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Irisblatt

Bewertungen

Insgesamt 93 Bewertungen
Bewertung vom 15.05.2024
Gebranntes Kind
Dagerman, Stig

Gebranntes Kind


ausgezeichnet

Intensiv und verstörend
Der schwedische Autor Stig Dagerman, der sich mit 31 Jahren das Leben nahm, veröffentlichte „Gebranntes Kind“ im Jahr 1948. Nun hat der Guggolz Verlag den Text in einer neuen Übersetzung von Paul Berf neu herausgegeben. Ein informatives Nachwort des Schriftstellers Aris Fioreto bietet auf wenigen Seiten hilfreiche Ansatzpunkte zum Verständnis.
Der Roman setzt kurze Zeit vor einer Beerdigung ein. Bengts Mutter ist tot. Sie brach in der dem Wohnhaus gegenüberliegenden Metzgerei zusammen und starb. In einer zunächst sezierenden, stakkatoartig anmutenden Sprache richtet Dagerman den Blick auf den zwanzigjährigen Bengt, seinen Vater und seine beiden Schwestern, die sich in der Wohnung für die Beerdigung zurechtmachen. Wir begleiten Bengt und seinen Vater zur Beisetzung und nehmen an zentralen Geschehnissen im Jahr nach dem Tod der Mutter bzw. Ehefrau teil. Vater und Sohn trauern unterschiedlich. Sie belauern und belügen sich. Bengt ist in seiner Trauer und seinem Wesen äußerst ambivalent. Er fühlt sich moralisch überlegen, obwohl er weder zu seinem Vater noch zu seiner Freundin ehrlich ist und zu Gewaltausbrüchen neigt. Bereits vor dem Tod seiner Frau hatte der Vater eine Geliebte, die dieser nun gerne als „Ersatzmutter“ für seinen Sohn sehen würde. Bengt möchte diese Frau hassen, schmiedet Rachepläne, fühlt sich zugleich aber magisch angezogen. Sie wird für ihn Geliebte und Mutter zugleich.
Zahlreiche Szenen im Text haben etwas Kafkaeskes. Die Protagonist:innen wirken alle auf ihre Weise gestört, einsam und verloren. Dagermans Sprache wechselt zwischen äußerst reduzierten, knappen Sätzen mit zahlreichen Wortwiederholungen und poetisch dahinfließenden, zärtlichen Passagen. Der gesamte Text ist unglaublich dicht und reich an Symbolik, die es zu entschlüsseln gilt.
Mich hat dieser Roman ungemein fasziniert und ich bin froh, diesen zeitlosen, literarisch anspruchsvollen Text entdeckt zu haben, der die Zerrissenheit des Hauptprotagonisten, aber auch die Einsamkeit der anderen so hautnah erfahren lässt.

Bewertung vom 30.03.2024
Issa
Mahn, Mirrianne

Issa


ausgezeichnet

Eine Reise zu sich selbst
Issa ist schwanger und befindet sich auf dem Weg nach Kamerun, dem Land ihrer frühen Kindheit. Sie soll dort eine Reihe dringend notwendiger Rituale durchführen lassen, um Unheil von sich und dem Ungeborenen abzuwenden. Die junge Frau kann es selbst nicht fassen, dass sie sich diesem drängenden Wunsch ihrer Mutter fügte und nun diesem „Humbug“ aussetzen wird. Da die Situation in Deutschland aber nicht nur mit ihrer Mutter, sondern auch mit dem angehenden Vater gerade schwierig ist, lässt sie sich auf diese Reise ein. In Kamerun erwarten sie ihre Großmütter, ihr Cousin sowie ein riesiges Netzwerk näherer und entfernterer Verwandter, die alle besucht und beschenkt werden müssen. Hin- und hergerissen zwischen Nähe und Distanz zu den kulturellen Eigenheiten vor Ort, folgen wir Issa auf ihrer Reise, die alles andere als leicht ist. Mit viel Humor, aber zugleich auch ernsthaft, zeigt die Autorin, was es bedeutet in Frankfurt zu schwarz und in Buea zu weiß zu sein.
Irgendwann überlässt sich Issa dem Fluss der Geschehnisse und merkt lange Zeit nicht, wie sie ihre Erlebnisse und die Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Familiengeschichte verändern.
Neben dem Erzählstrang in der Gegenwart, gibt es einen zweiten, der um 1908 mit der Geschichte von Issas Ururgroßmutter einsetzt und die weiblichen Vorfahren bis zu Issas Mutter in den Fokus stellt. Das Leben dieser Frauen war geprägt von Schmerz, Gewalterfahrungen, aber auch Stärke, Mut und Lebenswillen. Sehr dicht erzählt Mahn von deutscher Kolonialherrschaft, Vergewaltigung, Unrecht, Verlust, von patriarchalen Familienstrukturen und deren Auswirkungen, der Sehnsucht nach Bildung und Unabhängigkeit.
Ich habe dieses Debüt sehr gerne gelesen. Inhaltlich bereichert es durch den historischen Kontext, aber auch die zahlreichen kulturellen Einblicke. Darüberhinaus war es interessant, Issa in ihre innere Welt mit ihren Widersprüchen und Selbstzweifeln zu folgen. Bei einigen Szenen musste ich schmunzeln, bei anderen war ich tief bewegt. Der Roman lässt sich leicht lesen, erzeugt lebendige Bilder vor dem inneren Auge, ist kurzweilig und geht in die Tiefe. Großartig!

