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kaffeeelse
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psychologiebegeiste und Ethnographie liebende Vielleserin

Bewertungen

Insgesamt 35 Bewertungen
Bewertung vom 07.01.2025
Maman
Schenk, Sylvie

Maman


sehr gut

Traumata und Folgen

Dieses Buch ist ein Versuch der Aufarbeitung. Berührend und zugleich distanziert. Ein Versuch der Nähe, eine Nähe, die nie stattgefunden hat. Maman. Eine Mutter. Die eigene Mutter. Ein Mutter-Tochter-Verhältnis voller Distanz. Eine andere Zeit. Sicher. Dennoch hat die fehlende Nähe ja auch was mit dem Kind, mit den Kindern gemacht. Von daher ist die Intention zu diesem Buch interessant. So distanziert, wie die Mutter war, dies hat die Tochter sicher nie losgelassen. Mütter und Töchter. Ein immerwährendes Thema. Wenn man in einer gefühlsarmen Umgebung aufgewachsen ist, macht das was mit einem. Man könnte loslassen und das eigene Leben führen. Das tut man auch. Aber lässt einen das Erlebte kalt, kann man das vergessen. Mitnichten. Und so vergisst auch die Autorin nicht. In diesem Buch versucht sie dem Erlebten einen Raum zu geben, versucht die Mutter zu verstehen, gibt ihrem eigenen Trauma einen Raum, ergeht sich in dem Warum, erörtert die Möglichkeiten, gibt den vorhandenen Fakten einen Schuss Fiktion dazu. Die Autorin möchte verarbeiten, was schwer zu verarbeiten ist. Was für eine Kraft hinter diesem Versuch steckt, kann man nur erahnen. Wie schwer solch ein Buch sein muss. Chapeau vor dieser Leistung.

Die Mutter Renée wird 1916 geboren, Renées Mutter stirbt bei der Geburt, ein Vater ist nicht bekannt. Und so beginnt Renées Leben im Waisenhaus, bevor sie das „Glück“ hat in einer Familie aufgenommen zu werden. Sie kommt zu einer Bauersfamilie in der Ardèche, doch hier wird sie nur wegen finanzieller Ziele aufgenommen, Liebe, Fürsorge und Empathie sind hier Fremdwörter. Nach einer traumatisierenden Zeit kommt sie nun zu einer Apothekerfamilie. Hier ist das Leben sonniger, jedoch wie kann ein traumatisiertes Kind voller Bindungsstörungen und bisher fehlender Liebe plötzlich ein glückliches Leben führen. Renée wird erwachsen und heiratet, bekommt selbst Kinder. Was gibt sie diesen Kindern mit, was kann sie ihnen mitgeben?

Vor diesem Hintergrund schaut Sylvie Schenk auf ihre Mutter. Sie schaut empathisch. Versucht zu verstehen. Und gibt damit den erlittenen Traumata nicht weiter Nahrung. Was für eine Stärke! In dem Buch ist nichts gefühlsüberfrachtet. Sachlich, ruhig und still schaut Sylvie Schenk auf das Vergangene und berührt damit umso mehr. Man erahnt das Gefühlschaos, durch das sie gegangen sein wird und empfindet Hochachtung vor dieser Frau, dass sie die Kraft hatte dieses Buch zu schreiben. Denn auch ihre erlittenen Traumata sind greifbar. Doch verbleibt sie nicht darin, sie versucht zu verstehen, ob darin auch die Kraft zum Verzeihen liegt, man kann es erahnen. Und ich wünsche es ihr. Denn die eigenen Verletzungen weiter zu nähren, vergiftet das eigene Leben und dass deiner Umgebung.

Lesen!

Bewertung vom 05.01.2025
Habibitus
Yaghoobifarah, Hengameh

Habibitus


sehr gut

Bissige Kolumnen

Hengameh Yaghoobifarah versammelt in diesem Buch Kolumnen, die in der taz und auch im Missy Magazine von 2016 bis 2022 erschienen sind. Und diese Kolumnen sind recht bissig gelungen.

Habibi und Habitus. Ein Liebling und das Erscheinungsbild also. Eine Mischung desgleichen. Nun zum Liebling macht sich Yaghoobifarah mit diesen Kolumnen sicher nicht. Aber genau dies ist sicher auch eine Intention und sicher gewünscht.

