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kaffeeelse
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psychologiebegeiste und Ethnographie liebende Vielleserin

Bewertungen

Insgesamt 41 Bewertungen
Bewertung vom 26.01.2025
Ungleich vereint
Mau, Steffen

Ungleich vereint


ausgezeichnet

Die BRD und die DDR

Ungleich vereint. Ja. Klarer Fall. Dies ist genau das Empfinden, das man als ehemalige DDR-Bürgerin hat. Wir DDR-Bürger sind die ewigen Nörgler, die chronisch Unzufriedenen und eigentlich sollte man am besten die Mauer wieder aufbauen. Das klingt schlimm. Leider oft genug gehört und gelesen. Da wird sofort die AfD-Keule geschwungen und man wird kollektiv in eine Schublade gesteckt. Das nervt mich ungemein. Denn der ehemalige DDR-Bürger ist nicht einheitlich. Jede politische Richtung ist vertreten, jedwede Eigenschaft ist da, jeder denkbare Charakter. Doch die Meisten von uns empfinden die deutsche Einheit nicht als Vereinigung, sondern eher als Übernahme, als eine Art feindliche Übernahme. Klingt schlimm. Ich weiß. Es ist aber auch nicht schön immer noch ein Bürger zweiter Klasse zu sein. Schließlich sind sehr viele Jahre vergangen. Und dieses Denken über die ehemaligen DDR-Bürger ist meiner Meinung nach auch ein Grund für das Erstarken der AfD in unseren fünf neuen Bundesländern, eigentlich 5,5, denn Ost-Berlin kommt ja auch noch dazu.

Steffen Mau, ein 1968 geborener Soziologe und Professor am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Uni von Berlin. Gleichzeitig sitzt er im Sachverständigenrat für Integration und Migration. Er kennt sich also aus.

Integration. Ja, genau dies hatte mit uns zu passieren. Und jetzt ist man erstaunt darüber, dass genau das eben nicht passiert. Logischerweise sind natürlich nur wir selbst da schuld. Klar, wenn man anders darüber urteilen sollte, müsste man ja ans Eingemachte. Ist unbequem, weil anstrengend und deswegen immer schön mit dem Finger auf Andere zeigen.

Nun, Steffen Mau macht genau dies nicht. Er recherchiert genau, warum der Osten ist, was er ist. Dieses Buch macht Spaß, es ist irre interessant und es zeigt recht differenziert das Warum!

Mein Fazit: Ein sehr gutes Buch, welches jeder in Deutschland lesen sollte, jeder im Osten und jeder im Westen. Denn es wird wirklich langsam Zeit, dass dieses Ost- und Westding langsam verschwindet. Das schließt allerdings ein, dass Ost- und Westdeutsche endlich gleichberechtigt sind. 1990 war die Wiedervereinigung, jetzt haben wir 2025, 35 Jahre sind vergangen, es wird langsam Zeit denke ich.

Und noch was, die AfD ist ein gesamtdeutsches Problem. Bei uns rennen denen nur etwas mehr hinterher. Doch die Polemik hat eindeutig ein leichteres Spiel bei Menschen, die sich als Menschen zweiter Klasse empfinden. Wenn dies nicht so wäre. …

