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anushka

Bewertungen

Insgesamt 149 Bewertungen
Bewertung vom 24.11.2024
La Louisiane
Malye, Julia

La Louisiane


sehr gut

Frauenschicksale im Sumpf von Louisiana

Paris, 1720: Die Salpetrière ist Endstation für viele der Frauen dort. Wer nicht in die Gesellschaft passt, findet sich in dieser kleinen Stadt innerhalb der Stadt wieder, bestehend aus psychiatrischer Anstalt, Gefängnis, Waisenhaus. Für Charlotte, Étiennette, Pétronille, und Geneviève ist die einzige Möglichkeit, irgendwie in die Gesellschaft zurückzukehren, sich “freiwillig” als Braut für einen der Siedler in der neuen Kolonie La Louisiane am anderen Ende der Welt zu melden. Nach einer beschwerlichen und gefährlichen Überfahrt müssen die Frauen jedoch zu ihrem Erschrecken feststellen, dass La Lousiane wenig mehr als ein Sumpf ist. Die Gegend ist feucht, heiß und wird oft von Stürmen heimgesucht. Die vier Frauen, deren Leben wir in einzelnen Handlungssträngen verfolgen, haben mal mehr, mal weniger Glück mit den Männern. Thematisch findet sich hier alles von zarter Liebe, über fremdgehende Ehemänner bis hin zu häuslicher Gewalt und Missbrauch. Im Zentrum steht aber vor allem die Freundschaft und teilweise zärtliche Liebe der Frauen untereinander, die sich das Leben gegenseitig deutlich erleichtern könnten, es sich aber oft schwerer machen. Hinzu kommen zunehmende Konflikte mit den Indigenen sowie der beginnende Sklavenhandel.

Die Autorin hat hier ein wahres Sittengemälde der damaligen Zeit geschaffen. Die Geschichte ist sehr komplex, umfasst eine Fülle an Figuren und Eindrücken und gibt verschiedenen Perspektiven Raum. So bekommt man beispielsweise Einblick in das Leben, die Kultur und die zunehmende Verdrängung der Indigenen. Ebenso wird das Schicksal der ersten Sklav:innen beleuchtet. Und auch das Schicksal der Frauen ist stark von den männlichen Siedlern abhängig. Das alles war sehr eindrücklich und berührend und hat für mich ab der Hälfte des Buches einen ziemlichen Sog entwickelt. Am Anfang bin ich jedoch nicht gut ins Buch gekommen. Die Autorin erzählt geradezu in Bildern. Dementsprechend sind einzelne Szenen sehr detailliert, die Übergänge aber teilweise so skizzenhaft, dass ich den Wechseln nicht immer folgen konnte. Der Erzählstil bekam dadurch für mich etwas sehr Sprunghaftes. Auch sprachlich wirkte er immer wieder sperrig. Dennoch hat mich das Buch mit seiner Handlung und seinen Perspektiven am Ende berührt und mir die Tragik dieser historischen Entwicklungen für die verschiedenen Menschengruppen vor Augen geführt. Auch die Schicksale der verschiedenen Frauen, die aus völlig unterschiedlichen Kulturen kommen, aber am Ende doch immer die Leidtragenden sind, haben sehr nachdenklich gestimmt.

Bewertung vom 24.11.2024
In den Wald
Vaglio Tanet, Maddalena

In den Wald


sehr gut

Geschichte einer sich aufopfernden Lehrerin

An dem Tag, als der Tod ihrer Lieblingsschülerin bekannt wird, erscheint die Lehrerin Silvia nicht in der Schule. Während sie im Wald verschwindet, suchen die Menschen von Biella nach ihr. Aber Silvia, geplagt von Schuldgefühlen, will nicht gefunden werden. Doch dann steht plötzlich ein Schüler ihrer Schule vor ihr und wird durch seine Entdeckung in ein Dilemma gestürzt. Soll er die Suchenden zur Lehrerin führen oder ihren Aufenthaltsort für sich behalten? Je länger Silvia verschwunden bleibt, desto schwieriger wird der Zwiespalt. Währenddessen driftet Silvia immer weiter in ihre Erinnerungen ab.