Bewertung vom 28.03.2024
Trophäe
Schoeters, Gaea

Trophäe


ausgezeichnet

Unbequem, fesselnd, ambivalent, radikal, herausfordernd

Hunter White ist passionierter Jäger und reich. Bereits als kleiner Junge begleitet er seinen Vater und Großvater auf der Jagd und erlegt erste Tiere. Für ihn ist der Augenblick kurz vor dem präzisen, tödlichen Schuss, in dem sein Blick sich mit dem seiner Beute trifft, der befriedigendste Moment einer Jagd. Als er eine Lizenz zum Abschuss eines Nashorns erhält, erfüllt sich ein Traum. Ein Nashorn ist das letzte Tier der „Big Five“, das ihm noch fehlt.
Er möchte diese besondere Trophäe seiner Frau, die ein Faible für solche Geschenke hat, überreichen.
Hunter reist voller Vorfreude nach Afrika und begibt sich dort mit seinem langjährige Freund und Vermittler der Jagdlizenzen, van Heeren, auf die Jagd nach dem für ihn freigegebenen Tier. Einiges geht schief auf dieser Jagd; Hunter ist am Boden zerstört, doch dann unterbreitet ihm van Heeren ein neues Angebot.
Sehr detailliert lässt uns Gaea Schoeters am Ablauf einer Jagd und den Gedanken Hunters teilnehmen. Der Autorin gelingt es ausgesprochen gut, Hunters Weltbild und seine emotionalen Beweggründe schlüssig darzulegen. Obwohl mir Hunter in allem fremd ist, fühlte ich mich ihm auf eine gewisse Art nah und verbunden und wäre beinahe seinen Ausführungen, warum die Trophäenjagd so wichtig für den Arten- und Naturschutz sei, auf den Leim gegangen. Diese „Nähe“ erzeugt Spannung und Anspannung zugleich. Der Text fordert ein ständiges Auseinandersetzen mit den eigenen Werten und Moralvorstellungen. Dabei liest sich das Buch wie ein fesselnder Abenteuerroman, der neben Szenen voller Spannungsmomente auch wunderschöne Naturbeschreibungen liefert.
Ganz nebenbei erfahren wir etwas über Naturschutz, Jagdlizenzen, das Fährtenlesen, Wilderei, Bestechung und die Wechselwirkungen in einer kapitalistisch geprägten Welt sowie über die Überlebensstrategien und einige Rituale der indigenen Bevölkerung.
Die Geschichte entwickelt sich in eine unerträgliche Richtung. Gerade aber diese Radikalität und die drastische, ungeschönte Art, in der die Autorin ihren Plot vorantreibt, haben mich noch einmal anders über das Jagen, Töten und den Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen nachdenken lassen.
Ich bin den Geschehnissen entsetzt, aber auch fasziniert gefolgt, was letztendlich auch der absolut stimmigen Figurenzeichnungen geschuldet ist. Dabei waren gerade die ambivalenten Gefühle, denen ich beim Lesen permanent ausgesetzt war, für mich eine Bereicherung. Dieses Buch wird mir mit Sicherheit im Gedächtnis bleiben.
Trophäe wurde von Lisa Mensing aus dem Niederländischen ins Deutsche übersetzt.

