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anushka

Bewertungen

Insgesamt 156 Bewertungen
Bewertung vom 06.04.2025
Unter Grund
Liepold, Annegret

Unter Grund


ausgezeichnet

Eine Jugend zwischen bayrischen Fischweihern und rechtem Gedankengut

Franka ist Referandarin in München. Gemeinsam mit ihrer Klasse besucht sie den NSU Prozess vor dem Oberlandesgericht in München. Nach einer unüberlegten Äußerung eines Schülers flieht Franka überstürzt erst aus dem Gerichtsgebäude, dann aus München, zurück in ihr Heimatdorf. Die Freude über ihre Rückkehr ist verhalten, Zurück in ihrem einstigen Jugendzimmer rollt sie die Erinnerungen und weit zurück liegende Familiengeheimnisse auf.

"Unter Grund" ist ein eingängiger Roman über eine Jugend auf dem Land in unserer heutigen Zeit, in dem längst überwundenes Gedankengut weiterhin alltäglich ist. Frankas Großmutter, von allen nur die Fuchsin genannt, spielt hier keine unerhebliche Rolle. Als Kind genießt Franka den Respekt, den die Menschen vor ihrer Großmutter zu haben scheinen, doch mit deren voranschreitender Demenz wird Franka klar, dass die Nachbarn ihre Großmutter eher verachten und meiden. Nun blickt Franka zurück, nicht allzuweit von ihren Mittzwanzigern in ihre Jugend, als ihr Vater starb und sie den Halt verlor. Als ihr bester Freund seine erste Freundin hatte und Franka statt mit ihm immer häufiger Zeit mit Patrick und Janna verbrachte. Wie sie Janna dafür bewunderte, dass sie ihren ganzen Frust über Aggression ausließ. Und wie Franka dabei immer tiefer in die rechte Szene abrutschte, nur um sich irgendwo zugehörig zu fühlen. Franka beschäftigt sich mit ihrer Schuld ohne dabei wirklich Verantwortung übernehmen zu wollen. Die zentrale Frage dabei ist, ab wann Jugendliche ihre Taten verstehen können und dafür Verantwortung übernehmen müssen. Bis wohin gehen jugendliche "Streiche" und ab wann sind sie politische Straftaten? Und wie kann gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit überhaupt als Spaß angesehen werden?
Zeitgemäßer könnte ein Roman kaum sein und erfrischend finde ich, dass er nicht in Ostdeutschland spielt, sondern zeigt, dass solche Geschichten überall stattfinden können und rechtes Gedankengut überall im Land gärt. Franka ist eine nahbare Protagonistin, auch wenn man ihre Handlungen und ihren Umgang mit ihrer Schuld wenig nachvollziehen kann. Gleichzeitig ist der Roman schonungslos, zitiert auch mal hier und da einschlägige Texte, Lieder und Filme, die man vielleicht gar nicht lesen wollte. Man spürt Beklemmung und ein Bedrohungsgefühl, wenn Franka sich mit den Dorfnaz*s trifft, so gut hat die Autorin diese Situationen beschrieben. Der Roman widmet sich weniger möglichen Lösungen, sodass man hier etwas unbefriedigt zurückbleibt. Auch Frankas Ausstieg wird nur kurz thematisiert. Dennoch ist dieser Debütroman beeindruckend und hallt lange nach.

Bewertung vom 06.04.2025
Der ewige Tanz
Schroeder, Steffen

Der ewige Tanz


sehr gut

Das Verglühen eines Sterns

Deutschland, 1920er: Die Goldenen Zwanziger sind angebrochen. Die westliche Welt schwelgt in Lebensfreude, die Kunst erlebt eine Hochphase. Anita Berber ist mittendrin als eine der schillernden Personen. Ihre Tänze sind skandalös und ziehen ein großes Publikum an. Sie ist dabei, als der Film massentauglich wird und ist als Stummfilmschauspielerin sehr erfolgreich. Doch jetzt liegt sie auf der Tuberkulosestation eines Berliner Krankenhauses und ihre Gedanken drehen sich um ihr exzessives Leben und ihren Absturz.