Denn Yaghoobifarah blickt sehr zynisch und sarkastisch auf unser Land, auf unser Sein und nimmt uns damit einerseits in die Pflicht der Reflexion. Andererseits will Yaghoobifarah auch treffen. Und das gelingt mühelos.

Denn unser patriarchales System und unsere Gesellschaft, die oft mühelos und damit sehr befremdlich rechtsextremes Gedankengut in ihrem Denken, in ihrem Sein transportiert und damit wenig Aufschreie auslöst, wirkt sicher für Außenstehende und Zureisende gespenstisch und bedrohlich. Denn dieses 30er/40er Gespenst ist immer noch da, zeigt sich gerade jetzt wieder in seiner ganzen Macht. Ebenso wie unser patriarchales System weiterhin die Macht einseitig verteilt lässt und sich die Macht nicht aus den Händen reißen lassen will und damit neues Denken ständig durch alte Strukturen blockiert wird.

Was denken da Neuankömmlinge? In den Kolumnen kann man einen Teil dieses Denkens erahnen, erlesen. Wie gesagt einen Teil. Denn hier spielt auch wieder der Begriff Habitus eine Rolle. Denn jede Betrachtung einer Person entspringt ihrer jeweiligen Sozialisation, ihrer Stellung in der Gesellschaft. Und somit ist Hengamehs Blick nicht nur ein Blick aus einer anderen Welt, sondern auch ein Blick aus der LGBTQIA+ Perspektive. Was interessant ist. Denn auch da gebärdet sich unser patriarchales System ja recht bedenklich. Obwohl es Verbesserungen gibt, möchte die alte konservative Welt diese Verbesserungen am liebsten einstampfen. Unser Onkel Friederich und seine Kumpanen werden dies auch schaffen, so meine Meinung, denn diese konservativen Strukturen ziehen sich durchs ganze Land und bekommen demnächst sicher wieder mehr Macht, durch ihre allseitig existente Polemik, die leider für viele nicht durchschaubar ist und der sie leider vermehrt aufsitzen. Leider!

Von daher ist Hengamehs Buch, die Kolumnen darin, sehr wichtig und braucht Aufmerksamkeit. Denn die allerorten grassierende Dummheit kann man nur mit Informationen und Wissen, dem Sichtbarmachen bekämpfen, wenn dies denn gesehen wird.

Nun hat dieses Buch aber auch einige Stachel, die sich beim Lesen in das Fleisch des Lesenden bohren, sicher gewollt in seiner ungestümen Boshaftigkeit. Ich sage nur Sauberkeit nach dem Rückkehren von gewissen Örtlichkeiten. Dennoch fließt hier auch ein gewisser Humor mit rein. Was für manche unserer Zeitgenossen sicher schwer zu erkennen ist, denn der Humor ist bei uns rar gesät.

Aber auch Hengameh verrät, dass einige der Kolumnen heute sicher anders ausfallen würden. Ja, die Kraft der Reflexion halt. Was in den jungen Jahren und den damit verbundenen hehren Zielen in einer gewissen Schwarz-Weiß-Denke ausfällt, wird mit den Jahren grauer. Ich weiß!

Doch die Betrachtungen in den Kolumnen der Jahre 2016 bis 2022 haben nicht an Bedeutsamkeit verloren, denn unsere patriarchale Welt existiert weiter, unsere Betrachtung der Menschen und ihre jeweilige Benotung in ihrer Wichtigkeit fürs System sind weiterhin existent, unser Sexismus und die damit einhergehende Bewertung der Geschlechter ist weiterhin existent, unsere Betrachtungen dem Andersartigen gegenüber haben sich oft von damaligen Gedanken nur wenig entfernt. Es liegt noch viel Arbeit vor uns unsere Welt bunt und tolerant zu gestalten und Hengamehs Texte sind ein wichtiger Faktor in dieser Arbeit. Lesen!

Bewertung vom 05.01.2025
Kosakenberg
Rennefanz, Sabine

Kosakenberg


ausgezeichnet

Das Gestern und das Heute

Sabine Rennefanz wirft hier einen Blick auf den Osten, einen Blick auf die verlassenen Landschaften, diese Landschaften, die erblühen sollten. So wurde die Wende so Manchem von uns beschrieben. Manches blüht ja auch. Aber an manchen Stellen ist das Blühen verklungen.

Kosakenberg. Ein Dorf in der brandenburgischen Provinz. Flach ist das Land. Weit und breit ist kein Berg zu sehen. Ein Hügel hat diesen Namen erhalten und der Name ist geblieben. So bergig wie blühend ist das Land in Kosakenberg.