"In den Wald" erinnert an Elena Ferrantes Figuren der italienischen Mittel- und Unterschicht. Hier befinden wir uns in den 70er Jahren in der Region Piemont. Die ziemlich archaisch anmutende Gesellschaft wirkt wie aus der Zeit gefallen. Während in den Metropolen der Welt die Moderne um sich greift, kämpfen die Einwohner:innen des Piemonts mit den wirtschaftlichen Veränderungen und der Notwendigkeit, vom Viehtrieb in den Bergen zur Fabrikarbeit in den umliegenden Städten zu wechseln. Gerade die Männer scheinen mit ihrer Veränderung zu hadern und nicht wenige lassen das an ihrer Familie aus, was auch Silvias Lieblingsschülerin zu spüren bekommt. In diesem Roman wird den verschiedenen Familiengeschichten und -konstellationen nachgespürt. Die Gemeinschaft bestimmt immer noch über den Platz der einzelnen Personen. So geben sich die Bewohner:innen vordergründig besorgt um Silvia, doch schnell wird Silvia auch Unangepasstheit und Außenseitertum zugeschrieben und ihre Absichten bei den Kindern hinterfragt.

Vom Klappentext und der Ankündigung her hatte ich mir mehr Naturszenen erhofft. Während Silvia vor Trauer und Schock im Wald verwahrlost, rückt der Wald zwar immer näher, aber Silvia interagiert wenig mit ihm oder der Landschaft. Der Wald ist ihr Rückzugsort und Kulisse, aber wenig mehr. Im Zentrum steht das schwierige Leben in einer italienischen Kleinstadt in den 1970ern. Das ist weitestgehend interessant und einfühlsam aufbereitet und auch der Handlungsstrang, ob Silvia gefunden wird und ob der Schüler ihren Aufenthaltsort verraten wird, ist insgesamt spannend. Das Buch ist aber ganz klar deutlich mehr eine Milieustudie als ein Naturroman. Das sollte man vor dem Lesen wissen, dann eröffnet sich einem ein interessanter Einblick in eine Gemeinde, die mit den fortschreitenden Entwicklungen zu kämpfen hat und eine Lehrerin, die an ihrer Aufopferung für ihre Schüler:innen zu zerbrechen droht.

Bewertung vom 24.11.2024
Das große Spiel
Powers, Richard

Das große Spiel


ausgezeichnet

Eingängiger Roman über die Gefahren unserer Zeit

Evie Beualieu ist eine der ersten Meeresbiologinnen und eine der ersten mit Tauchgerät. Rafi Young ist ein schwarzamerikanischer Junge, dem seine Intelligenz Türen öffnet. Todd Keane ist Multimilliardär, der durch die Entwicklung eines sozialen Netzwerks reich geworden ist und den nun eine unheilbare Krankheit dahinrafft. Ina Aroita ist Halbinsulanerin und stammt von der polynesischen Insel Makatea. Ihrer aller Schicksale laufen auf der Insel Makatea zusammen, vor der Todds Firma die ersten schwimmenden Städte bauen will. Makatea soll als Basis für die Produktion und Zusammenfügung der Module fungieren. In einem Referendum wollen die knapp 90 Einwohner:innen Makateas darüber entscheiden.