"Der ewige Tanz" erzählt die Geschichte einer exzentrischen Künstlerin der 1920er Jahre, die es wirklich gegeben hat. Wer in einer Suchmaschine nach Anita Berber sucht, wird schnell fündig und kann sich zahlreiche Bilder anschauen, die auch im Buch thematisiert werden. Leider verrät der Klappentext schon recht viel, denn Anita Berber wurde nur 29 Jahre alt. Dennoch verfolgt man fasziniert den Weg dieser eigensinnigen Frau, die sich ein Monokel anfertigen ließ und als erste Frau in einem Frack auftrat, etwas, das Marlene Dietrich sich von ihr abschaute. Der Autor erweckt eine wundervolle Atmosphäre, die den Überschwang dieser Zeit und das künstlerische Milieu wie einen Fiebertraum wirken lässt. Man wähnt sich mittendrin in den Partys und Zwistigkeiten unter den Kunstschaffenden. Nicht lange und man beobachtet Anita bei ihrem Alkohol- und Drogenkonsum, hört die gehässigen Stimmen ihrer Kritiker:innen und folgt ihrem Kampf um Bedeutungserhalt und Einkommen. All das ist faszinierend und auf gewisse Weise fesselnd. Fast schon amüsant sind die Beschreibungen des aufkommenden Kinofilms und dem Beruf der Filmschauspielerei. Und dennoch fehlt etwas. Man kommt Anita Berber niemals emotional nahe. Man verfolgt das Verglühen dieses Sterns von außen, aber der Roman blickt nicht nach innen, was das emotional mit der Protagonistin gemacht haben könnte. Der Roman bleibt durchweg auf einer beschreibenden Ebene und geht nicht tiefer in die zwischenmenschlichen und innermenschlichen Dynamiken. So lässt der Roman insgesamt eine spannende und faszinierende Zeit und Gesellschaft auferstehen, aber wirklich nah kommt man seinen Figuren leider nicht.

Bewertung vom 01.04.2025
Barfuß in Tetas Garten
Abboud, Aline;Heymann, Nana

Barfuß in Tetas Garten


gut

Persönliche Einblicke in den Libanon jenseits der Schlagzeilen

Aline Abboud, wem sie nicht bekannt ist, ist Sprecherin und Journalistin bei der Tagesschau. Außerdem hat sie einen multikulturellen Hintergrund, mit einem libanesischen Vater und einer ostdeutschen Mutter. In diesem Buch erzählt sie aus ihrem Leben mit und ihrer Identitätssuche zwischen zwei Kulturen. Dadurch gibt sie einen Einblick in ein Land, über das abseits von Nachrichtenmeldungen nur wenige Menschen etwas wissen. Wie eine Touristenführerin beschreibt sie anschaulich verschiedene sehenswerte Gegenden des Libanon. Aber auch von einschneidenden Erlebnissen erzählt sie, wie zum Beispiel als 2006 in unmittelbarer Nähe des Hauses ihrer Großeltern Bomben einschlagen und Abboud mit ihrer Familie über Land nach Deutschland zurück flüchtet.

Zunächst fand ich das Buch sehr flüssig zu lesen, doch zunehmend fehlte mir etwas der rote Faden. Auch auf eine historische oder politische Einordnung wartet man vergebens. Hier hätte ich gedacht, dass der journalistische Hintergrund der Autorin stärker zum Tragen kommt. Auch werden Erlebnisse punktuell erzählt und bestehen eher aus einzelnen Anekdoten als aus einem größeren Ganzen mit Konzept. Einzelne Kapitel enden teilweise sehr abrupt und manchmal mit wenig Bezug zueinander. Und nicht zuletzt möchte die Autorin einem zwar das Land näherbringen, thematisiert aber nur vereinzelt, dass auch sie selbst das Land insgesamt wenig kennt, da sie im Jahr nur wenige Wochen am Stück dort verbringt und im Gegensatz zur Familie ihres Vaters das Privileg besitzt, jederzeit in ein westliches Land zurückkehren zu können. Auch der berufliche Alltag in einer Nachrichtenredaktion wird nur am Rande thematisiert.