Kathleen stammt von hier. Aber sie lebt nicht mehr in Kosakenberg. Sie hat es nach London geschafft. Sie ist Grafikerin und sie ist erfolgreich. Rückwärts schaut sie nur mit traurigen und auch verächtlichen Augen. Sie möchte nicht mehr zurück, kommt nur ab und zu und auch da recht widerwillig. Denn dieses Damals hat nichts mehr mit ihrem Jetzt zu tun. Doch ist dies wirklich so?

Die versprochenen blühenden Landschaften waren kurz nach der Wende nicht wirklich blühend. Betriebe und LPG´s verschwanden und mit ihr verschwand der Beruf und der Erwerb. Viele Menschen wurden für sie plötzlich von etwas überrascht, was sie nicht kommen sahen. Und mussten sich umentscheiden. Die Wendigen im Kopf taten dies und viele verschwanden zu Lohn und Brot. Sie verstreuten sich. Doch ihre Geschichte nahmen sie mit. Und so finden sich die Erinnerungen an die Kosakenbergs im Osten an vielen Stellen der Erde wieder.

Auffallend viele Frauen sind gegangen. An manchen Stellen im Osten bis zu einem Drittel. Und dies macht etwas mit den Zurückgebliebenen, mental, aber auch politisch. Wie man heute mit Befremden feststellt!

Kathleen besucht ihre Ursprünge. Sie schaut bei ihren Besuchen umher und wundert sich. Sie schaut auf ihre Vergangenheit, auf die zurückgebliebenen Menschen und bemerkt, dass ihre Vergangenheit immer noch da ist, in ihrem Herz, in ihrem Kopf. Doch warum soll sie auch verschwinden?

Viele der Verschwundenen triggert ihre einstige Heimat. Doch warum ist das so? Wie viel Gefühl für die alten Wurzeln ist denn noch da? Genügend! Denn unsere Wurzeln verlassen uns nicht. Wir haben diese Kosakenbergs in uns. Wir, und damit meine ich alle die, die ihre Heimat verlassen haben, verlassen mussten, wie ich selbst auch.

Warum ist unsere Heimat so verbohrt geworden? Warum denken die Menschen jetzt so zerstörerisch? Selbst wenn ich das Gefühl habe, betrogen worden zu sein, rechtfertigt dies in meinen Augen nicht, den Hass zu wählen, den Hass in mein Herz zu lassen. Den einstigen Betrug als Grund für die eigene Veränderung zu nehmen ist doch etwas dürftig, wie ich finde. Denn auch wenn der Betrug über mich kommt, mir vieles wegnimmt, muss ich ja nicht tatenlos verharren. Manche konnten nicht reagieren, manche wollten nicht reagieren. Aber dies darf man nicht vergessen. Die eigenen Entscheidungen.

Allerdings kann ja auch nicht das erklärte Ziel der damaligen Übernahme das Entvölkern der blühenden Landschaften gewesen sein. Nur leider lief es vielerorts genau so ab. Der Großteil der Betriebe, viele der LPG´s machten zu und die Menschen standen da.

Manche reagierten in der Aktion und manche im Stillstand. Kann man das bewerten? Heute. Wenn man die Folgen sieht. Wenn man die Enttäuschung sieht. Denn nicht nur die Strukturen brachen zusammen. Auch die Familien zerfielen und spalteten sich in die Aktionsfähigen und die Zurückbleibenden. Demzufolge machte der Zerfall der Struktur und auch der Zerfall der Familie den Menschen zu schaffen.

Nun kann man sagen, dass dies in strukturschwachen Regionen in vielen Teilen Deutschlands so passiert. Klar. Aber nicht plötzlich und überall. Denn diesen Zerfall in der Struktur und in der Familie traf einen ganzen Landesteil im selben Moment, sprich, diese negativen Geschichten hörst du plötzlich überall. Die meisten Menschen sind dazu gemacht sich das Negative besser zu merken. Leider! Und genau das taten sie. Sie weinten den Gegangenen hinterher und beweinten sich selbst. Wer in so einer Umgebung positiv bleibt, ist zu bewundern!

„Kosakenberg“ ist ein kluges Buch über ein Geschehen, dem sich so manch einer nicht bewusst ist und es ist wunderbar, dass genau dieses Geschehen sichtbar gemacht wird. Denn dieses Geschehen ist eine Ursache für dieses unsägliche Jetzt.