Bewertung vom 26.01.2025
Das verschwundene Meer
Franz, Carlos

Das verschwundene Meer


ausgezeichnet

Chile - das Gestern und das Jetzt

Zwanzig Jahre nachdem die Richterin Laura Larco aus ihrem Heimatland Chile geflohen war, kehrt sie nun nach Chile zurück. Sie reist in das kleine und abgelegene Pampa Hundida in der Atacama-Wüste. Claudia, Lauras Tochter, hat sie mehr oder weniger genötigt sich der Vergangenheit zu stellen, der Tochter endlich zu erzählen, was damals passierte. Damals, vor 20 Jahren, als Allende dem Putsch zum Opfer fiel und schlussendlich das ganze Land ein Trauma erlebte. Das Gestern und das Jetzt also. Ebenso in Pampa Hundida befindet sich Mario, Lauras Ex-Mann und Claudias Vater. Er ist damals vor zwanzig Jahren nicht mit der schwangeren Laura mitgekommen, er ist in Chile geblieben, in seiner Heimat. Nur Laura konnte dies nicht. Sie musste weg und sie hatte ihre Gründe dafür. Gründe, die nur sie kennt, weder der Ex-Mann Mario noch die Tochter Claudia wissen von ihnen. Doch Claudia ist neugierig, sie möchte endlich alles wissen, und sie lässt ihre Mutter wissen, dass sie nicht nachgeben wird, ehe sie nicht die ganze Geschichte kennt. Nachdem die Tochter Claudia aus dem von Laura gewähltem Exil Berlin verschwunden ist, hatte Laura ihre Geschichte aufgeschrieben, diese Blätter wollte sie Claudia eigentlich bei ihrem Zusammentreffen in Chile überreichen. Aber sie konnte dies dann doch nicht tun. Ebenso nach Pampa Hundida aufgebrochen ist auch Major Cáceres. Damals der Kommandant eines Lagers von politischen Gefangenen neben der Stadt und auch der Kommandant der Stadt. Nur Laura stellte sich damals gegen ihn. Sonst hat dies in Pampa Hundida niemand getan. In der Stadt Pampa Hundida findet gerade der heidnische Karneval statt als Cáceres und Laura in der Stadt eintreffen, die Stadt ist voller Fremder, voller Feiernder, als sich die einstigen Kontrahenten wieder gegenüberstehen. Der damals zwischen Laura und Cáceres getroffene Pakt, der damals passierte Betrug ließ Laura aus Chile verschwinden. Aber Laura findet auch jetzt noch mehr heraus, noch mehr Schockierendes, noch mehr egoistisches menschliches Tun. Doch auch in Laura schlummert noch mehr.

Der 1958 geborene Autor Carlos Franz schaut in seinem Roman „Das verschwundene Meer“ auf das Geschehen in Chile, auf das Damals und auf das Jetzt. Ein wunderbares Buch! Sehr spannend und absolut intensiv!

Bewertung vom 26.01.2025
Ein Einzelfall
Maguire, Emily

Ein Einzelfall


ausgezeichnet

Ein Mord – ein Einzelfall?!?!

Die 25-jährige Bella Michaels wird in der australischen Kleinstadt Strathdee brutal ermordet. Ein Schock für die Stadt. Ein Schock für ihre Schwester Chris. Die Polizei ermittelt und ebenso interessiert sich die Polizei auch für Chris. Ihr Lebenswandel wird kritisch beäugt. Und nicht nur die Polizei interessiert sich für Chris. Auch die Medien beginnen diesen Mord auszuschlachten und ihren Fokus auf die Schwester zu richten.

Wem kommt dies bekannt vor? Ja, das ist zwar ein Buch. Aber eigentlich ist dies eine interessante und sehr treffende Gesellschaftskritik.

Und ja, obwohl es ein Mord ist, wird dieser Mord auch irgendwie bagatellisiert. Ein Mord an einer jungen Frau. Ja, hätte sie mal nicht!?!? Schuldzuweisungen an das Opfer aus männlicher Perspektive. Was soll das? Ein bedauerlicher Einzelfall, ein bedauerlicher Mord. Ja, ja. Bla, bla.

Denn so ist es nicht. Morde an Frauen sind keine Einzelfälle. Gewalt an Frauen nimmt wieder zu. Doch warum ist das so? Ich sage nur dieses wunderbare Patriarchat. Aus der Rippe vom Adam wurde die Eva erschaffen. Ach ne. Also ist die Eva ein Anhängsel des geheiligten Adams. Und genau so wird sie in unseren patriarchal geprägten Gesellschaften auch behandelt. Frauen sind mitnichten gleichberechtigt. Und wenn eine Frau ermordet wird, hat sie wohl Fehler begangen. Sie hat sich mit dem Falschen eingelassen. Sie hat die falsche Kleidung angehabt. Sie hätte nicht allein unterwegs sein dürfen. In einer Burka und mit männlicher Begleitung wäre das also nicht passiert. Afghanistan lässt grüßen.

Mit den ganzen Medienvertretern kommt auch May nach Strathdee, eine Reporterin einer Boulevard-Website. Sie wittert in dem Mord an Bella ihre Möglichkeit zur angesehenen Kriminalreporterin. Doch von so einer Bezeichnung ist so noch weit weg. Doch sie zeigt Standhaftigkeit. Denn als des Medieninteresse erlischt, keine Einschaltquoten = kein Medieninteresse, ganz egal ob der Fall gelöst ist oder nicht, die Medienvertreter sich also aus Strathdee zurückziehen, bleibt May da, obwohl ihr Chef dagegen ist. May bekommt auch ihren sehnlichst gewünschten Kontakt zu Chris, der bisher leider nicht stattfand, diese Nähe zur Tat lässt dann Veränderungen in May passieren.

Und dieser Einzelfall wird dann doch noch zu etwas Anderem. In der erzählten Geschichte, aber auch in der Art des Erzählten.