Bewertung vom 26.03.2024
Geordnete Verhältnisse
Lux, Lana

Geordnete Verhältnisse


ausgezeichnet

Abwärtsspirale einer toxischen Beziehung
Der zehnjährige Philipp lebt in schwierigen Familienverhältnissen. In der Schule ist er ein Außenseiter - nichts wünscht er sich sehnlicher als einen Freund. Als Faina in seine Klasse kommt, erfüllt sich sein Wunsch. Philipp nimmt die erst kürzlich aus der Ukraine nach Deutschland gekommene Klassenkameradin unter seine Fittiche, hilft ihr die deutsche Sprache zu erlernen und sich regelkonform zu verhalten. Schon bald sehen sich die beiden täglich. Faina lernt mit den „Macken“ ihres Freundes umzugehen und diese zu akzeptieren. Bereits in dieser frühen Beziehung zeigt Philipp obsessive und latent unter der Oberfläche brodelnde aggressive Verhaltensweisen. Ein einschneidendes Erlebnis führt dazu, dass Faina als junge Erwachsene schließlich den Kontakt zu Philipp abbricht. Einige Jahre später meldet sie sich wieder bei ihm. Sie befindet sich in einer Notlage und niemand anderes scheint in der Lage, ihr helfen zu können.
Philipp ist überglücklich, fühlt sich bestätigt, dass nur er in der Lage ist, Faina vor falschen Entscheidungen zu bewahren und bietet ihr umfangreiche Unterstützung an. Faina lässt sich darauf ein und begibt sich in Philipps Abhängigkeit. Was ursprünglich als Ausweg aus einer misslichen Lage erschien, entpuppt sich für Faina immer mehr zum Albtraum.
Lana Lux zeigt eindringlich anhand zweier sehr unterschiedlicher Charaktere, aus welchen Gründen sich Menschen in toxische Beziehungen begeben und wie schwierig es ist, sich wieder daraus zu lösen.
Die Autorin widmet sich in ihrem dritten Roman einem wichtigen Thema, das gesellschaftlich noch viel zu wenig Beachtung erfährt. Die Lektüre fesselt und beklemmt gleichermaßen. Das Ende ist an Bitterkeit kaum zu überbieten und spiegelt die verharmlosende gesellschaftliche Wahrnehmung solcher toxischen Beziehungen leider sehr treffend.

Bewertung vom 31.12.2023
Endstation Malma
Schulman, Alex

Endstation Malma


ausgezeichnet

Gefangen in transgenerationalen Traumata
„Die Überlebenden“ und „Verbrenn all meine Briefe“ haben mich begeistert. Auch „Endstation Malma“ konnte mich mit seiner klaren Sprache, dem Spiel unterschiedlicher Zeitebenen und der beklemmenden Familiengeschichte sofort in seinen Bann ziehen.
Schulmans großes Thema sind transgenerationale Traumata.
Wir werden Zeuge dreier Zugfahrten mit dem Ziel Malma. Die 10-jährige Harriet ist mit ihrem Vater, einem Fotograf, unterwegs. Im Gepäck haben sie eine Urne, doch der Vater tritt diese Reise mit seiner Tochter nicht nur wegen des Begräbnisses an.
Viele Jahre später begibt sich Harriet mit ihrem Ehemann Oskar auf dieselbe Reise. Harriet möchte Oskar in Malma etwas zeigen und vielleicht auch ihre Ehe retten. Auch Yana, ihre Tochter, zieht es als junge Frau mit dem Zug nach Malma. Sie sucht Antworten auf drängende Fragen, möchte verstehen, was in ihrer Familie geschehen ist. Die Reise nach Malma wird für alle Familienmitglieder zu einem Wendepunkt - danach ist nichts mehr wie es war.
Schulman versteht es großartig, dysfunktionale Beziehungen zu skizzieren. Er zeigt, wie sich Verletzungen und Kindheitstraumata auf die nachfolgenden Generationen auswirken können. Die Lektüre lässt niemals kalt. Sie wühlt auf, stößt vor den Kopf, bedrückt. Es schmerzt wie sehr die Protagonist*innen in ihrem Schweigen und ihrer Einsamkeit gefangen sind.
Endstation Malma ist ein klug konstruierter Roman, der geschickt die unterschiedlichen Zeitebenen verwebt. Mit seinem dritten auf Deutsch erschienen Roman erlangt Schulman den Platz eines Lieblingsautors. Ich freue mich schon sehr auf weitere Werke.

