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Insgesamt 10 Bewertungen
Bewertung vom 24.09.2015
The Policy of the Entente
Wilson, Keith M.

The Policy of the Entente


sehr gut

In seinem 1985 erschienenen Werk vertritt Keith M. Wilson in mehreren Essays die Ansicht, das die britische Führung Anfang des 20. Jahrhunderts die Entente-Politik mit Frankreich und Russland nicht zur „Eindämmung“ des Deutschen Reiches oder um des Mächtegleichgewichts willen, sondern vor allem deswegen betrieben hat, weil die britische Seeherrschaft und das weitläufige britische Weltreich, insbesondere Indien, ohne ein Einvernehmen mit Russland nicht mehr zu sichern gewesen wäre.

Dabei war auch die von der britischen Regierung angeblich verfolgte Politik der freien Hand nach Wilson nur eine Fiktion, da man sich durch die eigenen imperialen Interessen, die daraus resultierenden Ententen und die darauf beruhenden Absprachen zwischen den Generalstäben der beteiligten Länder gegenüber Frankreich und Russland schon so weit gebunden hatte, dass eine Neutralität Großbritanniens in einem europäischen Krieg praktisch nicht mehr in Frage kam.

Um diese Politik zu rechtfertigen, kam es nach Wilson dann auch zur „Invention of Germany“, der Erfindung des Deutschen Reiches als des großen Unruhestifters und Friedensstörers in Europa, die vor allem psychologischen Bedürfnissen der britischen Führung diente, die sich vor dem Hintergrund der angeblichen deutschen Bedrohung als Verteidiger der „balance of power“ und der Freiheit Europas gegen eine deutschen Hegemonie imaginieren konnte.

Die Entscheidung zum britischen Kriegseintritt 1914 habe dann auch weniger mit der belgischen Neutralität zu tun gehabt, sondern eher mit der innenpolitischen Erwägung, dass dem liberalen Kabinett bei einer Ablehnung des Kriegseintritts der Rücktritt der „liberalen Imperialisten“, insbesondere von Außenminister Grey und Premierminister Asquith drohte. Dem Sturz der liberalen Regierung wäre sodann eine konservative oder eine Koalitionsregierung aus Konservativen und liberalen Imperialisten gefolgt, die dann in jedem Fall den Kriegseintritt beschlossen hätte. Aus diesem Grund beschlossen die Liberalen, den ohnehin unvermeidlichen Kriegseintritt lieber selbst herbeizuführen und mit der Verletzung der belgischen Neutralität zu rechtfertigen.

Einiges an Wilsons seinerzeit aufsehenerregenden und das britische Selbstbild angreifenden Erwägungen wird von der neueren Forschung bestätigt und weitergeführt (vgl. etwa Andreas Rose, Zwischen Empire und Kontinent: Britische Außenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, München 2011). Allerdings ist auch festzustellen, dass den nicht gerade „sine ira et studio“ geschriebenen Essays eine bisweilen etwas einseitige Interpretation der Quellen zugrundeliegt, was allerdings jedem solchen Frontalangriff auf die herrschende Meinung inhärent sein dürfte.

Wilsons Essays bilden jedenfalls für jeden an der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs Interessierten eine höchst anregende Lektüre. Um seine bisweilen über die Quellen hinausschießenden Thesen angemessen relativieren und einordnen zu können, empfiehlt es sich allerdings, eine gewisse Kenntnis der sonstigen einschlägigen Literatur zum Thema mitzubringen.

Bewertung vom 02.08.2015
Inside Rebellion
Weinstein, Jeremy M.

Inside Rebellion


ausgezeichnet

Jeremy Weinstein unternimmt mit seinem Buch den Versuch einer soziologischen Erklärung des unterschiedlichen Verhaltens von Rebellengruppen gegenüber der Zivilbevölkerung. W.'s zentrale These lautet, dass Rebellengruppen, die über erhebliche materielle Ressourcen verfügen, weitaus mehr unterschiedslose Gewalt anwenden, während „ärmere“ Rebellen Gewalt selektiver und strategischer einsetzen. Nach W. hängen die Organisation und dass Verhalten von Rebellengruppen, die verfolgten Strategien und die Struktur der Mitgliedschaft vor allem davon ab, ob ihre Führung mehr ökonomisches oder eher soziales Kapital einsetzen kann. Die „reicheren“ Rebellen ziehen eher eine opportunistische, auf kurzfristige Gewinne orientierte Mitgliedschaft an, die sich auch gegenüber der Zivilbevölkerung entsprechend ausbeuterisch verhält, während „ärmere“ Rebellengruppen eher Aktivisten anziehen, die sich weniger aus materiellen Gründen engagieren und daher disziplinierter auftreten.