Ein tolles Buch! Lesen! Ein Krimi, aber auch viel viel mehr!

Bewertung vom 26.01.2025
Zitronen
Fritsch, Valerie

Zitronen


ausgezeichnet

Zitronen und Limonade

Eine dysfunktionale Familie in einem kleinen und beschaulichen Dorf in Österreich. Darum dreht sich das Buch „Zitronen“ von Valerie Fritsch.

August Drach ist der Sohn in dieser Familie, ein körperlich, wie auch verbal gewalttätiger Vater, August Drach sen., und eine inaktive und ebenso angsterfüllte Mutter, Lilly Drach, sind die weiteren Bestandteile dieser Familie. Nach den Gewaltexzessen holt sich der Sohn bei der Mutter die existenzielle Liebe, sie heilt ihn vom entsetzlichen Geschehen, dennoch fehlt in dieser Liebe auch etwas. Denn als liebender Mensch, als liebende Mutter beschützt man das eigene Kind vor der Gewalt. Wenn man dies nicht macht, gibt es Gründe dafür. Bis der Vater verschwindet. Dann verändert sich die Gemengelage. Jetzt entdeckt die Mutter eine erneute Angst, die Angst vorm erneuten Verlassenwerden, und so verfällt sie in eine ebenso vorhandene Gewalttätigkeit. Allerdings keine offensichtliche. Sie mischt dem Sohn Medikamente ins Essen, um ihn an sich zu binden, um sich ewig kümmern zu können, um ihn danach wieder heilen zu können und um dadurch auch dem drohenden Alleinsein zu entfliehen. Der Sohn braucht sehr lange, um sich aus dieser furchtbaren Spirale zu befreien. Doch kann man sich jemals aus so einem düsteren Traum befreien? Das Kind wurde traumatisiert und hat Störungen in seiner Bindungsfähigkeit erlitten. Kann man so etwas durchbrechen? Ja. Kann man. Aber es ist sehr sehr schwer. Man kann aber auch für immer traumatisiert durchs Leben stolpern.

Man könnte sich fragen, wie so etwas in einem Dorf passieren kann, in einer anzahlmäßig kleinen Zahl an Menschen, die eigentlich mehr Einblick in das Leben der Anderen haben. Doch was sieht dein Gegenüber von dir? Das, was du bereit bist zu zeigen und noch etwas mehr. Doch wie schnell stülpt man dem Gegenüber über, eigenartig zu sein, ohne weiter hinzuschauen, ohne weiter zu suchen. Man ist ja mit dem eigenen Tun völlig beschäftigt, hat vielleicht noch ein gewisses Umfeld, wo man mehr hinsieht. Aber mehr tun glaub ich die Wenigsten. Außer natürlich mit Gegenübern über die Anderen herziehen, über sie herfallen, dann hat man zu tun und muss nicht den eigenen Vorgarten bearbeiten.

Was für ein Drama. Die Lektüre ist schon etwas her, doch beim Schreiben dieser Zeilen überfällt mich wieder ein Schaudern, denn „Zitronen“ ist sehr intensiv.

Was dieses Buch in meinen Augen zu einem 5-Sterne-Roman macht, ist nicht die Thematik. Diese ist wirklich grauenvoll.

Valerie Fritsch verfasst dieses Grauen in so einer sprachgewaltigen Art, dass das Lesen dieses Grauens dennoch wunderschön ist, was ich der Autorin sehr hoch anrechne. Eigentlich verschließe ich mich innerlich, wenn es zu viel wird. Hier aber kann man immer wieder über das Gelesene sinnieren, die Sätze/Worte bewundern, staunen, begeistert sein. Dabei ist das Geschriebene aber nicht immer die wunderschöne Prosa. Denn Valerie Fritsch möchte durch die sprachliche Wahl auch den Zustand des traumatisierten Sohnes, den Zustand der dysfunktionalen Familie, den Stand der Beziehungen in dem engen dörflichen Geflecht darstellen und auch das schafft sie sprachlich sehr gut.

Ein sprachlich rundum gelungenes Buch! Ein interessantes Buch! Und wieder ein Buch, wo ich nur begeistert rufen kann, unbedingt lesen! Aber auch dieses Buch hat die Kraft zum Triggern, deswegen bitte auch Vorsicht!