Dieses Buch gibt insgesamt interessante Einblicke in ein Land, das wenig als Urlaubsland bekannt ist und über das oftmals negativ konnotiert berichtet wird. Es veranschaulicht die Identitätssuche von Menschen mit multikulturellem Hintergrund und ist eine liebevolle Familiengeschichte bestehend aus kurzweiligen Kapiteln. Eine vertiefende Analyse der Situation im Libanon sollte man allerdings davon nicht erwarten.

Bewertung vom 02.03.2025
Der große Riss
Henríquez, Cristina

Der große Riss


ausgezeichnet

Kleine Leben unter dem großem Schatten des Panamakanals

Empire, Panama, 1907: Ada steigt als illegale Passagierin vom Schiff aus Barbados. Sie hofft, in Panama genug Geld verdienen zu können, um ihrer Schwester eine lebensrettende Operation zu bezahlen. Omar, Sohn eines Fischers, arbeitet gegen den Wunsch seines Vaters als Bauarbeiter mit am Panamakanal, der als großer Riss durch das Land gehen soll. Die Oswalds reisen aus den USA an um die Malaria zu erforschen und ein Heilmittel zu finden. Doch sie müssen feststellen, dass auch Reichtum nicht vor Krankheit schützt. Und Valentina versucht, durch Protest ihr Kindheitsdorf Gatún vor der Zwangsumsiedlung zu retten. Dies sind nur einige der Figuren, die in einem mal engeren, mal gröberen Netz aus Schicksalen verbunden sind. Die Autorin zeigt eingängig die Hintergrundgeschichten, Träume und Hoffnungen vieler verschiedener Menschen auf, die alle in irgendeiner Form vom Bau des Panamakanals betroffen sind, sei es, dass sie sich durch das verdiente Geld eine bessere Zukunft erhoffen oder dass dadurch ihre ganze Existenz bedroht ist.

Passender kann ein Roman kaum erscheinen als dieser, der rund um den Bau des Panamakanals vor über 100 Jahre angesiedelt ist, während hochaktuell Forderungen des derzeitigen amerikanischen Präsidenten laut werden, die Kontrolle über den Kanal zurückzuerhalten. Geradezu zynisch muten diese Forderungen an, nachdem man das Buch gelesen und einen Eindruck bekommen hat von der Ausbeutung und der Diskriminierung der Menschen Panamas beim Bau (und danach) und dem imperialistischen Gehabe der USA, die gleich einen ganzen Landstrich Panamas zur Sonderzone machten, in denen die einheimische Bevölkerung keine Rechte mehr hat. Allerdings erfährt man aus diesem Roman wenig historische Fakten, der Hauptfokus liegt auf den emotionalen Geschichten der "kleinen Leben", die mit dem Panamakanal zu tun haben oder davon beeinflusst werden. Wie der große Risse auch Risse durch Familien zieht. Man kann sich einfühlen in die jüngeren Figuren, die dem Fortschritt nicht abgeneigt sind und die aus ganz Mittelamerika anreisen, weil die Arbeit vergleichsweise gut bezahlt wird. Aber auch die Umwälzungen, die die älteren Figuren durch den Fortschritt erleben, der ihre traditionelle Lebensweise überrollt, sind gut nachspürbar. Die angekündigte Liebesgeschichte ist zart und dezent und überlagert nicht die restliche Handlung. Man fühlt beim Lesen vor allem, wie sich ein großer Schatten des "Risses" auf alle geschilderten Leben legt. Und gleichzeitig schildert die Autorin so bildhaft die Szenerie, dass man sich ein Staunen kaum verkneifen kann, wie der Mensch einen ganzen Kontinent durchschneidet, Bergketten durchtrennt und am Ende zwei Ozeane miteinander verbindet um der Natur ein Schnippchen zu schlagen und nicht länger einen ganzen Kontinent umsschiffen zu müssen, um auf die andere Seite zu kommen. Die Autorin schärft mit großer Empathie das Bewusstsein für ein Wunderwerk der Ingenieurskunst und seiner gleichzeitigen Auswirkungen auf die individuellen Menschen.