Bewertung vom 02.09.2023
Mattanza
Fabiano, Germana

Mattanza


ausgezeichnet

Der letzte Raìs
Jedes Jahr führt die Route der Thunfischschwärme an der kleinen, weit abgelegenen süditalienischen Insel Katria vorbei. Traditionell leben die Bewohner der Insel vom Thunfischfang. Die „Mattanza“ - das Abschlachten des Schwarms findet nach einer seit Generationen festgelegten Methode statt, angeleitet vom Raìs, der sein umfangreiches Wissen über das Meer, den Wind, die Thunfische sowie die vorgeschriebenen Abläufe immer an einen männlichen Nachkommen weitergibt.
Doch als wiederholt kein Junge geboren wird, beschließt der amtierende Raìs seine Enkelin Nora auszubilden. Nora lernt diese Bürde zu tragen, erfährt alles Notwendige, um das Erbe ihres Großvaters anzutreten und erwirbt sich das Vertrauen der Fischer. Doch die Welt verändert sich. Touristen interessieren sich plötzlich für die Tradition der Mattanza, Flüchtlinge stranden bzw. werden tot an die Insel gespült und die Überfischung der Meere wirkt sich massiv auf den Thunfischbestand aus.
Die Dorfgemeinschaft kämpft zunehmend ums Überleben, versucht, mit den neuen Situationen zurecht zu kommen.
Die sizilianische Autorin Germana Fabiano hat mit „Mattanza“ einen schnörkellosen, bewegenden und nachdenklich stimmenden Roman über Tradition und Wandel geschrieben.
Die Abläufe einer Mattanza werden detailliert beschrieben - der Fang nach traditionellen Regeln gleicht einer festgelegten Choreographie, bei der es auf den richtigen Augenblick ankommt. Das Abschlachten eines ganzen Schwarms bedeutet harte körperliche Arbeit, ist eine blutige Angelegenheit, die die Existenz der Dorfgemeinschaft sichert.
Doch auch scheinbar unabänderliche Traditionen sind, wie der Roman zeigt, dem Wandel unterworfen, müssen sich neuen Gegebenheiten anpassen. „Mattanza“ zeigt, dass die Folgen von hochindustrialisierten Wirtschaftssystemen, Klimawandel und Globalisierung auch in abgelegenen Teilen der Welt massiv spürbar sind und die dort lebenden Menschen zwingt, ihr Leben zu verändern.
Sehr lebendig schildert die Autorin auch die Beziehungen der Dorfbewohner untereinander, ihre Abhängigkeiten von den auf dem Festland lebenden Obrigkeiten und ihren Gemeinschaftssinn.
Besonders gut gefallen hat mir, dass die Autorin eine thematisch ungewöhnliche, fesselnde Geschichte erzählt, die tiefe Einblicke gewährt, nichts beschönigt und die sich verändernde Welt aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Dabei überlässt sie es ihren Leser*innen, Bewertungen vorzunehmen.
Für mich ist „Mattanza“, das von Barbara Neeb und Katharina Schmidt ins Deutsche übersetzt wurde, ein Lesehighlight im Jahr 2023.