Bewertung vom 26.01.2025
PUNKED
Sibai, Yasmin

PUNKED


ausgezeichnet

Die einst hehren Ziele und die Realität

Der Punk und dieses Lebensgefühl. In meinen Zwanzigern begeisterte mich die Gothic-Szene und für mich und meinen Musikgeschmack im Dunkelmunkel-Bereich ist der Punk nicht sehr weit weg. Ob ich den Punk völlig verinnerlicht habe, bezweifele ich etwas, denn in mir ist auch eine große Sammelleidenschaft zu finden. Genauso wie das Thema Konsum eine große Bedeutung besaß, teilweise immer noch ab und zu zu spüren ist. Aber hier bin ich beim Arbeiten. Denn glücklich wird man vom Anhäufen leider nicht. Eigentlich schafft man sich und der Umwelt nur mehr Probleme.

Mit dem Punk haben wir schon mal einen Grund, weswegen es mich magisch zu diesem Buch zog. Dann wären da noch die Handlungsorte, Hannover, Berlin und Amsterdam. Alles interessante Städte, die in den 80ern/90ern sicher viel Interessantes zu bieten hatten, auch immer noch höchst amüsante Großstädte sind, also Amsterdam und Berlin, bei Hannover bin ich mir da nicht so sicher.

Also thematisch und örtlich reizte mich das Buch schon sehr.

Was das Buch „PUNKED“ aber schließlich bietet ist für mich sehr überraschend. Denn es gibt nicht so die Verherrlichung von etwas Altem und Vergangenen, die ich mir vielleicht erhofft hatte. Nein, Yasmin Sibai lässt in ihrem Buch „PUNKED“ dieses Hehre verglühen, lässt den Punk am menschlichen Tun zerschellen. Dieses Buch beschäftigt sich mit dem Grauenvollesten, wozu manch menschliche Geister in der Lage sind und dieses Grauen streckt seine Fühler in die Punk-Clique von Bey. Früher war sie die Bassistin einer Avantgarde-Punkband, heute bewohnt sie ein Haus in einem der besseren Wohnviertel von Amsterdam. Das Gestern und Das Heute. Ein Brief erreicht sie in Amsterdam und mit diesem Brief klopft die Vergangenheit an, ihr Ex-Freund Iggy ist gestorben. So fährt sie zur Beerdigung nach Berlin und stößt auf Unstimmigkeiten, die sie an das Gestern denken lassen und auch sehr misstrauisch werden lassen.

„PUNKED“ ist ein absolut fesselndes Buch, welches mich einerseits an mein Gestern denken ließ, andererseits aber auch ein absolut spannender Lesegenuss ist, der äußerst intelligent und wendungsreich auf ein existierendes Grauen blickt. Unbedingt lesen, ich habs absolut geliebt!

Bewertung vom 26.01.2025
Eskalationsstufen
Rieger, Barbara

Eskalationsstufen


sehr gut

Julia und Joe

Julia und Joe. Ein Kennenlernen. Ein Flirren. Es könnte die große Liebe werden.

Doch eben das wird es nicht. Julia schlittert da in eine große Falle, deren Ausmaß sie nicht erkennt, nicht erkennen kann, nicht erkennen will. Eine Falle, die ihr Joe stellt. Und in die sie tappt. Bewusst lotet Joe beim Kennenlernen seine Julia aus, erspürt sie, erspürt ihre Grenzen, ihre Wichtigkeiten, umgarnt sie und verzaubert sie bewusst. Danach testet er seine Grenzen aus, Zuckerbrot und Peitsche, isoliert sie, beeinflusst sie. Und seine Julia macht alles mit, lässt alles mit sich machen. Die Eskalation wird immer schwerer, schlimmer.

Nun triggert dieses Buch ungemein. Diese Julia hat mich aufgeregt. Doch was regt mich da auf? Meine Situation und meine gefühlte Übermacht. Die fehlende Übereinstimmung zwischen Julia und mir. Doch liege ich da wirklich richtig? Solche Männer wie Joe sind ja äußerst geschickt und versiert in ihrem Tun. Klar könnte man sich die Lektüre vereinfachen, in dem man sagt, dass trifft nur die Anderen, niemals mich. Schön wärs ja und ich wünsche diese Erfahrung wirklich niemandem. Doch sicher, dass mir dies niemals passieren könnte, bin ich mir hier nicht. Denn solche Menschen wie Joe sind wirklich psychologisch geschult und handeln äußerst geschickt, sind geschickt in der Opferwahl und agieren noch geschickter in ihren Aktionen. Klar könnte man dies erkennen, wenn es einem gut geht. Aber was ist, wenn man psychisch in einem tiefen Tal sitzt, verletzt ist und die eigenen Wunden leckt? Was kann in so einer Situation mit dem Selbstbild passieren? Ich würde sagen sehr viel! Ebenso wie ich sage, dass man in so einer Situation anders tickt und vielleicht mehr zulässt. Auch wie dieses Gefühl der Liebe natürlich triggern kann. Dies sollte man hier nicht vergessen. Denn diese Macht des unbedingten Gefallen Wollens ist hier sicher für diese vielen toxischen Beziehungen ursächlich.