"Das große Spiel" ist ein komplexes Gefüge aus vor allem menschlichen Beziehungen. Viel wird erzählt von Evie und ihrem Werdegang, ihrer Beziehung zum Ozean und der faszinierenden Unterwasserwelt. Eine noch tragendere Rolle spielt aber die Freundschaftsbeziehung zwischen Rafi und Todd. Beide lernen sich schon zu Schulzeiten kennen. Todd ist Kind reicher Eltern und dennoch mit dysfunktionalem Elternhaus. Rafi kommt aus noch schlechteren Verhältnissen. Beide liefern sich immer wieder erbitterte Kämpfe im Schach und später im chinesischen Spiel Go. Während Rafi seiner Leidenschaft für Literatur nachgeht, begeistert sich Todd für das Programmieren und ist an vorderster Front als das Internet aufkommt. Ina Aroita stößt im Studium dazu und mischt die Freundschaft gehörig auf. Auch wenn der Klappentext sich sehr auf die schwimmenden Städte fokussiert, sind diese letztlich nur eine Randnotiz, ein Auslöser für die Erzählungen von der Insel Makatea, die bereits einmal von anderen Ländern für Phosphor ausgebeutet und zerstört zurückgelassen wurde. Auch über die Geschichte dieser Insel erfährt man viel. Hat man sich jedoch auf eine dystopische Geschichte über das Leben in schwimmenden Städten gefreut, wird man enttäuscht werden.
Dennoch ist "Das große Spiel" ein sehr gelungenes Buch. Der Schreibstil ist flüssig und einfühlsam. Gerade in die Unterwasserwelt kann man sehr tief eintauchen, alles wirkt greifbar und überaus gut recherchiert. Die Freundschaftsgeschichte von Todd und Rafi hat die ein oder andere Länge, ist aber dennoch weitestgehend fesselnd, weil man verfolgt, wie auch die technischen Entwicklungen die Freundschaft beeinflusst, wenn der eine sagt, eine Maschine könne niemals so gut werden, um einen Menschen in Go zu schlagen, und der andere alles daran setzt, genau diese Maschine zu erfinden. Und nicht zuletzt erlebt man ein starkes Mitfühlen mit einer Insel und ihrer Gemeinschaft, die Traum aller Meeres- und Südseeenthusiast:innen ist, aber von der Welt asugenutzt und dann vergessen wurde, nur im jetzt wieder in den Mittelpunkt kapitalistischer Träume zu rücken.
Die Vielfalt der Themen lässt sich schwer zusammenfassen. Powers greift letztlich viele Probleme unserer Zeit auf und während vordergründig die zahlreichen ökologischen Probleme thematisiert werden, wird im Hintergrund die Gefahr durch Künstliche Intelligenz immer greifbarer. Die Interpretation dieses Buches ist sehr individuell und auf vielen Ebenen möglich. Schon allein der Vielzahl der Meinungen im deutschen und englischen Feuilleton macht deutlich, dass jede Person, die dieses Buch gelesen hat, den Schwerpunkt anders legt. Und das finde ich die größte Überraschung an diesem sehr gelungenen und eingängigen Buch.

Bewertung vom 24.09.2024
Ich komme nicht zurück
Khayat, Rasha

Ich komme nicht zurück


sehr gut

Freundschaftsroman mit Sprachgenuss

Hanna, Cem und Zeyna wachsen Ende der 1980er in einer Arbeitersiedlung im Ruhrgebiet auf. Zeyna ist gerade aus dem Iran angekommen, Cem hat türkische Wurzeln und Hanna wächst bei ihren Großeltern auf. Die drei werden unzertrennlich und sind es auch bis ins Erwachsenenalter, bis plötzlich etwas passiert, das Zeyna davon treibt.
Jetzt ist Hanna um die 40 und aus der Großstadt zurückgekehrt in das Haus ihrer Großeltern nach deren Tod. Hanna ist einsam: Es ist die Hochphase der Pandemie, es herrscht Kontaktverbot und die Menschen halten Abstand zueinander. Immer wieder sieht Hanna Frauen, die aussehen wie Zeyna und sie erinnert sich zurück. An die Kindheit mit ihren beiden engsten Freund:innen, aber auch an Eifersucht, Verlust, Identitätssuche und Wahlfamilie. Sie erinnert sich auch an die ersten Risse nach dem Brandanschlag von Mölln. Zeyna entwickelte Wut, und Zeynas und Cems Familien bekamen Angst, beide erzählen von der Erkenntnis "Dass keiner uns hier haben will.". Hanna kann nur von der Seite zuschauen, denn "Aber es hat dich nie betroffen, Nicht so wie uns.".

