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Benutzername: 
emha
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Schwäbisch Hall

Bewertungen

Bewertung vom 16.06.2024
Milchstraße
Andrash, Cora

Milchstraße


ausgezeichnet

Das Buch führt in schwierige Welten und Zeiten. Man kann es nicht immer am Stück lesen, zu bedrückend kommt es daher. Schon beim Lesen des Buch-Titels und vor allem des Untertitels wird der Leserin und dem Leser klar sein: Milchstraße ist kein Wohlfühlbuch. Hauptfigur des Romans ist „das Kind“ das dann plötzlich - man nimmt es beim Lesen erst gar nicht wahr - aus der Versächlichung herausfällt und zur Lisa wird. Wo passiert dies? Als Lisa auf Seite 123 das erste Mal zur Schule geht und der Lehrerin Ihren Namen sagen muss. Sie stellt sich mit Lissi vor und wird gleich belehrt: „Bei uns heißt du Lisa. Li-sa. Hast du das verstanden?“ Und das ist eines der Themen im Buch. Der Versuch des Verstehens des nicht-Verstehbaren. Und des gesagt-Bekommens, was (aus Sicht der jeweils Mächtigen, Ton-Angebenden) das Richtige ist.
Kindheitserinnerungen von Lisa sind in der romanhaften Biografie Lagererinnerungen aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg. Erinnerungen an Gakovo, einem Konzentrationslager für Deutschstämmige im damaligen Jugoslawien. Dort ist sie aufgewachsen als „Donauschwäbin“, als „Schwabiza“ im „Konzentrationslager für die arbeitsunfähigen Deutschen, vornehmlich aus der Mittel- und Westbatschka, ursprüngliche Einwohnerschaft von Gakowa: 2.700, durchschnittliche Anzahl der Lagerinsassen: 17.000, Bestandsdauer: 12. März 1945 bis Anfang Jänner 1948 = 33 Monate, Todesfälle: mindestens 8.500, Todesursachen: Unterernährung, Typhus, Ruhr, Malaria.“ (Nachzulesen bei donauschwaben.at, Stand 29.12.2023)
Das Kind überlebt, hoch traumatisiert. Das Leben im Lager ist geprägt von Tod und Gewalt. Erfahrungen, die immer wieder präsent sind, sich nicht abschütteln lassen. Das Kind wächst auf bei Eva und Michel die sich verantwortlich fühlen. Michel kann keine väterliche Liebe zeigen, eher Strenge. Nicht nur einmal bereut er, das Kind im Lager nicht dem Hunger geschenkt zu haben. Gewalt gegenüber Kindern im vermeintlich sicheren Zuhause ist Alltag. Aber wie kann Sicherheit in einem Zuhause entstehen, wenn auch die Erziehenden traumatisiert-entwurzelt-abgewiesen werden, als „Schwabiza“ diffamiert werden, rechtlos sind, egal an welche Tür sie pochen?
Es geht um die Donauschwaben und deren Vertreibung und Internierung in Lagern nach dem zweiten Weltkrieg. Menschen die - obwohl nur teilweise verstrickt mit den Nazis - gleichgesetzt werden mit allem Bösen was aus Deutschland kam. Es geht um die Donauschwaben, die aus ihrer über Jahrhunderte erarbeiteten Heimat vertrieben, deportiert, enteignet, gehasst, diffamiert werden. Und es geht um Lisa, das Kind. So scheint der Roman autobiografisch.
Das Buch ist nicht einfach zu lesen. Entführt an viele Orte, beschreibt eine Fülle an Bezügen und Beziehungen. Viele Namen und (Verwandschafts-) Verhältnisse sind zu entschlüsseln. Manchmal fällt die Übersicht schwer. Kenntnisse der Geschichte der Donauschwaben am Ende des zweiten Weltkrieges erleichtern das Verständnis von Zusammenhängen. Umgekehrt ermuntert das Buch, sich mit dieser klein gehaltenen Geschichte auseinanderzusetzen.
Sprachlich gelingt es Andrash zu fesseln. Sie nimmt einen mit auf die Reise.
„Nebel zieht über die Milchstraße, weil sie traurig ist. Der himmlische Wind weht ihre Sternschnuppen zu uns herunter. Sie müssen unterwegs zur Erde verglühen. Damit ihr Sterben einen Sinn hat, erfüllen sie jedem Menschen, der ihr Licht ausgehen sieht, einen Wunsch.“ (Seite 31).
So sind die Erinnerungen eines Kriegskindes, so ist die Milchstraße trotz allem auch ein Hoffnungs-, ein Perspektivenbuch?

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.