Von daher ist dieses Buch hier sehr wichtig, wichtig für den Lesenden und wichtig für das Umfeld der Lesenden. Denn Beschäftigung mit solchen Thematiken kann vielleicht irgendwann einmal sehr hilfreich sein. Noch dazu, wenn es so gut erzählt wird, wie dies Barbara Rieger nun mal kann. Ich wollte dieses Buch erst niedriger bewerten, aber nach und nach ist mir klar geworden, dass hier meine Abneigung Julia gegenüber aus mir spricht. Warum empfinde ich so? Ist dies die Erziehung? Ist dies das Patriarchat und seine Lügen, die ich vielleicht verinnerlicht habe, auch wenn ich mich als resilient dem Patriarchat gegenüber betrachte. Eigentlich. Hat dies mit unserem/meinem Frauenbild zu tun? Bin ich sauer, weil Julia schwach ist und nicht erkennt, wohin sie sich bewegt? Als ich aber die eigene Empfindung für Julia zu hinterfragen begann, veränderte sich meine Wahrnehmung. Denn diese Julia hier, dass sind wir alle. Jeder kann mal in einer Lebenssituation sein, die denjenigen angreifbar macht, auch wenn wir dies gern weit wegschieben wollen. Wenn man diesen Punkt einmal verinnerlicht hat, liest sich das Buch anders und Julia gewinnt mehr mein Mitleid, meine Empathie.

Denn die große Zahl der misogynen Taten, das Verhalten den Opfern gegenüber sind erschreckend. Barbara Rieger hat mit ihrem Roman „Eskalationsstufen“ einen tiefen und erschreckenden Blick auf eine toxische Beziehung geworfen, bezieht die Lesenden mit der Lektüre in die Betrachtungen dazu ein. Was jeder für sich daraus macht, bleibt abzuwarten.

Lesen! Dennoch sollte jeder dieses Lesen für sich abwägen. Denn dieses Buch über eine toxische Beziehung kann natürlich auch immens triggern.

Bewertung vom 07.01.2025
Maman
Schenk, Sylvie

Maman


sehr gut

Traumata und Folgen

Dieses Buch ist ein Versuch der Aufarbeitung. Berührend und zugleich distanziert. Ein Versuch der Nähe, eine Nähe, die nie stattgefunden hat. Maman. Eine Mutter. Die eigene Mutter. Ein Mutter-Tochter-Verhältnis voller Distanz. Eine andere Zeit. Sicher. Dennoch hat die fehlende Nähe ja auch was mit dem Kind, mit den Kindern gemacht. Von daher ist die Intention zu diesem Buch interessant. So distanziert, wie die Mutter war, dies hat die Tochter sicher nie losgelassen. Mütter und Töchter. Ein immerwährendes Thema. Wenn man in einer gefühlsarmen Umgebung aufgewachsen ist, macht das was mit einem. Man könnte loslassen und das eigene Leben führen. Das tut man auch. Aber lässt einen das Erlebte kalt, kann man das vergessen. Mitnichten. Und so vergisst auch die Autorin nicht. In diesem Buch versucht sie dem Erlebten einen Raum zu geben, versucht die Mutter zu verstehen, gibt ihrem eigenen Trauma einen Raum, ergeht sich in dem Warum, erörtert die Möglichkeiten, gibt den vorhandenen Fakten einen Schuss Fiktion dazu. Die Autorin möchte verarbeiten, was schwer zu verarbeiten ist. Was für eine Kraft hinter diesem Versuch steckt, kann man nur erahnen. Wie schwer solch ein Buch sein muss. Chapeau vor dieser Leistung.

Die Mutter Renée wird 1916 geboren, Renées Mutter stirbt bei der Geburt, ein Vater ist nicht bekannt. Und so beginnt Renées Leben im Waisenhaus, bevor sie das „Glück“ hat in einer Familie aufgenommen zu werden. Sie kommt zu einer Bauersfamilie in der Ardèche, doch hier wird sie nur wegen finanzieller Ziele aufgenommen, Liebe, Fürsorge und Empathie sind hier Fremdwörter. Nach einer traumatisierenden Zeit kommt sie nun zu einer Apothekerfamilie. Hier ist das Leben sonniger, jedoch wie kann ein traumatisiertes Kind voller Bindungsstörungen und bisher fehlender Liebe plötzlich ein glückliches Leben führen. Renée wird erwachsen und heiratet, bekommt selbst Kinder. Was gibt sie diesen Kindern mit, was kann sie ihnen mitgeben?