Dieser Roman ist sprachlich als auch handlungstechnisch sehr eingängig. Gerade die einschneidenden Geschehnisse wie der Brandanschlag von Mölln und der Einsturz des World Trade Centers werden eindrücklich in ihrer Wirkung auf Hanna, Cem und Zeyna dargestellt. Da ist die blitzlichthafte Schilderung des Einsturzes, Aber auch zahlreiche Formulierungen haben mich das Buch trotz seiner bedrückenden Thematik sehr genießen lassen. Hier wird eine Kinderfreundschaft und deren Transformation ins Erwachsenenalter mit gesellschaftlichen Veränderungen verknüpft und das Bewusstsein für unterschiedliche Lebensrealitäten geschärft. So sehr Hanna sich an diese Freundschaft klammert, wird sie doch immer wieder damit konfrontiert, dass das Leben von Cem und Zeyna nicht annähernd so sorglos ist und sie deren Erfahrungen niemals wirklich nachempfinden können wird, denn "dich hat es nie betroffen, Nicht so wie uns.". Dieses recht dünne Buch vermag emotional so einiges zu transportieren. Und dennoch hatte ich auch den Eindruck, dass die Geschichte selbst manchmal etwas dünn ist. Die schlussendliche Auflösung dessen, was Zeyna weggetrieben hat, ist ein eher altes Schema und wollte für mich nicht so richtig zum Rest passen. Emotional war es nicht immer einfach, sich mit Hanna zu identifizieren, die mit wenig Antrieb vor allem der Vergangenheit anhängt und ihr Umfeld oft kritisch und mitunter abwertend betrachtet. Insgesamt konnte mich diese poetische Freundschaftsgeschichte jedoch weitestgehend überzeugen und emotional berühren und gleichzeitig einige Punkte aufzeigen, die das Leben und die Identität von Kindern, deren Familien eine Migrationsgeschichte haben, berühren.

Bewertung vom 24.09.2024
Nach uns der Sturm
Chan, Vanessa

Nach uns der Sturm


gut

Interessanter Roman über die malayische Geschichte, der mich emotional nicht erreicht hat

1935, Kuala Lumpur, britisch besetzes Malaya: Cecily ist mit Gordon, einem Verwaltungsbeamten in der britischen Besatzungsverwaltung, verheiratet und hat zwei Kinder. Durch ihre gemischte portugiesisch-malaysische Abstammung haben sie eine helleres Erscheinungsbild als ihre Mitmenschen und werden so von der britischen Gesellschaft auf ihren Anlässen eher geduldet und haben leichteren Zugang zu verschiedenen Privilegien als ihre Landsmenschen. Als Cecily auf einem dieser Anlässe Bingley Chan kennenlernt, verändert sich ihr langweiliges Hausfrauendasein schlagartig. Gemeinsam arbeiten sie daran, die lästige britische Herrschaft loszuwerden und endlich zu einem selbstbestimmten Asien zurückzufinden. Zehn Jahre später ist von Cecilys Tatendrang wenig übrig. Malaya leidet nun massiv unter der japanischen Kolonialisierung. Der 15-jährige Sohn ist verschwunden, die älteste Tochter wird zunehmend wütender und die jüngste Tochter wird im Keller versteckt, um nicht als Trostfrau in einem der japanischen Bordelle zu landen. Cecily fühlt sich schuldig und ihre Familie darf nie erfahren, warum.

Der vorliegende Roman greift wie viele andere die Epoche des Zweiten Weltkriegs auf, widmet sich aber einmal einer völlig anderen geographischen Region und beleuchtet das Schicksal damaliger europäischer Kolonien und deren Einwohner. Die politischen Entwicklungen und Auswirkungen werden gut verständlich dargestellt. Interessant sind auch die kulturellen Regeln und Verhaltensweisen. Mit der Geschichte um Cecilys Familie werden viele Themen berührt und verschiedene Schicksale beispielhaft nachgezeichnet. Emotional konnte mich die Geschichte trotz der vielen Schicksalsschläge und Tragödien nicht wirklich erreichen. Keine einzelne der Figuren bot Identifikationspotential oder wirkte durchweg sympathisch. Am bemitleidenswertesten wirkte noch der Sohn, doch etliche Gewaltszenen machten auch hier ein dauerhaftes Mitfühlen unmöglich. Die Hoffungs- und Trostlosigkeit mag realistisch sein, gerade unter dem Aspekt, dass der Wechsel der Kolonialmacht die Situation für die Einwohner noch deutlich schlimmer machte, Dennoch hat mich die düstere Stimmung, die sich durch die Geschichte zog, ziemlich heruntergezogen. Zwischenzeitlich war mir die Leselust völlig abhandengekommen und ich habe das Buch tagelang beiseite gelegt. Auch wenn der Roman einen sehr interessanten Aspekt der Weltgeschichte behandelt, die Zerstörung einer ganzen Familie intensiv behandelt und die Folgen von Imperialismus aufzeigt, könnte mich die Geschichte dennoch emotional nicht wirklich erreichen. Auch wenn die Perspektiven gut konstruiert waren, und zwischen den Zeiten und Familienmitgliedern wechselten, waren mir die Figuren zu holzschnittartig, um intensiv mit ihnen mitzufühlen.