Bewertung vom 21.04.2023
Institut für gute Mütter
Chan, Jessamine

Institut für gute Mütter


gut

"Ich bin eine schlechte Mutter ..."
Das Debüt „Institut für gute Mütter“ von Jessamine Chan liest sich über weite Teile spannend und löste zahlreiche widersprüchliche Emotionen bei mir aus. Wenn einem Buch dies gelingt, dann hat es normalerweise bereits gewonnen - normalerweise. Hier war für mich die Geschichte allerdings nicht rund, nicht durchgängig plausibel erzählt, so dass ich eben doch unzufrieden zurückbleibe.
Frida ist am Ende ihrer Kräfte. Ihre 1,5-jährige Tochter ist krank, an Schlaf ist seit Tagen nicht zu denken und eine Deadline im Job erzeugt außerdem Druck. In einem spontanen Entschluss verlässt Frida die Wohnung und lässt ihre Tochter 2,5 Stunden alleine. Ein Nachbar, der das Kind schreien hört, benachrichtigt die Polizei, die Harriet aus der Wohnung „befreit“ und mit zur Wache nimmt.
Das verantwortunglose Handeln hat für Frida und Harriet weitreichende Folgen. Harriet zieht zum Vater und seiner neuen Frau, darf ihre Mutter zunächst in einem streng getakteten, sehr knappen Zeitraum unter Beaufsichtigung treffen. In Fridas Wohnung werden Überwachungskameras installiert. Ein Gericht beschließt, dass Frida nur dann weiterhin für ihre Tochter sorgen darf, wenn sie lernt, eine gute Mutter zu sein. Dies soll sie in einer neuen, noch geheim gehaltenen Besserungsanstalt während eines Jahres mithilfe einer KI-Puppe erlernen. Natürlich lässt sich Frida darauf ein, ist es doch ihre einzige Chance, die Tochter zurückzugewinnen.
Was folgt sind Trainingseinheiten, in denen Frida mit anderen verurteilten Müttern lernt, „mutterisch“ zu sprechen, angemessene Umarmungen auszuführen (nicht zu lang, nicht zu kurz), Konflikte zwischen den KI-Puppen zu schlichten usw.. Dabei kommen durchaus wichtige Themen der Kindererziehung zur Sprache, die dann aber durch die völlige Missachtung der individuellen Persönlichkeit von Mutter und Kind und in ihrer strengen Durchführung ohne Spielraum und Beachtung der Bedürfnisse gleich wieder ad absurdum geführt werden. Das Institiut für gute Mütter bedient sich unmenschlicher Methoden, bricht Frauen, anstatt sie aufzubauen, straft, foltert und traumatisiert ebenso die zurückgelassenen Kinder, die manchmal per Videotelefonat mit ihren Müttern sprechen dürfen. In der Besserungsanstalt (es gibt auch einen getrennten Bereich für Väter) befinden sich auch Eltern, die ihre Aufsichtspflicht dadurch verletzten, dass sie ihr Kind nicht vom Sturz eines Klettergerüsts schützen konnten oder weil sie ihrem Kind im Grundschulalter erlaubten, den kurzen Weg vom Spielplatz zur Wohnung alleine zu bewältigen. Offensichtlich verbietet das us-amerikanische Gesetz den Aufenthalt für Kinder bis 12 Jahren alleine in der Öffentlichkeit. Je nach Bezirk halten sich die Menschen daran oder auch nicht. In einigen Gegenden erstatten Nachbarn durchaus Anzeige und der Fall landet vor dem Jugendamt.
Mit den Vätern in der Besserungsanstalt scheint man nachsichtiger umzugehen, die Regeln sind nicht so streng und die Chancen stehen für Väter besser, am Ende der „Strafmaßnahme“ wieder mit ihren Kindern leben zu können. Die Autorin hat durchaus auch das Anliegen Gesellschaftskritik zu üben. Neben der geschlechtsspezifischen Ungleichbehandlung zeigt sie, wie Rassismus die Beurteilung der Mütter und Väter beeinflusst. All das kratzt aber nur an der Oberfläche, ebenso die Beziehungen, die die Mütter untereinander eingehen.
Die Geschichte fesselt vor allem wegen des emotional aufwühlenden Themas, weniger durch den Schreibstil und den Handlungsaufbau. Immer hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas fehlt, dass diese entworfene Welt in sich nicht stimmig ist. Vergleiche mit Orwells „1984“ und Atwoods „Report der Magd“ sind meiner Meinung nach nicht zulässig - zwischen diesen Werken liegen Welten.