Bewertung vom 02.03.2025
Middletide - Was die Gezeiten verbergen
Crouch, Sarah

Middletide - Was die Gezeiten verbergen


gut

Trotz atmosphärischer Naturbeschreibungen zündet die Geschichte nicht so richtig

Im Jahr 1973 lässt der gerade einmal volljährige Elijah Leith seine Jugendliebe in Point Orchards, einer Kleinstadt an der Meeresbucht Puget Sound im Staat Washington, zurück, um zu studieren und Schriftsteller zu werden. Viele Jahre später kehrt er zurück. Der Traum vom Bestseller ist geplatzt, der Vater tot und Elijah übernimmt die Familienhütte im Wald und baut sich ein Selbstversorgerleben auf. Doch dann wird die Ärztin des Ortes tot auf Elijahs Grundstück gefunden. Was zunächst wie ein Selbstmord aussieht, ähnelt jedoch schnell in verblüffender Weise der Handlung von Elijahs Buch und so gerät er ins Visier des Sheriffs und des Geredes in Point Orchards.

Die Geschichte beginnt mit atmosphärischen Naturbeschreibungen. Zwei Männer angeln auf einem See, der nur bei einem bestimmten Tidenstand zugänglich ist, es gibt viel Wald und Wasser. Vom Flair her erinnert es an "Der Gesang der Flusskrebse" und ähnliche Romane, das Setting ist dieses Mal jedoch kein Marschland im Süden, sondern ein kontinentaleres Klima an der Grenze zu Kanada. Auch durch Bezüge zu einem Reservat und dem (fiktiven) First Nations Volk der Squalomah entsteht diese eingängige Atmosphäre. Dennoch muss ich sagen, dass dies für mich letzten Endes nicht genug war, um die Geschichte zu tragen. Zunächst war ich noch gefesselt von Elijahs zurückgezogenem Lebensstil in der Natur. Doch dann kam die Liebesgeschichte hinzu, in der mir Elijah immer unsympathischer wurde. Sein Verhalten wirkte oftmals nicht romantisch, sondern grenzüberschreitend auf mich. Und auch der Krimiteil wirkte mir zu konstruiert und wenig überzeugend. Der Sheriff und sein Assistent gehen unbeholfen und dilettantisch vor und die Gerichtsverhandlung ist absolut übereilt. In diesem Buch liegen gerade einmal 5 Wochen zwischen Auffinden der Toten und der Mordanklage, im realen Leben sind es üblicherweise zwischen mehreren Monaten und mehreren Jahren. So konnte mich weder die Liebesgeschichte emotional erreichen, noch der Mordverdacht gegen Elijah. Immerhin gelang es der Autorin, durch verschiedene Zeitsprünge Zweifel zu säen und eine nicht völlig vorhersehbare Entwicklung anzubieten. Die atmosphärischen Naturbeschreibungen konnten am Ende aber für mich die Schwächen in der Romanhandlung nicht ausreichend ausgleichen.

Bewertung vom 31.01.2025
Wenn nachts die Kampfhunde spazieren gehen
Brüggemann, Anna

Wenn nachts die Kampfhunde spazieren gehen


ausgezeichnet

Schmerzvolle Mutter-Töchter-Geschichte

Regina ist in der Nachkriegszeit aufgewachsen. Was hätte nicht aus ihr werden können, wäre sie doch nur von ihren Eltern gefördert worden. Doch damals brauchte eine Tochter keine Bildung, sondern einen Ehemann. Dennoch hat Regina es geschafft. Sie hat Psychologie studiert und ist Psychotherapeutin. Und trotzdem bedauert sie. Sie bedauert, dass sie der Töchter wegen auf eine Promotion verzichtet hat. Sie wäre sicherlich eine der besten geworden. Umso weniger Verständnis hat sie für ihre ältere Tochter Antonia, die so gar nichts aus sich macht und eine einzige Enttäuschung ist. Sie achtet nicht auf ihren Körper, bricht schließlich das Studium ab und wird alleinerziehende Mutter. Deutlich besser gelungen ist die jüngere Tochter Wanda. Ehrgeizig, hübsch, superschlank, erfolgreich. Auf Wanda kann sich Regina verlassen, Wanda ist zuverlässig und der Mutter zugewandt. Währenddessen pendeln die Schwestern in ihrer Beziehung zwischen Rivalität und Liebesbedürfnis. Und beide sehnen sich danach, es der Mutter endlich recht machen zu können und auch einmal bedingungslos von ihr geliebt zu werden.