Bewertung vom 28.08.2024
Kleine Monster
Lind, Jessica

Kleine Monster


sehr gut

Als "Kleines Monster" geboren oder zum "Kleinen Monster" gemacht?

Pia und Jakob werden zum Elterngespräch zitiert. Es habe einen Vorfall mit einem Mädchen gegeben und ihr Sohn Luca soll der Schuldige sein. Pia kann es nicht glauben, während Jakob keinen Zweifel hegt, die Sache aber scheinbar auch recht schnell abhaken kann. Pia hingegen ist verzweifelt, weil das Kind nicht reden will, dabei braucht sie doch so dringend eine andere Perspektive auf das Geschehene. Dann merkt Pia, dass sie direkt aus der WhatsApp Gruppe ausgeschlossen worden sind, damit die anderen Eltern hinter ihrem Rücken über sie reden können. Sie fühlt sich wie eine Ausgestoßene und gleichzeitig misstrauisch beäugt ... so wie damals.

Das ominöse Vergehen Lucas, das bis zum Ende des Buches für die Lesenden nie ausgesprochen wird, triggert in Pia die Erinnerungen an die eigene Kindheit. Ein Trauma, das durch den Tod der kleinen Schwester zurückgeblieben ist und durch das Schweigen der Eltern nie aufgearbeitet wurde. Und auch hier kämpft Pia vor allem mit der Ungewissheit. Diejenige, die nicht bei dem Vorfall dabei war, und so niemals Gewissheit darüber haben wird, was eigentlich genau passiert ist. Sie rollt das Misstrauen gegenüber der mittleren Schwester Romi auf, die eigentlich ja gar nicht so richtig zur Familie gehört, so als Adoptivkind. Sie beleuchtet Szenen von davor und danach, die ihr Bild zu bestätigen scheinen, dass Kinder grausam sein können. Stück für Stück rollt sie dabei aber auch eine dysfunktionale Familiendynamik auf, die jetzt auf ihr eigenes Erzeihungsverhalten überzuschwappen und die Beziehung zu ihrem eigenen Kind zu zerstören droht. Die Beklemmung greift beim Lesen regelrecht über und man möchte geradezu eingreifen, wenn Pia wieder in ihr Misstrauen gegenüber ihrem eigenen 7-jährigen Kind abgleitet und mit Argusaugen nach verräterischen Anzeichen Ausschau hält. Können Kinder von Natur aus böse sein? Sie vermeint, Ähnlichkeiten zwischen Luca und Romi zu erkennen und hat nicht ihre eigene Mutter immer wieder Romi für den Tod der kleinen Schwester bestraft? Das muss doch gerechtfertigt gewesen sein? Wie Pia dieses Verhalten ihrer Mutter zunehmend an ihrem eigenen Kind nachahmt, ist beim Lesen schwer erträglich. Die Geschichte beginnt als alltägliche Familiengeschichte und wird zunehmend düsterer und beklemmender. Die Wirkung transgenerationaler Traumata ist sehr eingängig nachgezeichnet. Ich schwanke allerdings, ob mich Lucas Vergehen als Auslöser komplett überzeugt. Zumindest die Eskalation der Handlung erschien mir am Ende etwas übertrieben und nicht ganz realistisch. Insgesamt ist die Geschichte aber atmosphärisch, sprachlich überzeugend und anschaulich und die Problematik mit psychologischem Tiefgang und Feingefühl erzählt.

Bewertung vom 28.08.2024
Am Himmel die Flüsse
Shafak, Elif

Am Himmel die Flüsse


ausgezeichnet

Ein exquisit gewobenes Märchen von Flüssen und Menschen

Was verbindet einen brutalen Herrscher des blühenden Mesopotamiens des 7. Jahrhunderts vor Christus mit einem armen britischen Jungen an der Themse im Jahr 1840, einem neunjährigen ezidischen Mädchen am Tigris im Jahr 2014 und einer Hydrologin in London im Jahr 2018? Sie alle verbindet ein einzelner Wassertropfen, immer derselbe, der vom Himmel fällt, irgendwann, manchmal Jahrzehnte später, verdunstet und wieder zur Erde fällt. Kann er sich erinnern an die Schicksale, die er bezeugt hat? Hat Wasser ein Gedächtnis?