Bewertung vom 09.04.2023
Seemann vom Siebener
Frank, Arno

Seemann vom Siebener


ausgezeichnet

Ein Sommertag im Freibad als Wendepunkt
Arno Frank entführt uns in ein Freibad in der pfälzischen Provinz. Es ist ein heißer Tag am Ende der Sommerferien. Wir sind nah dabei, wenn Bademeister Kiontke und Kassiererin Renate die letzten Vorbereitungen vor der Öffnung des Bades treffen und lernen zunächst in kurzen, fein beobachteten Alltagsszenen die wichtigsten Charaktere des Romans kennen.
Sie alle werden diesen Tag im Freibad verbringen und dabei mit ihren persönlichen Erinnerungen und ihrer gegenwärtigen Situation konfrontiert werden.
Rasch wird klar, dass das Schwimmbad vor einigen Jahren Ort eines großen Unglücks gewesen sein muss, unter dessen Folgen einige immer noch leiden; zudem drückt ein kürzlich stattgefundener Verkehrsunfall auf die Stimmung.
Von Beginn an versteht es Arno Frank durch kleine Hinweise Spannung aufzubauen, aber auch in die Irre zu führen.
Im Freibad sind alle Schichten und Altersgruppen der kleinen Gemeinde präsent, so dass wir ganz nebenbei noch einen kurzen Blick auf das Soziogramm und die gesellschaftlichen Gegebenheiten innerhalb des Ortes werfen können.
Die Stärken dieses ruhig erzählten, melancholischen, zuweilen aber auch äußerst amüsanten Romans liegen in der authentischen Figurenzeichnung, der präzisen Beschreibung von Alltäglichem, der Schaffung einer überzeugenden Schwimmbadatmosphäre inklusive Geruch von Chlor, Frittierfett und Sonnencreme sowie dem Geflecht aus dezent platzierten Hinweisen, die am Ende alles in einem neuen Licht erscheinen lassen und für einen Gänsehautmoment auf der letzten Seite sorgen. Nach Beendigung der Lektüre musste ich das Buch erneut aufschlagen, die Szenen mit dem Mädchen und ihrem Bruder noch einmal lesen. Dabei staunte ich, wie sich meine Wahrnehmung mit der letzten Szene komplett verändert hatte. Großartig!
Arno Frank zeichnet seine Figuren dicht, mit großer Empathie und stattet alle mit einer eigenen Sprache aus. Beim Lesen hatte ich filmreife Bilder und Szenen vor Augen. Erstaunlich auch, wieviele Informationen über das Leben, den jeweiligen Charakter und die Gedanken der Hauptfiguren auf relativ wenigen Seiten enthalten sind.
In diesem kleinen Roman steckt sehr viel mehr als auf den ersten Blick sichtbar ist, weshalb ich langsames, konzentriertes Lesen empfehle.

Bewertung vom 16.03.2023
Ein Geist in der Kehle
Ní Ghríofa, Doireann

Ein Geist in der Kehle


weniger gut

Enttäuschend
Ich hatte mich sehr auf das erste Prosawerk der irischen Lyrikerin Doireann Ní Ghríofa gefreut. Die Idee, sich auf die Spuren der Verfasserin einer in Irland sehr bekannten Totenklage aus dem 18. Jahrhundert zu begeben und Verbindungen zum Leben von Frauen zu allen Zeiten herzustellen, fand ich reizvoll. Als Urheberin des „Caoineadh Áirt Uí Laoghaire“ gilt Eibhlín Dubh Ní Chonaill, die das Gedicht als Klage anlässlich ihres ermordeten Mannes verfasste. Die Ich-Erzählerin kommt das erste Mal mit dem Werk während ihrer Schulzeit in Berührung und spürt bereits damals eine Faszination, die sich im Laufe ihres Lebens verstärkt und schließlich zu einer regelrechten Obsession wird. Zwischen Stillen, Abpumpen von Milch für einen guten Zweck, Windelwechseln, Kinder beschäftigen und Haushalt bewältigen beginnt sie, sich jede freie Minute dieser Totenklage zu widmen. Sie sucht bis zur Erschöpfung im Internet und Archiven nach Hinweisen über das Leben dieser Frau, sucht die Orte auf, an der sie gelebt haben soll und findet den Grabstein ihres ermordeten Ehemanns. Immer ist sie mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass die Geschichtsschreibung von Männern dominiert wurde, Texte von Frauen kaum überliefert sind.
Die den Kapiteln vorangestellten Verse der Totenklage in drei Sprachen (Irisch-Gälisch, Englisch und Deutsch) geben dem Text Struktur und Rhythmus, was mir zu Beginn noch sehr gut gefallen hat, mir im Verlauf des Textes aber zu wenig war, um einen Spannungsbogen aufzubauen und einem roten Faden zu folgen.
Meine anfängliche Faszination schlug nach dem ersten Drittel in Langeweile um. Die Begeisterung für Eibhlín Dubh Ní Chonaills Geschichte übertrug sich nicht auf mich. Die Episoden aus der Gegenwart und der Vergangenheit wirkten willkürlich, und unzusammenhängend auf mich. Viele Wiederholungen nahmen mir die Lesefreude, so dass ich am Ende der Lektüre einfach nur froh war, das Buch zur Seite legen zu können. Gefallen hat mir, dass im Anhang die gesamte Totenklage noch einmal am Stück in den genannten drei Sprachen gedruckt wurde. Ein Interview mit der Autorin hilft bei der Einordnung des Textes, der mich leider nur in seiner Grundidee, nicht aber in seiner Umsetzung erreichen konnte. Übersetzt wurde der Prosatext von Cornelius Reiber, die Lyrik von Jens Friebe.

