch nicht einmal beerdigt. Dass ist denn Mördern niemals gelingen sollte, mich zu einer anderen Person zu machen. Dass es ihnen nicht gelingen sollte, mich zu manipulieren. Dass ich ihnen nicht den Triumph gönnen würde, mich politisch zu verbittern, dass ich intellektuell offen bleiben müsse - aus Hass gegenüber den schweigenden Tätern.“


„Wie immens muss die Motivation zu töten sein, dass sie sich durch alle logistischen und technischen Details der Vorbereitung hindurch erhalten kann?
...
Und hat es einen einzigen Moment gegeben, in dem Fragenden Nachdenklichkeit statt haben durfte Fragezeichen sind jemandem Zweifel gekommen? An dem Objekt des Hasses? An dem Hass selbst? Hat es einen Moment gegeben, in dem sich die Täter fragten, wie Smaie bis hierher gekommen sind? Wie sie jemand geworden sind, der dabei ist, einen Mord zu begehen? Haben sie sich das gefragt?
Hat es einen einzigen Moment gegeben an dem jemand unsicher wurde?“

„Getrieben vom Zorn jedenfalls werden wir die Gewalt von heute und die Gewalt von gestern nicht überwinden. Je zorniger wie reagieren, je mehr wir uns hineinsteigern in diese aufgewühlte Wut gegen die anderen, umso mehr deuten wir auf das was am Grund dieses Zorns liegt: die eigene Schwäche.“

„Ich weiß, wie einladend diese Reaktion ist.
Wie nahe liegend dieser Rückzug in die eigene Verwundung. Ich weiß, warum wir immer wieder und immer noch in dieses Verhaltensmuster verfallen.
Wir wollen erst, dass diese Versehrungen anerkannt werden, wir wollen bestätigt bekommen, dass es Unrecht war, dass es Leid verursacht und dass es uns geprägt hat. Und solange uns das Unwissen noch quält, solange das schützende Schweigen andauert, solange scheint es unmöglich, das Loslassen.“

Bewertung vom 02.12.2024
Wünschen
Ibeh, Chukwuebuka

Wünschen


ausgezeichnet

"Wünschen" von Chukwuebuka Ibeh ist ein sehr beeindruckendes und bewegendes Romandebüt. Erzählt wird die Geschichte von Obiefuna, der in den 2000er-/2010er Jahren in Nigeria aufwächst. Er ist kein "typischer" Junge, ist klug, schüchtern und tanzbegeistert. Als sein Vater in einer intimen Situation mit einem anderen Jungen, Aboy, erwischt, schickt er ihn auf ein strenges christliches Internat. Fern von seiner Mutter, die es sehr vermisst, gewöhnt er sich dennoch an die strengen Regeln und Hierarchien des Internatslebens, aber es ist auch ein Überlebenskampf.
Nach seinen Abschlussprüfungen beginnt Obiefuna ein Studium und verliebt sich. Mit Miebi und dessen lieberalem Freundeskreis fühlt er sich sehr wohl und glücklich. Doch die glückliche Beziehung wird auf eine harte Probe gestellt - mit den politischen Entwicklungen im erzkonservativen Nigeria und dem 2014 verabschiedeten Gesetz über die Strafbarkeit gleichgeschlechtlicher Beziehungen ist sein Wunsch nach Liebe und einem selbstbestimmten Leben in Gefahr.
Das Buch zeigt auf sehr eindrücklich Weise, was es bedeutet, schwul in Nigeria aufzuwachsen und zu leben.
Mir hat der Schreibstil und die Geschichte sehr gut gefallen, auch wenn das Ende dann etwas zu abrupt kam für meinen Geschmack. Dennoch vergebe ich aufgrund der Wichtigkeit des Themas und der Emotionalität des Buchs mit guten Gewissen 5 Sterne.

"Wie lächerlich, wie gefühllos und absurd diese Erwartungen an ein Kind waren. Er war erst acht und wusste nicht, was »angemessenes« Verhalten bedeutete. Doch als sie das Licht in seinem Zimmer ausmachte, nachdem es ihr gelungen war, seine Tränen zu trocknen, und er eingeschlafen war, wünschte sie sich, dass er nur ein ganz kleines bisschen gewöhnlicher wäre."

"Wir können nicht alle in denselben Dingen gut sein. Das Leben besteht aus Vielfalt. Es ist ein Grundprinzip", setzte Uzoamaka nach.

"Es ist eine Sache, ein Kind zu lieben, aber eine ganz andere ist es, ob sich dieses Kind auch geliebt fühlt. Unser Sohn ist noch jung. Er wird in seinem Leben noch vielen Widerständen begegnen. Ein Zuhause ist der letzte Ort, an dem sich ein Kind nur bedingt geliebt fühlen sollte."

"Ich muss oft daran denken, wie viel Liebe verloren geht, während schwule Kinder groß werden. Man beraubt uns der Möglichkeit, die Unschuld jugendlicher Verliebtheit zu erleben, weil man die ganze Zeit Angst hat und mit dem Stress beschäftigt ist, die Fassade aufrechtzuerhalten."

"Wie konnte er Miebi begreiflich machen, dass es schwierig war, die Nachrichten zu ignorieren, wenn der Hass wie ein riesiger, unverrückbarer Felsen direkt vor einem lag?"

"Wie kann man etwas Schönes beginnen, wenn man schon vorher um seine Endlichkeit weiß? Man gab sich der Liebe hin und wusste, dass man keine Chance haben würde..."