Der Roman beginnt im Jahr 1998, da ist Antonia gerade 18 und macht ihr Abitur. Wanda ist 17 Jahre alt. Irgendwann gibt es einen großen Zeitsprung in das Jahr 2010 und dann noch einen in das Jahr 2019. So verfolgt man beim Lesen, wie die Mädchen zu erwachsenen Frauen werden und auch noch im Alter von fast 40 Jahren von ihrer Mutter dominiert werden. Erzählt wird aus wechselnden Perspektiven, sodass man alle drei Sichtweisen erlebt. Reginas Handeln wird vielleicht nachvollziehbarer, aber nicht sympathischer. Der Roman zeigt eine schmerzvolle Mutter-Töchter-Dynamik auf, in der die Töchter jede auf ihre Weise um die nahezu unerreichbare Liebe der Mutter buhlen. Nachspürbar und fast schon zu nah zeigt die Geschichte auf, was die unrealistischen Erwartungen von insbesondere Müttern mit ihren Töchtern machen. Dabei zeigt die Autorin eine unglaublich gute Beobachtungsgabe und Realitätsnähe. Das Buch lebt vor allem von den vermittelten Emotionen, die mitunter sehr beklemmend sind. Es geht weniger um die großen Handlungselemente, denn Regina seziert vor allem die Lebensentscheidungen ihrer Töchter, wobei sie sich selbst von jeder Verantwortung freizumachen versucht. Die Geschichte ist weder plakativ noch vordergründig feministisch, am Ende stellt sich aber trotzdem u.a. die große Frage, warum Frauen es einander so schwer machen müssen. Die Geschichte der Töchter berührt, lässt die eine oder andere Leserin möglicherweise auch selbst erlebte Muster wiedererkennen und sich fragen, wie man selbst als Mutter agiert. Mich hat das Buch sehr gefesselt, nicht aufgrund einer extrem spannenden Handlung, sondern mit der Frage, ob und wie es den Töchtern gelingt, ihr eigenes Leben zu führen. Emotional hat es mich voll abgeholt und bis zum Ende in einen wahren Gefühlsstrudel geworfen.

Bewertung vom 27.12.2024
Das Comeback
Berman, Ella

Das Comeback


ausgezeichnet

Das Leben eines Teeniestars in Hollywoods Haifischbecken

Mit 13 Jahren wird Grace Turner zum Teeniestar. Am Vorabend der Golden Globes floh sie aus Hollywood. Es hätte ihr großer Abend werden und ihr Topangebote sichern können. Nun ist sie nach einem Jahr zurück und die Klatschzeitungen überschlagen sich. Grace versucht, wieder Fuß zu fassen, doch jeder kleinste Fehltritt, jedes ungepflegte Auftreten findet sich sofort auf den Titelblättern. Doch für Grace gibt es eigentlich nur ein Thema: Able Yorke. Der Mann, dem sie nun einen Preis übergeben und die Laudatio halten soll. Der Mann, der sie von ihrer Familie isoliert und ihr Leben kontrolliert hat, ohne den sie in Hollywood nie einen Fuß auf den Boden bekommen hat. Und der sie völlig zerstört hat.