Zumindest hat Wasser eine Bedeutung und noch dazu eine große und vielfältige. In diesem mitreißenden Roman, der die Lebensgeschichten des Jungen Arthur, des Mädchens Narin, der jungen Frau Zaleekha und des alten Mesopotamiens miteinander verwebt, spielen vor allem Flüsse eine zentrale Bedeutung. Aus James' Perspektive erleben wir eine Themse, die durch menschliche Abfälle regelrecht lebensfeindlich geworden ist. Aus Narins Sicht verfolgen wir mit, wie durch die Stauung des Tigris die historische Stadt Hasankeyf und mit ihr die Geschichte eines Volkes untergeht. Und von Zaleekha erfahren wir, dass in den Städten Europas vergessene Flüsse existieren, über die einfach darübergebaut oder die eingemauert wurden. Und doch ist dieses Buch mehr als die Geschichte von Flüssen, auch wenn diese eine zentrale Rolle einnehmen. Denn ein weiteres zentrales Thema kristallisiert sich beim Lesen bald heraus: die Geschichte der Eziden und ihrer Verfolgung. Schon Arthur wird in den 1870ern auf seinen Reisen zum antiken Castrum Kefa, wo er auf der Suche nach verschollenen Stücken des Gilgamesch-Epos' ist, vor den "Teufelsanbetenden" gewarnt, die in dieser Region leben sollen. Mehr als zwei Jahrhunderte später vernimmt Narin diese Schmähung am Ufer des Tigris. Wenige Wochen später findet sie sich im Sindschar-Gebirge wieder, umzingelt von IS-Anhängern. Wenige Jahre später hadert Zaleekha mit ihrer eigenen Herkunft aus dieser Gegend und hat ein zwiegespaltenes Verhältnis zu Wasser.

Es fällt nicht leicht, dieses Buch zu beschreiben. Es ist ein exquisit gewobenes und verwobenes Märchen aus unterschiedlichen Handlungssträngen, die zunächst wenig miteinander verbunden scheinen. Und doch ist jede Geschichte für sich selbst fesselnd und emotional anrührend. Auf den ersten Seiten habe ich zwar mit dem Buch noch gefremdelt, da die Abschnitte jeweils recht kurz sind und ich zunächst nicht in die einzelnen Geschichte gefunden habe. Danach konnte aber auch mich der Strom mitreißen, das erzählerische Geschick ergreifen und die Handlung absolut überzeugen. Shafak hat eine Erzählung geschaffen, die einem beim Lesen so vieles gibt und gleichzeitig ohne erhobenen Zeigefinger auf die verzweifelte Lage einer Minderheit aufmerksam macht, die auf eine unglaublich lange Geschichte zurückblicken kann. Dieses Buch ist meiner Meinung nach ein Meisterwerk, sowohl inhaltlich als auch stilistisch, das die Vergänglichkeit der Menschheit und der Erinnerung grandios herausstellt.

Bewertung vom 25.07.2024
Unter dem Moor
Weber, Tanja

Unter dem Moor


sehr gut

Frauenschicksale über die Zeit hinweg, atmosphärisch, aber nicht immer spannend

Nina braucht eine Auszeit. Die Stelle als Assistenzärztin hat sie völlig ausgebrannt. Aus einem Impuls heraus schafft sie sich einen Hund an und mietet für 4 Wochen eine Ferienhütte im Stettiner Haff. Bei einem Waldspaziergang gräbt der Hund menschliche Knochen aus und Nina beginnt, ihre Umgebung mit anderen Augen zu sehen.
1979 lebt Siggi mit ihrem Mann und ihrem Sohn im Säuglingsalter im Stettiner Haff. Es ist die Zeit der DDR. Hat sich Siggi bislang nicht viel dabei gedacht und sich immer wieder angepasst, beginnt sie nun mit einer Freundin gemeinsam kleine Freiheiten zu genießen, die sie das politische System in Frage stellen lassen.
1936 wird die 14jährige Gine zum Landjahr ins Stettiner Haff geschickt. Das ist nicht etwa eine Belohnung, denn Gine wird wegen ihrer künstlerischen Eltern zur Umerziehung geschickt. Trotz seiner schönen Natur hält das Haff viel Dunkles für Gine bereit.