Lesen!!!

Bewertung vom 05.01.2025
Mistral
Borrély, Maria

Mistral


sehr gut

Provenceliebe trifft auf das Drama

Maria Borrély beschreibt hier in „Mistral“ das malerische Leben in einem Dorf in der Haute Provence in einer vergangenen Zeit, sie schreibt sich ihre Liebe für diese Landschaft von der Seele. Aber nicht nur dies beschreibt sie. Sie beschreibt auch wie der Mistral, eine unberechenbare Kraft wütet, dieses beschauliche Leben in dem Dorf in der Haute Provence durcheinanderbringt.

Marie geht wie alle anderen Menschen im Dorf auch ihrer Arbeit nach. Das Dorf floriert. Mehr oder weniger. Denn die Lage des Dorfes ist für seine Bewohner in seiner Hochlage auch anstrengend und so sind manche fortgezogen, haben örtlich weniger anstrengende Lebenssitze gewählt. Die Natur und der Jahreslauf bestimmen die zu erledigenden Arbeiten und die Dorfbewohner haken die Dinge auf ihrer To-Do-Liste ab, mit diesen Arbeiten zieht die Zeit vorbei.

Doch der Jahreslauf bestimmt auch für die Menschen etwas. Und so trifft die Liebe auf Marie. In Gestalt des vom Wind daher gewehten Olivier. Doch Marie verwechselt sein Begehren mit der Liebe, mit ihrer Liebe. Und so weht der Wind ihren herzallerliebsten Olivier wieder weg. Zurück bleibt eine zerstörte Marie, die bis vor kurzem noch straight ihrer Arbeit nachgegangen ist.

Marie wird klar, dass sie einer Lüge aufgesessen ist und Marie ist stolz. Und so geht sie den Weg der Stolzen, sie kann nicht mit ihrer Schande leben, die in dem Dorf sicher ein Dauerthema war. Sie war durch Olivier stigmatisiert worden.

Die Autorin Maria Borrély wurde 1890 in Marseille geboren, „Mistral“ erschien 1930 bei Gallimard unter dem Titel „Sous le Vent“. Ist 1930 die Zeit einen Roman zu veröffentlichen, in dem männliche Eroberungslust angeklagt wird? Mutig von Maria Borrély solch ein Buch zu schreiben, wie ich finde. Und auch schön, dass solch ein Buch bei Gallimard herausgebracht wurde. Denn nicht nur die Liebe zur Haute Provence wird in diesem Buch deutlich. Auch eine Kritik an der patriarchalen Lebens- und Denkweise kommt hier lautstark zum Vorschein, wie ich finde.

Bewertung vom 05.01.2025
Wohnverwandtschaften
Bogdan, Isabel

Wohnverwandtschaften


sehr gut

Eine neue Familie

Constanze zieht nach einer Veränderung in ihrem Leben in eine WG. Sie trifft auf Jörg, Anke und Murat. Sie lebten bisher zu dritt, haben sich aber entschlossen, ein weiteres Zimmer in der WG zu vermieten. So trifft Constanze auf eine eingeschworene Gemeinschaft und die Karten werden neu gemischt. Wer sind diese 4 Menschen, die in dieser WG aufeinandertreffen? Da gibt es als den Wohnungseigentümer Jörg, ein ehemaliger Journalist und Ende 60, der nach dem Tod seiner Frau nicht alleine in seiner Wohnung leben möchte und sie deshalb in eine WG umfunktioniert. Gerade in Hamburg eine sehr gute Idee, denn in großen Städten bezahlbaren Wohnraum zu finden, ist eine recht große Aufgabe und so wird sich die Idee einer WG in der nächsten Zeit sicherlich einer größeren Beliebtheit erfreuen. Weiter gibt es in der WG den lebenslustigen Murat, eine absolut sympathische Figur, einerseits erscheint er als das Herz und die Seele der WG, andererseits merkt man dem Charakter an, dass er auch gern Probleme nicht sehen möchte, sie einfach weglächelt. Er ist Mitte 50 und IT-Spezialist, doch ist er ein Genussmensch, was sich sonst in der IT-Welt wenig findet. Er bewirtschaftet den Garten von Jörg und kocht für die WG, spielt sehr gern Fußball, ist ein wunderbarer Charakter. Dann gibt es noch Anke, auch Mitte 50 und Schauspielerin. Also sie war Schauspielerin und jetzt, mit Mitte 50 wird sie nicht mehr gebucht. Das ist etwas, was mit Anke natürlich etwas macht. Sie ist an einem Wendepunkt, ist frustriert, verständlicherweise frustriert, muss sich neu sortieren. Ebenso muss sie ihre Sonderstellung als einzige Frau in der WG aufgeben, „muss ihre Männer teilen“. Constanze ist Mitte 30, arbeitet als angestellte Zahnärztin und hat sich gerade von ihrem Freund getrennt, da seine Lebensplanung mit ihrer nicht zusammenpasst und sich deshalb unüberwindbare Abgründe auftaten. 4 unterschiedliche Menschen in verschiedenen Lebensphasen treffen hier in dieser WG zusammen und bilden eine Wohnverwandtschaft. Sie haben einen Vorteil, sie sehen sich und begegnen sich gleichwertig, für Egoisten sind WGs glaub ich die völlig falsche Entscheidung. Mit einem Egoisten wird nie eine Wohnverwandtschaft entstehen. Darum prüfe man, wenn man hineinlässt, ins eigene Leben und auch in eine WG. Hier ist gut geprüft worden und so kommt auf die Wohnverwandten eine harte Zeit zu, denn Jörg erscheint so nach und nach verändert, sein Traum, eine Reise mit dem Bulli nach Georgien, die er eigentlich genau jetzt unternehmen wollte, rückt immer weiter weg und auch Jörg bewegt sich immer weiter weg.