Schnörkel- und schonungslos erzählt Ella Berman von den Machtstrukturen in Hollywood und den Auswirkungen auf junge Frauen. Zeitweise fand ich die Atmosphäre mehr als bedrückend und Graces unüberlegte Handlungen wenig nachvollziehbar. Hier war es hilfreich, einen Schritt zurück zu machen und nicht zu theoretisieren, dass man selbst in einer solchen Situation ganz anders handeln würde, denn Grace ist Opfer von (psychischem) Missbrauch schon von Jugend an. Mit 13 Jahren ist sie allein in der Weltmetropole L.A. einem 40jährigen Mann ausgeliefert, der ihre Karriere befeuern oder beenden kann, während ihre Familie in England weit weg ist. Vieles wird nicht explizit dargestellt, sondern erfordert eine längere Auseinandersetzung mit dem Buch. So wird Graces Verhalten bei längerem Nachdenken deutlich nachvollziehbarer, wenn man das Verhalten ihres Umfelds kennenlernt: eine Mutter, die selbst Model war, aber ihre Tochter nicht vor dem Business warnt; ein Ehemann, der lieber nicht hinhört und eine Freundin, die sie vor allem mit Drogen und Alkohol versorgt. Grace wird gegaslighted und ihre Probleme als "Hysterie" wahrgenommen. Freunde hat sie in diesem Umfeld kaum.
Im Nachwort erklärt die Autorin, dass während ihrer Arbeit am Buch die Enthüllungen zu #metoo öffentlich wurden. Sie hat sich dennoch entschieden, Graces Geschichte vor diesen Zeitpunkt zu legen. So wird eindringlich deutlich, wie allein Grace mit der Situation und ihren Zweifeln ist. Niemand hilft ihr, ihre Erfahrungen einzuordnen. So ergibt ihr Verhalten auch für sie selbst erst spät Sinn. Parallelen zu Brittney Spears sind kaum zu übersehen. Und nicht zuletzt zeigen die aktuellsten Medienberichte zur Schmierkampagne über Blake Lively, was passiert, wenn Frauen männliches Fehlverhalten ansprangern.

Ein fiktiver Roman lebt natürlich von einer Handlung, die - oft linear - voranschreitet. Bei "Das Comeback" hat man manchmal das Gefühl, sich eher im Kreis zu drehen. Und dennoch hat mich der Roman am Ende zutiefst berührt. Es wird deutlich, dass Grace kaum anders handeln kann. Dass sie zutiefst zerstört ist. Dass sie traumatisiert ist. Und wie sehr sich ihr Umfeld dadurch belastet fühlt, ohne nach den Gründen suchen zu wollen.

Bewertung vom 24.11.2024
La Louisiane
Malye, Julia

La Louisiane


sehr gut

Frauenschicksale im Sumpf von Louisiana

Paris, 1720: Die Salpetrière ist Endstation für viele der Frauen dort. Wer nicht in die Gesellschaft passt, findet sich in dieser kleinen Stadt innerhalb der Stadt wieder, bestehend aus psychiatrischer Anstalt, Gefängnis, Waisenhaus. Für Charlotte, Étiennette, Pétronille, und Geneviève ist die einzige Möglichkeit, irgendwie in die Gesellschaft zurückzukehren, sich “freiwillig” als Braut für einen der Siedler in der neuen Kolonie La Louisiane am anderen Ende der Welt zu melden. Nach einer beschwerlichen und gefährlichen Überfahrt müssen die Frauen jedoch zu ihrem Erschrecken feststellen, dass La Lousiane wenig mehr als ein Sumpf ist. Die Gegend ist feucht, heiß und wird oft von Stürmen heimgesucht. Die vier Frauen, deren Leben wir in einzelnen Handlungssträngen verfolgen, haben mal mehr, mal weniger Glück mit den Männern. Thematisch findet sich hier alles von zarter Liebe, über fremdgehende Ehemänner bis hin zu häuslicher Gewalt und Missbrauch. Im Zentrum steht aber vor allem die Freundschaft und teilweise zärtliche Liebe der Frauen untereinander, die sich das Leben gegenseitig deutlich erleichtern könnten, es sich aber oft schwerer machen. Hinzu kommen zunehmende Konflikte mit den Indigenen sowie der beginnende Sklavenhandel.