W. arbeitet in sein Buch mehrere Fallstudien ein (die NRA in Uganda, Sendero Luminoso in Peru, Renamo in Mozambique), die in der Interpretation von W. die Ausgangsthese vollumfänglich empirisch bestätigen. Die Renamo betrachtet W. dabei als bloße Räuberbande (wobei man durchaus geteilter Meinung darüber sein kann, ob Renamo nur wegen der Unterstützung aus Rhodesien/Südafrika bereits als im Verhältnis ressourcenreich anzusehen ist) während die Beschreibung der NRA teilweise fast hagiographische Züge annimmt.

Wer den Ausgangspunkt von W. für nicht vollständig überzeugend hält, wird während des Lektüre des Buches mehrfach Gelegenheit haben, sich darüber zu ärgern, dass der Autor anderweitige Theorien über das Verhalten von Aufständischen und andere mögliche Erklärungen für das in den Fallstudien beschriebene Verhalten eher übergeht oder weginterpretiert, als sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen. So ist kaum einzusehen, warum Reichtum an materiellen Ressourcen gleichsam notwendigerweise zu undiszipliniertem und ausbeuterischem Verhalten führen soll. W. erklärt selbst, dass die NRA, als sie zwischenzeitlich zu Geld gekommen war, dieser Gefahr durch kluge Führung und überlegene Verwendung der Mittel entgehen konnte. Warum dies einer gut geführten und dem Maoistischen Volkskrieg folgenden Aufstandsbewegung nicht auch schon von Anfang möglich sein sollte, erschließt sich nicht. Letztlich wäre es wohl sinnvoller, eher die überragende Bedeutung von sozialem Kapital dafür zu betonen, dass sich eine Aufstandsbewegung im Volk verwurzelt und sich nicht zu einer Räuberbande entwickelt, unabhängig vom Umfang der materiellen Ressourcen.

Insgesamt handelt es sich bei dem Buch um einen anregenden Beitrag zur Forschung über Aufstandsbewegungen, aber leider nicht um den von der Verlagswerbung und einigen Rezensionen versprochenen großen Wurf.

Bewertung vom 17.05.2015
TheTragedy of Great Power Politics
Mearsheimer, John J.