Vor diesem Hintergrund schaut Sylvie Schenk auf ihre Mutter. Sie schaut empathisch. Versucht zu verstehen. Und gibt damit den erlittenen Traumata nicht weiter Nahrung. Was für eine Stärke! In dem Buch ist nichts gefühlsüberfrachtet. Sachlich, ruhig und still schaut Sylvie Schenk auf das Vergangene und berührt damit umso mehr. Man erahnt das Gefühlschaos, durch das sie gegangen sein wird und empfindet Hochachtung vor dieser Frau, dass sie die Kraft hatte dieses Buch zu schreiben. Denn auch ihre erlittenen Traumata sind greifbar. Doch verbleibt sie nicht darin, sie versucht zu verstehen, ob darin auch die Kraft zum Verzeihen liegt, man kann es erahnen. Und ich wünsche es ihr. Denn die eigenen Verletzungen weiter zu nähren, vergiftet das eigene Leben und dass deiner Umgebung.

Lesen!

Bewertung vom 05.01.2025
Habibitus
Yaghoobifarah, Hengameh

Habibitus


sehr gut

Bissige Kolumnen

Hengameh Yaghoobifarah versammelt in diesem Buch Kolumnen, die in der taz und auch im Missy Magazine von 2016 bis 2022 erschienen sind. Und diese Kolumnen sind recht bissig gelungen.

Habibi und Habitus. Ein Liebling und das Erscheinungsbild also. Eine Mischung desgleichen. Nun zum Liebling macht sich Yaghoobifarah mit diesen Kolumnen sicher nicht. Aber genau dies ist sicher auch eine Intention und sicher gewünscht.

Denn Yaghoobifarah blickt sehr zynisch und sarkastisch auf unser Land, auf unser Sein und nimmt uns damit einerseits in die Pflicht der Reflexion. Andererseits will Yaghoobifarah auch treffen. Und das gelingt mühelos.

Denn unser patriarchales System und unsere Gesellschaft, die oft mühelos und damit sehr befremdlich rechtsextremes Gedankengut in ihrem Denken, in ihrem Sein transportiert und damit wenig Aufschreie auslöst, wirkt sicher für Außenstehende und Zureisende gespenstisch und bedrohlich. Denn dieses 30er/40er Gespenst ist immer noch da, zeigt sich gerade jetzt wieder in seiner ganzen Macht. Ebenso wie unser patriarchales System weiterhin die Macht einseitig verteilt lässt und sich die Macht nicht aus den Händen reißen lassen will und damit neues Denken ständig durch alte Strukturen blockiert wird.

Was denken da Neuankömmlinge? In den Kolumnen kann man einen Teil dieses Denkens erahnen, erlesen. Wie gesagt einen Teil. Denn hier spielt auch wieder der Begriff Habitus eine Rolle. Denn jede Betrachtung einer Person entspringt ihrer jeweiligen Sozialisation, ihrer Stellung in der Gesellschaft. Und somit ist Hengamehs Blick nicht nur ein Blick aus einer anderen Welt, sondern auch ein Blick aus der LGBTQIA+ Perspektive. Was interessant ist. Denn auch da gebärdet sich unser patriarchales System ja recht bedenklich. Obwohl es Verbesserungen gibt, möchte die alte konservative Welt diese Verbesserungen am liebsten einstampfen. Unser Onkel Friederich und seine Kumpanen werden dies auch schaffen, so meine Meinung, denn diese konservativen Strukturen ziehen sich durchs ganze Land und bekommen demnächst sicher wieder mehr Macht, durch ihre allseitig existente Polemik, die leider für viele nicht durchschaubar ist und der sie leider vermehrt aufsitzen. Leider!

Von daher ist Hengamehs Buch, die Kolumnen darin, sehr wichtig und braucht Aufmerksamkeit. Denn die allerorten grassierende Dummheit kann man nur mit Informationen und Wissen, dem Sichtbarmachen bekämpfen, wenn dies denn gesehen wird.