Schon mit „Der Pfau“, „Mein Helgoland“ und „Laufen“ hat sich Isabel Bogdan in mein Herz geschrieben und auch mit diesem Roman hier trifft sie mich. Man möchte mehr von diesen Charakteren. Aber „Laufen“ ist für mich immer noch das Highlight, denn an dieses „Laufen“ kommen die „Wohnverwandtschaften“ nicht heran. Wird aber auch schwierig, wie ich finde. Und man muss auch nicht an „Laufen“ herankommen. „Wohnverwandtschaften“ habe ich sehr gern gelesen, die Charaktere sind einem schnell nahe und am Ende des Buches war ich verblüfft. Was schon zu Ende? Schade! Ich wäre gern noch ein Stück Weg mit euch gegangen.

Bewertung vom 05.01.2025
Das andere Mädchen
Ernaux, Annie

Das andere Mädchen


sehr gut

Blicke auf die Schwester

Das andere Mädchen. Welches andere Mädchen? Die Schwester. Die verstorbene Schwester. 10-jährig erfährt Annie von ihr. Gleichzeitig dazu erfährt sie die eigene Abwertung und die Höherstellung der Verstorbenen durch eine unbedachte Aussage der eigenen Mutter. Ein Trauma für die 10-jährige. Dies prägt sich ihr ein. Lässt sie nie mehr los. 2011 bringt die 1940 geborene Annie Ernaux dieses Buch in Frankreich heraus, 2022 folgt dann die deutsche Ausgabe bei Suhrkamp. Eine lange Zeit, um diesen Blick auf die tote Schwester zu veröffentlichen. Eine Zeit, die etwas über die Intensität dieses Blickes aussagt.

6-jährig verstarb die Schwester an Diphtherie. Zweieinhalb Jahre vor der Geburt von Annie. Was bei Annie Fragen aufwirft. Zersetzende Fragen. Annie war ein Einzelkind, ihre Eltern erst Arbeiter, dann Inhaber eines kleinen Ladens, ihre Möglichkeiten im Leben waren begrenzt. Gibt es Annie nur weil ihre Schwester starb? Der Tod als Grund für das eigene Leben!

Geredet haben Annies Eltern mit ihr nie über diese verschwundene Schwester, dieses andere Mädchen. Was die Verstorbene zu einer unerreichbaren Größe macht. Was bedeutet dies für Annie? Ist der Tod des anderen Mädchens, der verschwundenen Schwester der Grund für das eigene Leben? Kann man sich daran überhaupt messen? An einer Unerreichbaren? Am Tod?

Kann man eine Verbindung spüren zu einem nie gekannten Wesen? Annie kann dies und schreibt sich ihre Gedanken in diesem Buch, in einem Brief an die verschwundene Schwester von der Seele. Ein Versuch zu heilen. Ungemein berührend, trotz den wenigen Seiten.