TheTragedy of Great Power Politics


sehr gut

Mearsheimer vertritt die Theorie des „offensive realism“. Danach sind die Beziehungen der Großmächte in der internationalen Politik davon geprägt, dass jede Macht um der eigenen Sicherheit willen gezwungen ist, stets danach zu streben, die eigene Macht auf Kosten der anderen Mächte zu steigern und nach Möglichkeit eine regionale Hegemonie zu erreichen. Außer einem solchen Hegemon gibt es in diesem System keine „Status-Quo-Mächte“, sondern alle Mächte streben ununterbrochen danach, die „balance of power“ zu ihren Gunsten zu verschieben. Diese Diktate der „Realpolitik“ gelten nach M. für alle Mächte, unabhängig von innerer Staatsverfassung und Ideologie.
M. findet daher in der Geschichte nicht „böse“ (herkömmlich: Deutsches Kaiserreich, NS-Deutschland, Japanisches Kaiserreich, Sowjetunion, sonstige Diktaturen) und „gute“ Mächte (herkömmlich: USA, Großbritannien, Demokratien im Allgemeinen), sondern nur solche, die sich entsprechend den Diktaten der Realpolitik verhalten. Diese bewusst moralfreie Sicht auf die Dinge führt etwa dazu, dass M. zwar davon ausgeht, dass das Hegemoniestreben des Deutsche Kaiserreichs den Ersten Weltkrieg ausgelöst hat, dann aber daraus den Vorwurf ableitet, dass das Kaiserreich den Krieg bereits 1905 hätte auslösen sollen, um die Schwäche Rußlands nach den Niederlagen gegen Japan auszunutzen.
„Liberale“ oder „idealistische“ Theorien der internationalen Beziehungen werden von M. glatt verworfen, er sieht keinen Anhaltspunkt dafür, dass Demokratien sich nicht nach den Diktaten der Realpolitik verhalten oder dass etwa die Außenpolitik der USA besonders tugendhaft und moralisch und nicht an Machtpolitik, sondern an „das Gute“ verfolgenden Prinzipien orientiert wäre („It should be ovious to intelligent observers that the United States speaks one way and acts another.“)
M. exemplifiziert seine Theorien an der Weltgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und findet seine Thesen wenig überraschend in der Geschichte vollauf bestätigt. Die historischen Exkurse sind dabei in der politikwissenschaftlich üblichen Weise etwas oberflächlich und redundant, was aber in der Natur der Sache liegt, da der Politikwissenschaftler eben nicht dem singulären historischen Ereignis gerecht werden will, sondern in der Geschichte nach Mustern sucht, die seinem Modell entsprechen. Dass die Großmacht-Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert dem „Primat der Realpolitik“ unterlagen, hätte man M. allerdings auch ohne weitschweifige Ausführungen geglaubt, interessanter wäre es gewesen, wenn M. sich stattdessen etwas mehr mit den politikwissenschaftlichen Modellen auseinandergesetzt hätte, die seinem „offensive realism“ widersprechen, was aber nur auf relativ wenigen Seiten in der Einleitung und in den Endnoten ausdrücklich geschieht.
In einem abschließenden Kapitel untersucht M. die Frage, ob der Aufstieg Chinas friedlich vonstatten gehen kann und kommt zu der Einschätzung, dass China unweigerlich nach regionaler Hegemonie in Ostasien streben werde und die USA und ihre Verbündeten in der Region dies nicht einfach so geschehen lassen würden, weshalb die Wahrscheinlichkeit, dass der Aufstieg Chinas mit kriegerischen Auseinandersetzungen einhergehen wird, relativ hoch sei.
Das Buch wurde vor der Krim-Annexion durch Rußland und der Ostukraine-Krise geschrieben, kann aber auch mit Bezug hierauf mit einigem Gewinn gelesen werden. Zum einen vertritt M. in einer Nebenbemerkung die Auffassung, dass nur ein verblendeter Liberaler wie Bill Clinton übersehen konnte, dass die NATO-Osterweiterung 1997 zu einer gefährlichen Isolierung Rußlands führen würde (S. 23), zum anderen darf man wohl davon ausgehen, dass die von M. vertretene Theorie der Staatenwelt in etwa dem Weltbild der führenden Männer im Kreml entspricht. Wer sich also den Kopf zerbricht, „was Putin denkt“ und warum er handelt, wie er handelt, sollte vielleicht eher Mearsheimer lesen als die Spekulationen psychologisierender Kreml-Astrologen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.08.2012
Guerrilla Warfare

Guerrilla Warfare


gut

Walter Laqueurs „Guerrilla Warfare“ ist ein Klassiker zum Thema aus dem Jahr 1976, neu aufgelegt 1998. Laqueur hat weniger Interesse an soziologischen Theorien und Definitionen, sondern folgt dem Grundsatz: „in order to explain guerrilla warfare one has to write its history“ (S. XVII). Dementsprechend bietet Laqueur vor allem eine Geschichte von Guerilla-Kämpfen vom alten Rom bis zum Vietnamkrieg. Da Laqueur jeder Guerilla-Bewegung stets nur einige Seiten, manchmal auch nur Absätze widmet, kann der Text aber zwangsläufig nur die Oberfläche des Geschehens beschreiben. Am interessantesten sind dabei Laqueurs Ausführungen zu Kleinem Krieg, Partisanen und Militärtheorie im 18. und 19. Jahrhundert sowie zum aktuellen Stand der Guerrilla-Strategie im Jahr 1976. Laqueur stellt zwar fest: „The new doctrines of guerrilla warfare [...] by no means provide a true reflection of guerrilla experience“ (S. 327). Da Laqueur sich jedoch nicht von seiner strategischen Höhe in die Niederungen „on the ground“ herabbegibt, erfährt der Leser über die tatsächliche „guerrilla experience“ in seinem Buch eher wenig. Vor dem Hintergrund der im Zuge des amerikanischen Engagements im Irak und in Afghanistan in den letzten Jahren wieder erheblich angeschwollenen und zum Teil auch lesenswerten Schrifttums über „insurgency“ und „counterinsurgency“ sowie vor allem der Bemühungen, die Guerilla mit soziologischen Methoden auf der Mikroebene zu analysieren (etwa Weinstein 2007, Kalyvas 2006), wirkt Laqueurs vor allem historisch-deskriptives Werk zunehmend verstaubt - bleibt aber ein Klassiker.