Nun hat dieses Buch aber auch einige Stachel, die sich beim Lesen in das Fleisch des Lesenden bohren, sicher gewollt in seiner ungestümen Boshaftigkeit. Ich sage nur Sauberkeit nach dem Rückkehren von gewissen Örtlichkeiten. Dennoch fließt hier auch ein gewisser Humor mit rein. Was für manche unserer Zeitgenossen sicher schwer zu erkennen ist, denn der Humor ist bei uns rar gesät.

Aber auch Hengameh verrät, dass einige der Kolumnen heute sicher anders ausfallen würden. Ja, die Kraft der Reflexion halt. Was in den jungen Jahren und den damit verbundenen hehren Zielen in einer gewissen Schwarz-Weiß-Denke ausfällt, wird mit den Jahren grauer. Ich weiß!

Doch die Betrachtungen in den Kolumnen der Jahre 2016 bis 2022 haben nicht an Bedeutsamkeit verloren, denn unsere patriarchale Welt existiert weiter, unsere Betrachtung der Menschen und ihre jeweilige Benotung in ihrer Wichtigkeit fürs System sind weiterhin existent, unser Sexismus und die damit einhergehende Bewertung der Geschlechter ist weiterhin existent, unsere Betrachtungen dem Andersartigen gegenüber haben sich oft von damaligen Gedanken nur wenig entfernt. Es liegt noch viel Arbeit vor uns unsere Welt bunt und tolerant zu gestalten und Hengamehs Texte sind ein wichtiger Faktor in dieser Arbeit. Lesen!

Bewertung vom 05.01.2025
Kosakenberg
Rennefanz, Sabine

Kosakenberg


ausgezeichnet

Das Gestern und das Heute

Sabine Rennefanz wirft hier einen Blick auf den Osten, einen Blick auf die verlassenen Landschaften, diese Landschaften, die erblühen sollten. So wurde die Wende so Manchem von uns beschrieben. Manches blüht ja auch. Aber an manchen Stellen ist das Blühen verklungen.

Kosakenberg. Ein Dorf in der brandenburgischen Provinz. Flach ist das Land. Weit und breit ist kein Berg zu sehen. Ein Hügel hat diesen Namen erhalten und der Name ist geblieben. So bergig wie blühend ist das Land in Kosakenberg.

Kathleen stammt von hier. Aber sie lebt nicht mehr in Kosakenberg. Sie hat es nach London geschafft. Sie ist Grafikerin und sie ist erfolgreich. Rückwärts schaut sie nur mit traurigen und auch verächtlichen Augen. Sie möchte nicht mehr zurück, kommt nur ab und zu und auch da recht widerwillig. Denn dieses Damals hat nichts mehr mit ihrem Jetzt zu tun. Doch ist dies wirklich so?

Die versprochenen blühenden Landschaften waren kurz nach der Wende nicht wirklich blühend. Betriebe und LPG´s verschwanden und mit ihr verschwand der Beruf und der Erwerb. Viele Menschen wurden für sie plötzlich von etwas überrascht, was sie nicht kommen sahen. Und mussten sich umentscheiden. Die Wendigen im Kopf taten dies und viele verschwanden zu Lohn und Brot. Sie verstreuten sich. Doch ihre Geschichte nahmen sie mit. Und so finden sich die Erinnerungen an die Kosakenbergs im Osten an vielen Stellen der Erde wieder.

Auffallend viele Frauen sind gegangen. An manchen Stellen im Osten bis zu einem Drittel. Und dies macht etwas mit den Zurückgebliebenen, mental, aber auch politisch. Wie man heute mit Befremden feststellt!

Kathleen besucht ihre Ursprünge. Sie schaut bei ihren Besuchen umher und wundert sich. Sie schaut auf ihre Vergangenheit, auf die zurückgebliebenen Menschen und bemerkt, dass ihre Vergangenheit immer noch da ist, in ihrem Herz, in ihrem Kopf. Doch warum soll sie auch verschwinden?

Viele der Verschwundenen triggert ihre einstige Heimat. Doch warum ist das so? Wie viel Gefühl für die alten Wurzeln ist denn noch da? Genügend! Denn unsere Wurzeln verlassen uns nicht. Wir haben diese Kosakenbergs in uns. Wir, und damit meine ich alle die, die ihre Heimat verlassen haben, verlassen mussten, wie ich selbst auch.

Warum ist unsere Heimat so verbohrt geworden? Warum denken die Menschen jetzt so zerstörerisch? Selbst wenn ich das Gefühl habe, betrogen worden zu sein, rechtfertigt dies in meinen Augen nicht, den Hass zu wählen, den Hass in mein Herz zu lassen. Den einstigen Betrug als Grund für die eigene Veränderung zu nehmen ist doch etwas dürftig, wie ich finde. Denn auch wenn der Betrug über mich kommt, mir vieles wegnimmt, muss ich ja nicht tatenlos verharren. Manche konnten nicht reagieren, manche wollten nicht reagieren. Aber dies darf man nicht vergessen. Die eigenen Entscheidungen.