"Unter dem Moor" verbindet die Geschichten dreier Frauen über verschiedene Zeiten und Gesellschaftssysteme hinweg. Dabei begehren alle in der ein oder anderen Form gegen ihre Lebensumstände auf. Relativ schnell baut der Erzählstil eine eher düstere Atmosphäre auf und die Autorin weiß durch Details wie ein Tellereisen und das Zucken eines Hundeohrs eine bedrohliche Stimmung aufzubauen. Die Naturbeschreibungen entschleunigen, aber tragen auch gut zur Atmosphäre von Ninas Handlungsstrang bei. Erst nach und nach zeigen sich die Zusammenhänge, die man zwischenzeitlich vielleicht anders angenommen hat. Hier zeigt sich, wie Menschen und Schicksale über die Zeit hinweg verbunden sein können. Auch wenn der Stil atmosphärisch und bildhaft ist, die Geschichten auf den einzelnen Zeitebenen interessant und die Verknüpfungen gut gelungen sind, hat mich das Tempo nicht immer bei der Stange halten können. Die Figuren sind gut ausgearbeitet und vielschichtig, mir hat es aber wiederholt an Spannung gefehlt. Bei "Unter dem Moor" handelt es sich entgegen meiner Erwartung weniger um einen Kriminalroman als vielmehr um einen belletristischen Roman.

Bewertung vom 25.07.2024
Cascadia
Phillips, Julia

Cascadia


gut

Roman mit mehreren Bedeutungsebenen und viel Interpretationsspielraum

Sam und Elena leben auf San Juan Island im Bundesstaat Washington, an der Grenze zu Kanada. Wo vor allem Besserverdienende ihren Urlaub machen, bieten sich für die Schwestern abseits des Tourismus wenig Verdienstmöglichkeiten oder Zukunftsperspektiven. So arbeitet Sam auf einer Fähre und Elena im örtlichen Golfclub. Beide hängen auf der Insel fest, da sie seit über 10 Jahren die schwer kranke Mutter pflegen. Als Sam eines Abends beobachtet, wie ein Bär zu ihrer Insel schwimmt, ändert sich für die beiden Schwestern alles. Die eine Schwester entwickelt Furcht, die andere eine Obsession.

Ich bin mit großen Erwartungen an diesen Roman herangegangen. Ich mag natur- und tierbezogene Romane und war gespannt auf die Geschichte um diesen Bären. Das Buch ist jedoch so ganz anders. Es geht nicht wirklich um den Bären und seine Lebensweise, obwohl er in der Geschichte eine zentrale Rolle übernimmt. Der Bär ist aber vor allem Projektionsfläche für die innerfamiliären Konflikte. Für Elena stellt er einen Glücksbringer in ihren tristen Leben dar und verkörpert alles Gute, was den Schwestern von jetzt an passieren wird. Im Umgang mit dem Bären zeigt sich symbolisch der Umgang der Menschen mit der Wildness: entweder ein Versuch, aus einem wilden Tier ein Haustier zu machen oder eine übertriebene Angst und Verteufelung als Bestie und damit ein Zerstörungswunsch. Zwischen den Szenen der Familiengeschichte schimmert zudem einiges an Gesellschaftskritik durch an einer Gesellschaft, in der die Krankheit eines Familienmitglieds den finanziellen Ruin der gesamten Familie bedeutet. Sam und Elena müssen schon früh die finanzielle Versorgung übernehmen, sodass ihnen wenig Möglichkeiten bleiben, eine Ausbildung oder sogar ein Studium aufzunehmen. Stattdessen türmt sich der Schuldenberg immer höher, nicht zuletzt, weil durch die Coronapandemie der Tourismus zum erliegen kam. Nachdem die Geschichte lange Zeit vor sich hin dümpelt und die Natur- und Tierbeschreibungen eher oberfächlich bleiben (und mich dadurch auch nicht fesseln konnten), überschlagen sich am Ende die Ereignisse und man hat das Gefühl, an der ein oder anderen Stelle wesentliche Hinweise verpasst zu haben. Mein zwiegespaltenes Verhältnis zu diesem Buch stammt aber auch von den Figurbeschreibungen und -entwicklungen. Sam wird immer egoistischer und kindischer, dabei soll sie Ende zwanzig sein. Gleichzeitig ist sie sehr bedürftig und abhängig von ihrer Schwester. Elena hingegen hütet ihre eigenen Geheimnisse, die die Beziehung der Schwestern belasten. Letztlich war mir keine der Figuren wirklich sympathisch oder boten Identifikationsmöglichkeiten. "Cascadia" ist deutlich angelehnt an das Märchen "Schneeweißchen und Rosenrot", ist aber keine direkte Neuerzählung. Ich denke, dieses Buch ist sehr gut geeignet für Lesekreise, es bietet viele Szenen zum diskutieren und interpretieren, was hier nicht möglich ist, ohne zu spoilern.