Dieses Buch ist trotz der Kürze sehr empathisch, zeigt es doch ein tiefsitzendes Trauma, berührt die Autorin doch mit ihrem Versuch dieses Trauma zu bearbeiten. Zeigt dieses kurze Buch doch einen tiefsitzenden Schmerz und gleichzeitig zeigt es auch den Versuch dieses Trauma durch die Anteilnahme abzulösen. Annie Ernaux berührt mich hier tief. Ich bin neugierig auf weiteres aus ihrer Feder und hoffe, dass ich sehr bald die Zeit dafür finde.

Bewertung vom 02.12.2024
Das Fest
Fricke, Lucy

Das Fest


ausgezeichnet

Die magische 50

Ein subdepressiver Mann wird an seinem 50-zigsten Geburtstag von seinem Leben eingeholt, fällt in dieses 50er Loch. Jakob, einst gefeierter Filmregisseur, blickt auf sein Leben und sieht nur das Nicht. Er suhlt sich im Selbstmitleid, ist für sein Umfeld schwer zu ertragen. Die magische 50, eine Begegnung mit der eigenen Endlichkeit. Manchmal schwer ertragbar. Klar. Aber dennoch gibt es ja nicht nur das Nicht. Nur vergessen das manche Charaktere einfach, wollen sich nicht mehr auf das Positive konzentrieren, können sich nicht mehr auf das Positive konzentrieren, weil das Negative einfach in ihrem Kopf überwiegt. Jakob ist so ein Charakter. Er steht nicht mehr als gefeierter Filmregisseur im Mittelpunkt, ist in keiner Beziehung, fühlt sich alt und nicht gebraucht. Und das mit 50. Was wird da wohl noch auf Jakob zukommen? Schwere Frage. Ich weiß.

Eine Freundin will sich diese negative Weltsicht nicht mehr länger ansehen, was ich sehr gut verstehen kann und verfällt deswegen in die Aktion. Ein Hoch auf Ellen. Ich liebe Ellen. Jeder sollte so eine Ellen in seinem Leben haben oder selbst die Gedanken der Ellen verinnerlicht haben.

Lucy Fricke hatte mich schon mit ihrem Buch „Töchter“ vollkommen erreicht und begeistert. Aber hier in „Das Fest“ übertrifft sie diesen Eindruck noch. Vielleicht ist es diese subdepressive Thematik, die mich so anknipst. Sie begegnet mir auf der Arbeit, aber nicht nur da und macht anscheinend etwas mit mir. Ein richtig schönes Buch!

Sicherlich auch ein Buch zum Verschenken.

Denn so ein Jakob tummelt sich wahrscheinlich in jedem Umfeld, ob dieses Buch die Kraft zum Aufwecken hat, weiß ich natürlich nicht, aber wenn man es nicht versucht, kann man es nicht beurteilen.

Nur sollte man subdepressives Verhalten nicht mit der echten Depression verwechseln. Ob in einer Depression dieses Buch etwas anstoßen kann, eine Art der Reflexion erreicht, keine Ahnung. Man sollte aber nicht vergessen, dass ein Resümee manchmal auch extrem gefährlich ist. Also wieder mal ein Balanceakt. Wie so vieles im Leben.

Bewertung vom 02.12.2024
Die Schlangen werden dich holen
Malfatto, Emilienne

Die Schlangen werden dich holen


sehr gut

Maritza Quiroz

Ein Buch, welches einen Blick nach Kolumbien wirft, einen düsteren Blick. Emilienne Malfatto blickt hier auf den Tod und das Wirken von Maritza Quiroz Leiva, die 2019 ermordet wurde. Ein interessantes Buch. Es zeigt die Umstände in Kolumbien auf und zeigt wohin Macht und Gier manche Menschen bringen können. Etwas, was in unserer Demokratie unbedingt mehr Beachtung verdient. Denn auch bei uns stehen von der Macht Besessene in den Startlöchern und warten auf ihre Chance.

Maritza Quiroz Leiva. Eine Frau. Eine Verstoßene. Eine Suchende. Eine Mutter. Eine soziale Aktivistin. Sie möchte, dass ihre Kinder es besser haben als sie selbst. Wird deswegen laut. Und fällt deshalb auf. Das klingt jetzt nicht so sehr aufrührerisch. Bedingt aber dennoch ihren Tod.