Bewertung vom 16.03.2023
Siegfried
Baum, Antonia

Siegfried


ausgezeichnet

"Gedrängte Lage"
Atemlos berichtet die namenlose Ich-Erzählerin, Autorin und Mutter einer kleinen Tochter, von ihrem streng getakteten Alltag, Beziehungsproblemen, Geldnöten und Schreibblockaden. Nach einer von Albträumen geplagten Nacht, in der sie die Angst befällt, ihr Stiefvater Siegfried könnte gestorben sein, scheint alles über ihr zusammenzubrechen. Sie kann Siegfried nicht erreichen, sehnt sich nach einer Verschnaufpause. Die Psychiatrische Klinik scheint ihr der geeignete Ort, um ein wenig Ruhe zu finden. Sie wünscht sich Ordnung in ihrem Leben; jemanden der weiß, was sie tun soll.
Während sie viele Stunden im Wartezimmer verbringt, überlässt sie sich ihren Erinnerungen und Gedanken.
Finanziell war ihr Herkunftsfamilie bestens gestellt, doch hinter der Fassade herrschte ein rauher, liebloser Ton. Siegfried war häufig auf Geschäftsreise, immer begleitet von seiner Ehefrau, die seine Untreue und seine Gewaltausbrüche fürchtete. Die Ich-Erzählerin verbrachte daher als Kind viele Wochen bei ihrer exzentrischen Großmutter Hilde, Siegfrieds Mutter, mit ihren eigenwilligen Vorstellungen und Erziehungsmethoden. Am siebten Tag der Woche pflegte Hilde stolz „gedrängte Lage“ aufzutischen. Ein Gericht, das aus sämtlichen Essensresten der vorangegangenen sechs Tage bestand, aufgeschichtet zu einem Auflauf. Dabei spielte es weder eine Rolle, ob die Reste geschmacklich zueinander passten noch ob sie unverdorben waren. Gegessen wurde, was auf den Tisch kam.
Für mich steht dieses Gericht sinnbildlich für den psychischen Zustand der Protagonistin, ihre prägenden Erlebnisse, ihre verinnerlichten Glaubenssätze, ihre Bedrängnis, die sie letztendlich zusammenbrechen lässt.
Siegfried ist trotz seiner meist psychischen Abwesenheit immer im Leben seiner Stieftochter präsent. Er hat ihre Sicht auf die Welt geprägt. Noch als Erwachsene beurteilt sie Menschen durch seine Brille, fragt sich, was Siegfried wohl dazu sagen würde. Als sie sich in einen Mann aus einem ganz anderen Milieu verliebt, weiß sie, dass Siegfried ihn als "weichen Versager" nicht gutheißen wird. Trotzdem bleibt sie mit ihm zusammen, genießt ihre Beziehung sehr, gerade weil er so anders ist. Doch als der Alltag durch Geldnöte und die Versorgung eines Kleinkindes immer stressiger wird, fallen ihr plötzlich all die „Makel“ auf, die Siegfried längst in ihrem Partner gesehen hat. Sehr geschickt zeigt Antonia Baum wie mächtig die Prägungen unserer Herkunftsfamilien fortwirken, wie schwer es fällt, sich von diesen zu lösen, vor allem dann, wenn wir unter großen Belastungen stehen.
„Siegfried“ ist ein eindringlicher, lakonisch erzählter Roman, in dem Herkunft und gesellschaftliche bzw. eigene Erwartungshaltungen verhandelt werden. So unscheinbar das Cover, so kraftvoll und zugleich müde und verzweifelt liest sich der Text, der vor allem die Zustandsbeschreibung einer Familie liefert und als erste Bestandsaufnahme Einblicke in die psychische Verfassung der Ich-Erzählerin gewährt. Das offene Ende war für mich unbefriedigend, passt letztendlich aber gut und bietet Raum für eigene Gedanken. 4,5 Sterne!