Bewertung vom 11.07.2024
Meeresfriedhof / Die Falck Saga Bd.1
Nore, Aslak

Meeresfriedhof / Die Falck Saga Bd.1


sehr gut

Weniger Thriller, mehr Familienroman

Die Falcks sind keine harmonische Familie. Da gibt es den Zweig um Olav Falck, der sich in Norwegen ein Imperium aufgebaut hat. Und dann gibt es da den verarmten Familienzweig in Bergen um den humanistischen Arzt Hans Falck, der fast schon ein Engel der Verfolgten in Krisengebieten, vor allem im Nahen Osten, ist. Als Vera Falck, die Großmutter, stirbt, ist das Testament nicht auffindbar. Es gibt Gerüchte, dass sie es kurz vor ihrem Tod geändert habe. Könnte sie den Bergenser Familienzweig bedacht haben? Sasha wird von ihrem Vater Olav beauftragt, das Testament zu finden. Dabei kommt ans Licht, dass Vera, eine bekannte Schriftstellerin und Überlebende eines Schiffuntergangs, Jahrzehnte zuvor ihre Memoiren geschrieben hat, die jedoch vor der Veröffentlichung vom Staatsschutz beschlagnahmt wurden. Sasha ist entschlossen, die Wahrheit herauszufinden, selbst wenn sie sich dafür gegen ihren Vater auflehnen muss ...

Dieses Buch wird als literarischer Thriller ausgewiesen. Ich bin mir nicht sicher, was das sein soll. Für mich hat das Buch etwas zu wenig Spannung, um als Thriller durchzugehen. Es ist eher ein Familienroman, der weitere Elemente enthält. Neben der Lebensgeschichte von Vera, die im Zentrum steht, spielen auch der norwegische Geheimdienst und der ein oder andere Söldner eine Rolle. Außerdem ist die Familiengeschichte eng verbunden mit dem norwegischen Widerstand im Zweiten Weltkrieg. Auch wenn es nicht die Spannung eines Thrillers hatte, war das Buch dennoch fesselnd, mit der ein oder anderen Überraschung. Es wird eine Vielzahl an Themen aufgemacht, die dennoch recht gut zusammenpassen. Neben dem historisch belegten Untergang der Prinsesse Ragnhild geht es um Kollaboration mit und Widerstand gegen die Nazis im Zweiten Weltkrieg, Fremdkämpfer in Syrien und Kurdistan, aber auch die unbändige Macht und den uneingeschränkten Einfluss von Reichtum. All das verwebt sich zu einem Gesamtbild, wobei die Rolle einzelner Personen noch nicht ganz durchschaubar ist und dadurch offensichtlich noch Raum bleibt für die geplanten Fortsetzungen. Mich hat das Buch gut unterhalten und mit den Figuren ließ sich mitleiden und mitfiebern. Garniert wurde das Ganze mit Naturbeschreibungen der norwegischen Küste und der Lofoten. Das Buch ist auf jeden Fall eine Empfehlung für Norwegen-Fans, aber auch für Fans von Familiengeschichten mit historischen Bezügen. Ich bin ausreichend gespannt zu erfahren, wie es mit den Falcks weitergeht, um auch den nächsten Band lesen zu wollen.