Auch dies zeigt die Verhältnisse, die sich in Kolumbien gebildet haben. Paramilitärs, Guerilla und auch gewöhnliche Kriminelle gehen ihren Weg, ohne nach rechts oder links zu schauen. Den eigenen Paranoias wird nachgegeben, aus der Verlustangst heraus, deshalb sterben Menschen. Nachbarn zinken Nachbarn an, wegen echten politischen Zielen, aber auch aus der Lust am Mord. Kriminelle verfolgen eigene Ziele, stecken ihren Machtbereich zur Verwirklichung ihrer eigenen Interessen ab und wehe man kommt ihnen zu nahe.

Echt schlimme Verhältnisse!

Und normal Sterbliche bewegen sich dazwischen und versuchen nirgendwo anzuecken, versuchen zu überleben. Ein schwieriges Unterfangen. Der Staat schaut zu, steckt selbst mittendrin und unternimmt nichts. Will man so etwas?

Die fehlende Bildung in dem Land, besonders auf dem Land, auf dem von den urbanen Zentren weit abgelegenen Land macht dieses Agieren der Mächtigen, der Machtvollen, der Gierigen erst möglich. Aber warum soll sich an daran auch etwas ändern, wenn die Korruption und der Machismo das Land beherrschen?

Emilienne Malfatto blickt hier auf die Gegend um die Sierra Nevada de Santa Marta, indigene Heimat der Arhuaco, Kogi, Wiwa und Kankuamo, Nachfahren der alten Tairona, aber die nebelverhangenen Berge bieten auch Unterschlupf für Andere, die ihre Ziele in der Abgeschiedenheit verfolgen können.

Emilienne Malfatto blickt hier auf die Familie von Maritza Quiroz, geht über diesen Blick dem Wirken der unerschrockenen Frau nach, zeigt darin aber genauso die Abgründe der kolumbianischen Gesellschaft auf und dies nicht etwa in der Vergangenheit, wo man solches Tun am liebsten verorten wöllte, sondern schaut in ihrem Buch auf das Heute. Denn der Mord an Maritza erfolgte 2019 und sie ist nicht die einzige ermordete Aktivistin im lateinamerikanischen Bereich. Dort grassiert momentan eine Mordwelle. Die Machtbesessenen wollen sich ihre Macht nicht nehmen lassen. Autokratie und Demokratie kämpfen einen blutigen Kampf.

Bewertung vom 23.11.2024
Reichlich spät
Keegan, Claire

Reichlich spät


sehr gut

Misogynie

Claire Keegan wirft hier in „Reichlich spät“ einen Blick nach Irland. Einen leicht dahin plätschernden Blick. Aus den Augen eines Mannes. Einen Blick, der vor Frauenverachtung nur so trieft, ohne dass dies dem Betrachter klar ist. Denn er ist so erzogen und stellt dies natürlich nicht in Frage. Denn für ihn ist dies ja bequem so. Meint er zumindest. Denn das genau dieser plätschernde Blick ihm selbst eine Falle stellt, das übersieht er. Ihm sein eigenes Gefängnis schafft. Dann noch etwas Polemik. Und der Weg zum Incel ist hier sicher nicht weit.

Denn die Frau ist hier natürlich schuld. Hach, wie einfach.

Claire Keegan zeichnet hier ein Bild über Irland. Doch diese verkrachten Existenzen gibt es überall. Sie gab es früher, mit deutlich mehr Macht, siehe vorherige Rezension und sie gibt es heute in der gesamten patriarchalen Welt. Ja, richtig gelesen. In der patriarchalen Welt. Und dies bedeutet, dass das Patriarchat da einen großen Anteil hat.

Genauso wie es bedeutet, dass es auch anders gehen kann. Matriarchal zum Beispiel. Die Gesellschaften der Khasi in Indien, der Mosuo in China, der Zapoteken in Juchitlan in Mexiko und noch viele mehr sprechen über diese andere Gesellschaftsordnung und zeigen diese anderen Welten.

Muss man halt nur wissen. Denn diese patriarchale Vorherrschaft muss so nicht weitergehen, kann so eigentlich auch nicht weitergehen. Es ist halt nur verdammt schwer dagegen vorzugehen.

Denn das Patriarchat wehrt sich natürlich, es möchte seine Macht nicht verlieren.

Und hier mal wieder so eine Frage, die nicht zum Buch passt, aber bei näherer Betrachtung wieder schon. In welchen Parteien sind die Frauen in etwas gleicher Zahl wie männliche Kollegen vertreten? Wenn man dann als Frau die patriarchale Welt verachtet, warum wählt man dann nicht dementsprechend? Wir sind ja mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Weil auch wir Frauen indoktriniert sind. Dies muss Frau nur klar werden!