Die Autorin hat hier ein wahres Sittengemälde der damaligen Zeit geschaffen. Die Geschichte ist sehr komplex, umfasst eine Fülle an Figuren und Eindrücken und gibt verschiedenen Perspektiven Raum. So bekommt man beispielsweise Einblick in das Leben, die Kultur und die zunehmende Verdrängung der Indigenen. Ebenso wird das Schicksal der ersten Sklav:innen beleuchtet. Und auch das Schicksal der Frauen ist stark von den männlichen Siedlern abhängig. Das alles war sehr eindrücklich und berührend und hat für mich ab der Hälfte des Buches einen ziemlichen Sog entwickelt. Am Anfang bin ich jedoch nicht gut ins Buch gekommen. Die Autorin erzählt geradezu in Bildern. Dementsprechend sind einzelne Szenen sehr detailliert, die Übergänge aber teilweise so skizzenhaft, dass ich den Wechseln nicht immer folgen konnte. Der Erzählstil bekam dadurch für mich etwas sehr Sprunghaftes. Auch sprachlich wirkte er immer wieder sperrig. Dennoch hat mich das Buch mit seiner Handlung und seinen Perspektiven am Ende berührt und mir die Tragik dieser historischen Entwicklungen für die verschiedenen Menschengruppen vor Augen geführt. Auch die Schicksale der verschiedenen Frauen, die aus völlig unterschiedlichen Kulturen kommen, aber am Ende doch immer die Leidtragenden sind, haben sehr nachdenklich gestimmt.

Bewertung vom 24.11.2024
In den Wald
Vaglio Tanet, Maddalena

In den Wald


sehr gut

Geschichte einer sich aufopfernden Lehrerin

An dem Tag, als der Tod ihrer Lieblingsschülerin bekannt wird, erscheint die Lehrerin Silvia nicht in der Schule. Während sie im Wald verschwindet, suchen die Menschen von Biella nach ihr. Aber Silvia, geplagt von Schuldgefühlen, will nicht gefunden werden. Doch dann steht plötzlich ein Schüler ihrer Schule vor ihr und wird durch seine Entdeckung in ein Dilemma gestürzt. Soll er die Suchenden zur Lehrerin führen oder ihren Aufenthaltsort für sich behalten? Je länger Silvia verschwunden bleibt, desto schwieriger wird der Zwiespalt. Währenddessen driftet Silvia immer weiter in ihre Erinnerungen ab.

"In den Wald" erinnert an Elena Ferrantes Figuren der italienischen Mittel- und Unterschicht. Hier befinden wir uns in den 70er Jahren in der Region Piemont. Die ziemlich archaisch anmutende Gesellschaft wirkt wie aus der Zeit gefallen. Während in den Metropolen der Welt die Moderne um sich greift, kämpfen die Einwohner:innen des Piemonts mit den wirtschaftlichen Veränderungen und der Notwendigkeit, vom Viehtrieb in den Bergen zur Fabrikarbeit in den umliegenden Städten zu wechseln. Gerade die Männer scheinen mit ihrer Veränderung zu hadern und nicht wenige lassen das an ihrer Familie aus, was auch Silvias Lieblingsschülerin zu spüren bekommt. In diesem Roman wird den verschiedenen Familiengeschichten und -konstellationen nachgespürt. Die Gemeinschaft bestimmt immer noch über den Platz der einzelnen Personen. So geben sich die Bewohner:innen vordergründig besorgt um Silvia, doch schnell wird Silvia auch Unangepasstheit und Außenseitertum zugeschrieben und ihre Absichten bei den Kindern hinterfragt.

Vom Klappentext und der Ankündigung her hatte ich mir mehr Naturszenen erhofft. Während Silvia vor Trauer und Schock im Wald verwahrlost, rückt der Wald zwar immer näher, aber Silvia interagiert wenig mit ihm oder der Landschaft. Der Wald ist ihr Rückzugsort und Kulisse, aber wenig mehr. Im Zentrum steht das schwierige Leben in einer italienischen Kleinstadt in den 1970ern. Das ist weitestgehend interessant und einfühlsam aufbereitet und auch der Handlungsstrang, ob Silvia gefunden wird und ob der Schüler ihren Aufenthaltsort verraten wird, ist insgesamt spannend. Das Buch ist aber ganz klar deutlich mehr eine Milieustudie als ein Naturroman. Das sollte man vor dem Lesen wissen, dann eröffnet sich einem ein interessanter Einblick in eine Gemeinde, die mit den fortschreitenden Entwicklungen zu kämpfen hat und eine Lehrerin, die an ihrer Aufopferung für ihre Schüler:innen zu zerbrechen droht.