"Ich habe das alles nur zu deinem Besten getan ", sagte Anozie. "Es ist nicht normal, so zu leben. Es gibt mittlerweile sogar ein Gesetz dagegen. Du kannst ins Gefängnis kommen, wenn du so was tust." - "Ich habe mein ganzes Leben lang in einem Gefängnis gelebt, Papa."

Bewertung vom 29.11.2024
Benefiz
Lehmbeck, Sabine

Benefiz


ausgezeichnet

Acht Frauen. Acht Lebensgeschichten

Der Roman „Benefiz“ ist mir aufgrund des sehr prägnanten Covers aufgefallen, welches meiner Meinung nach sehr gut zum Buch passt.
In diesem Roman von Sabine Lehmbeck verknüpfen sich über die 14 Kapitel die Lebenswege der 8 Hauptpersonen, allesamt Frauen unterschiedlichen Alters und verschiedener Herkunft und andern Charakteren.
Der Aufbau des Buchs ist meiner Meinung nach hierbei besonders gut gelungen. Trotz der vielen Namen verliert man nie den Überblick, da jede Person in einem eigenen Kapitel eingeführt wird. Nach und nach sieht man, wie alle zusammengehören. Das Buch ist ein echter Pageturner, man kann es kaum mehr zur Seite legen. Dabei liest es sich trotz der vielfältigen und teils schweren Themen (Politik, Familie, Herkunft, Sexualität, etc.) so leicht, dass es eine wahre Freude ist.
Ein Buch, das mich sehr positiv überrascht hat!

Bewertung vom 28.11.2024
Hund, Wolf, Schakal
Khani, Behzad Karim

Hund, Wolf, Schakal


ausgezeichnet

Wenn man aus einer Welt kommt, die einen nicht will …


Behzad Karim Khanis Debütroman „Hund Wolf Schakal“ habe ich erst nach seinem wirklich großartigen Roman „Als wir Schwäne waren“ gelesen, aber auch bei diesem Buch hat mich von der ersten Seite an sein Schreibstil und seine beeindruckende Sprache begeistert. Auch wenn das Buch vom Thema her natürlich sehr bedrückend und heftig ist.

Nachdem im Grauen der Iranischen Revolution ihre Mutter getötet wird, fliehen der elfjährige Saam und sein kleiner Bruder Nima mit ihrem Vater Jamshid nach Deutschland. Der Vater hat es nicht einfach hier, bekommt nur einen Job als Taxifahrer und kommt nicht zurecht im neuen Leben in Neukölln - zu sehr quälen ihn die Geister der Vergangenheit. Saam übernimmt mehr oder weniger die Rolle des Familienoberhaupts, möchte sich Respekt verschaffen und wächst in kriminelle Strukturen hinenin. Bis er eines Tages zu weit geht …
Das Schicksal dieser beiden Brüder kann einen nicht kalt lassen. Ein bedrückendes Buch, das noch lange in mir nachwirken wird.
Und ich hoffe sehr, dass es bald wieder ein neues Buch von Behzad Karim Khani geben wird!

"Es gab Prothesen, aber eine Prothese war für ihn wie eine Perücke. Eine Lebenslüge. Jamshid trug keine. Und er ließ seine Mutter auch nicht die Hose an der Seite kürzen, wo jetzt kein Bein mehr da war. Er faltete es und steckte es mit Sicherheitsnadeln ab, als erwartete er, dass das fehlende Bein irgendwann wieder nachwuchs. Drei Paar Schuhe hatte er gekauft seit dem Attentat. Den rechten trug er, die linken bewahrte er auf."

"Es war gut, dass sie gingen, dachte er. Der Pass würde sie nach Istanbul bringen, da würde er eine Telefonnummer wählen, und jemand würde sich um sie kümmern. Jemand der wissen würde, der vielleicht sogar jetzt schon wusste, wie die Reise weiterging. Welche Route sie nehmen müssten, welches Land sie akzeptieren würde. Schweden, die Sowjetunion, Jugoslawien oder Deutschland. Er selbst hatte keine Präferenz. Er rannte vor etwas weg, nicht zu etwas hin."

"Es ist nicht einfach, Geschenke anzunehmen, wenn man nichts hat. Armut macht jedes Geschenk zu Almosen, jede Großzügigkeit zu Mitleid. Macht den Beschenkten zum Bedürftigen, den Schenkenden zum Gönner. In jeder Gabe steckt ein Vertrag über oben und unten. Mit dem Annehmen unterschreibt man ihn. Wenn die Geschenke gebraucht sind, also aussortiert wurden und sonst auf den Müll kämen, berühren Sie die Würde."

"Elend war nichts, was ich in Öffnungs- oder Sprechzeiten fassen ließ oder irgendwann endete. Jeden Morgen wartete es draußen, zog ein, sobald der Mann in Uniform die Tür öffnete, und blieb bis sie wieder hinter ihm geschlossen wurde."

"Saam hatte die Logik von Gewalt verstanden. Die strenge Schule Jamshids, die Kälte mmNarwans, sein spartanisches Verhältnis zum eigenen Körper als einem Ort des Aushaltens und der Disziplinierung. Er hatte gelernt, dass derjenige, der nicht am Thron sägte, noch unter dem stand, der ist tat. Er hatte verstanden. Dieses Mal wirklich. Er konnte der nächste König sein, und wenn nicht, zumindest der nächste Terror, die nächste Furcht."

"Wenn man aus einer Welt kommt, die einen nicht will, ist man ihr auch nichts schuldig. Keine Loyalität. Keine Erklärung. Man muss nicht einmal den Namen annehmen, den man bekommen hatte."