Und Literatur ist ein guter Weg zum Überwinden der eigenen Grenzen.

Noch dazu, wenn die Literatur so auf dem Silbertablett daherkommt, wie bei Claire Keegan!

Bewertung vom 23.11.2024
Cascadia
Phillips, Julia

Cascadia


sehr gut

Kaskade oder Cascadia und/oder Mensch und Tier

Auf den San Juan Islands im Bundesstaat Washington leben die ungleichen Schwestern Sam und Elena mehr schlecht als recht mit ihrer sehr kranken Mutter in einem Haus. Einst hatten sie sich bessere Lebensverhältnisse erhofft, aber diese Hoffnungen sind mittlerweile tief begraben. Sie arbeiten im Dienstleistungsbereich für die Urlauber, die diese Inseln aufsuchen/heimsuchen. Interessante Blicke auf den Menschen werden im Umgang der Urlauber mit „ihrem“ Personal geboten. Kurze Blicke. Dennoch aber treffende Blicke. Ebenso, wie in diesem Buch das Sozialsystem der USA beleuchtet wird, also eigentlich wird da wenig beleuchtet, aber vielleicht ist dies ja auch schon die Beleuchtung. Denn wo nichts/wenig ist, kann auch nichts/wenig betrachtet werden.

Nur mal so am Rande. Wenn man dann bei der Lektüre auf unsere Meckerer und Hater schaut, wird einem gleich ganz anders zumute.

Aber gut. Zurück zu den Schwestern. Beide Schwestern berichten in einzelnen Erzählsträngen. Auch darin erkennt man die Unterschiede, die im Alter, aber auch im Charakter begründet liegen. Sie möchten das Haus verkaufen und weg. Wenn die Mutter von ihrem Leid erlöst wurde. Aber ist dieser Gedanke nicht etwas kindlich und steckt hier nicht auch mehr der Wunsch und nicht die Wirklichkeit.

Jedenfalls erscheint ein Bär auf der Bildfläche und beide Schwestern haben unterschiedliche Sichten und gehen unterschiedlich mit dieser Situation um. Wobei ich hier etwas zweifele. Denn Elenas Handlungen zeigen für mich eine gewisse Unstimmigkeit. Sie passen meines Erachtens eher zu einer Stadtbewohnerin, als zu einer Bewohnerin des ländlichen Raums. Sie haben etwas Mystisches, Entrücktes und auch der Bär handelt durchaus nicht artgerecht. Wodurch eine Art Magie entsteht.

Ein Roman, der vielleicht der Leserschaft einen Blick auf den menschlich verklärten Blick auf das Wilde nahebringen möchte, ihn aber gleichzeitig auch karikiert, ebenso wie dieses Buch auch die Angst der Menschen ad absurdum führt. Denn auch diese Angst vor den Tieren ist überzeichnet und passt eher zu einer Stadtbewohnerin, als zu einer Bewohnerin des ländlichen Raums.

Der Titel ist auch interessant gewählt, dachte ich doch erst, dass die Handlung wie eine Kaskade von Ereignissen verläuft, bis zu dem fulminanten, wie auch imposanten, aber auch schockierenden Ende. Andererseits habe ich gerade gelesen, dass die Gegend in der Nordwestküste Nordamerikas, die Grenzregion von Kanada und den USA, die die Staaten British Columbia in Kanada , und die Staaten Washington und Oregon in den USA umfasst, Cascadia genannt wird. Eine Bioregion, die über eine noch recht intakte Natur mit einigen Reservaten und auch eine ansehnliche menschliche Besiedlung verfügt, so dass gerade dieses Thema Mensch und Tier und ihre Beziehungen gut zum Buch passt.

Ich habe dieses Buch sehr gern gelesen, es ist spannend geschrieben, ist in der Handlung recht eigenwillig und mit einer gehörigen Portion Magischer Realismus versehen. Die Dynamik in der Schwesternbeziehung fand ich gut ausgeleuchtet. Und gerade durch diese etwas anders aufgebaute Geschichte bin ich sehr neugierig auf den Vorgänger geworden. Als Buch zu mir gewandert, steht es nun im Regal mit seinen ganzen Freunden und wartet darauf, dass Madame endlich Zeit hat. 😊