Bewertung vom 24.11.2024
Das große Spiel
Powers, Richard

Das große Spiel


ausgezeichnet

Eingängiger Roman über die Gefahren unserer Zeit

Evie Beualieu ist eine der ersten Meeresbiologinnen und eine der ersten mit Tauchgerät. Rafi Young ist ein schwarzamerikanischer Junge, dem seine Intelligenz Türen öffnet. Todd Keane ist Multimilliardär, der durch die Entwicklung eines sozialen Netzwerks reich geworden ist und den nun eine unheilbare Krankheit dahinrafft. Ina Aroita ist Halbinsulanerin und stammt von der polynesischen Insel Makatea. Ihrer aller Schicksale laufen auf der Insel Makatea zusammen, vor der Todds Firma die ersten schwimmenden Städte bauen will. Makatea soll als Basis für die Produktion und Zusammenfügung der Module fungieren. In einem Referendum wollen die knapp 90 Einwohner:innen Makateas darüber entscheiden.

"Das große Spiel" ist ein komplexes Gefüge aus vor allem menschlichen Beziehungen. Viel wird erzählt von Evie und ihrem Werdegang, ihrer Beziehung zum Ozean und der faszinierenden Unterwasserwelt. Eine noch tragendere Rolle spielt aber die Freundschaftsbeziehung zwischen Rafi und Todd. Beide lernen sich schon zu Schulzeiten kennen. Todd ist Kind reicher Eltern und dennoch mit dysfunktionalem Elternhaus. Rafi kommt aus noch schlechteren Verhältnissen. Beide liefern sich immer wieder erbitterte Kämpfe im Schach und später im chinesischen Spiel Go. Während Rafi seiner Leidenschaft für Literatur nachgeht, begeistert sich Todd für das Programmieren und ist an vorderster Front als das Internet aufkommt. Ina Aroita stößt im Studium dazu und mischt die Freundschaft gehörig auf. Auch wenn der Klappentext sich sehr auf die schwimmenden Städte fokussiert, sind diese letztlich nur eine Randnotiz, ein Auslöser für die Erzählungen von der Insel Makatea, die bereits einmal von anderen Ländern für Phosphor ausgebeutet und zerstört zurückgelassen wurde. Auch über die Geschichte dieser Insel erfährt man viel. Hat man sich jedoch auf eine dystopische Geschichte über das Leben in schwimmenden Städten gefreut, wird man enttäuscht werden.
Dennoch ist "Das große Spiel" ein sehr gelungenes Buch. Der Schreibstil ist flüssig und einfühlsam. Gerade in die Unterwasserwelt kann man sehr tief eintauchen, alles wirkt greifbar und überaus gut recherchiert. Die Freundschaftsgeschichte von Todd und Rafi hat die ein oder andere Länge, ist aber dennoch weitestgehend fesselnd, weil man verfolgt, wie auch die technischen Entwicklungen die Freundschaft beeinflusst, wenn der eine sagt, eine Maschine könne niemals so gut werden, um einen Menschen in Go zu schlagen, und der andere alles daran setzt, genau diese Maschine zu erfinden. Und nicht zuletzt erlebt man ein starkes Mitfühlen mit einer Insel und ihrer Gemeinschaft, die Traum aller Meeres- und Südseeenthusiast:innen ist, aber von der Welt asugenutzt und dann vergessen wurde, nur im jetzt wieder in den Mittelpunkt kapitalistischer Träume zu rücken.
Die Vielfalt der Themen lässt sich schwer zusammenfassen. Powers greift letztlich viele Probleme unserer Zeit auf und während vordergründig die zahlreichen ökologischen Probleme thematisiert werden, wird im Hintergrund die Gefahr durch Künstliche Intelligenz immer greifbarer. Die Interpretation dieses Buches ist sehr individuell und auf vielen Ebenen möglich. Schon allein der Vielzahl der Meinungen im deutschen und englischen Feuilleton macht deutlich, dass jede Person, die dieses Buch gelesen hat, den Schwerpunkt anders legt. Und das finde ich die größte Überraschung an diesem sehr gelungenen und eingängigen Buch.