Allerdings kann ja auch nicht das erklärte Ziel der damaligen Übernahme das Entvölkern der blühenden Landschaften gewesen sein. Nur leider lief es vielerorts genau so ab. Der Großteil der Betriebe, viele der LPG´s machten zu und die Menschen standen da.

Manche reagierten in der Aktion und manche im Stillstand. Kann man das bewerten? Heute. Wenn man die Folgen sieht. Wenn man die Enttäuschung sieht. Denn nicht nur die Strukturen brachen zusammen. Auch die Familien zerfielen und spalteten sich in die Aktionsfähigen und die Zurückbleibenden. Demzufolge machte der Zerfall der Struktur und auch der Zerfall der Familie den Menschen zu schaffen.

Nun kann man sagen, dass dies in strukturschwachen Regionen in vielen Teilen Deutschlands so passiert. Klar. Aber nicht plötzlich und überall. Denn diesen Zerfall in der Struktur und in der Familie traf einen ganzen Landesteil im selben Moment, sprich, diese negativen Geschichten hörst du plötzlich überall. Die meisten Menschen sind dazu gemacht sich das Negative besser zu merken. Leider! Und genau das taten sie. Sie weinten den Gegangenen hinterher und beweinten sich selbst. Wer in so einer Umgebung positiv bleibt, ist zu bewundern!

„Kosakenberg“ ist ein kluges Buch über ein Geschehen, dem sich so manch einer nicht bewusst ist und es ist wunderbar, dass genau dieses Geschehen sichtbar gemacht wird. Denn dieses Geschehen ist eine Ursache für dieses unsägliche Jetzt.

Lesen!!!

Bewertung vom 05.01.2025
Mistral
Borrély, Maria

Mistral


sehr gut

Provenceliebe trifft auf das Drama

Maria Borrély beschreibt hier in „Mistral“ das malerische Leben in einem Dorf in der Haute Provence in einer vergangenen Zeit, sie schreibt sich ihre Liebe für diese Landschaft von der Seele. Aber nicht nur dies beschreibt sie. Sie beschreibt auch wie der Mistral, eine unberechenbare Kraft wütet, dieses beschauliche Leben in dem Dorf in der Haute Provence durcheinanderbringt.

Marie geht wie alle anderen Menschen im Dorf auch ihrer Arbeit nach. Das Dorf floriert. Mehr oder weniger. Denn die Lage des Dorfes ist für seine Bewohner in seiner Hochlage auch anstrengend und so sind manche fortgezogen, haben örtlich weniger anstrengende Lebenssitze gewählt. Die Natur und der Jahreslauf bestimmen die zu erledigenden Arbeiten und die Dorfbewohner haken die Dinge auf ihrer To-Do-Liste ab, mit diesen Arbeiten zieht die Zeit vorbei.

Doch der Jahreslauf bestimmt auch für die Menschen etwas. Und so trifft die Liebe auf Marie. In Gestalt des vom Wind daher gewehten Olivier. Doch Marie verwechselt sein Begehren mit der Liebe, mit ihrer Liebe. Und so weht der Wind ihren herzallerliebsten Olivier wieder weg. Zurück bleibt eine zerstörte Marie, die bis vor kurzem noch straight ihrer Arbeit nachgegangen ist.

Marie wird klar, dass sie einer Lüge aufgesessen ist und Marie ist stolz. Und so geht sie den Weg der Stolzen, sie kann nicht mit ihrer Schande leben, die in dem Dorf sicher ein Dauerthema war. Sie war durch Olivier stigmatisiert worden.

Die Autorin Maria Borrély wurde 1890 in Marseille geboren, „Mistral“ erschien 1930 bei Gallimard unter dem Titel „Sous le Vent“. Ist 1930 die Zeit einen Roman zu veröffentlichen, in dem männliche Eroberungslust angeklagt wird? Mutig von Maria Borrély solch ein Buch zu schreiben, wie ich finde. Und auch schön, dass solch ein Buch bei Gallimard herausgebracht wurde. Denn nicht nur die Liebe zur Haute Provence wird in diesem Buch deutlich. Auch eine Kritik an der patriarchalen Lebens- und Denkweise kommt hier lautstark zum Vorschein, wie ich finde.