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MarieOn

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Insgesamt 45 Bewertungen
Bewertung vom 11.09.2024
Der Bademeister ohne Himmel
Pellini, Petra

Der Bademeister ohne Himmel


ausgezeichnet

Die 15-jährige Linda wohnt zwei Etagen über Hubert Raichl. Hubert ist voll dement und wird von Ewa, der polnischen Pflegekraft vierundzwanzig Stunden betreut. Kevin wohnt bei Linda um die Ecke und ist voll intelligent. Seit Lindas Eltern sich getrennt haben, mag Linda Kevin. Davor musste sie ihn wie ihr Päckchen mit zur Schule schleppen. Seine alleinerziehende Mutter fand, dass der Schulweg zu gefährlich sei.

Linda plant seit einiger Zeit ihren Abgang aus dieser Welt, das macht sie im Stillen mit sich aus.

Es ist dieser Zustand zwischen Schlafen und Wachwerden. Es dämmert einem, dass man wach wird und die Sorgen vom Vortag vermischen sich mit der Vorschau auf noch mehr Unglück. S. 204

Linda trägt den grauen Vorhang, der alles trübt, nicht grundlos. Zu oft hat sie mit ihrer Mutter im dunklen Kleiderschrank gesessen, die Herzen um die Wette rasend, weil der rasende Vater: „Komm da raus!“, schrie.

Linda verbringt die Nachmittage meistens bei Hubert. Die gottgläubige Ewa, die den Kamillentee dreißig Minuten ziehen lässt, weil er Farbe braucht, mit der selbst gemachten Ringelblütensalbe und dem Freund ohne Körperlichkeiten, muss auch mal einkaufen. Und Mittwochs verschwindet Ewa für zwei Stunden zu ihren polnischen Freundinnen. Linda hat Hubert im Griff. Wenn er auf seine Frau wartet, die er beim Einkauf vermutet, lenkt Linda ihn ab. Seine rechte Hosentasche enthält immer Walnusshälften und die linke immer ein Stofftaschentuch, darauf kann man sich verlassen. Linda erzählt Hubert vom Schwimmbad, dem Drei-Meter Brett, den warmen Sonnenstrahlen auf der Haut und dem erfrischenden Wasser, in das sie eingetaucht ist, auch wenn es nicht stimmt. Hubert gefällt es.

Nach viel Dunkelheit sind da die Tage, an denen Linda ein Liebespaar an der Bushaltestelle beobachtet und es nicht kitschig findet. Eine Frau, die mit einem Efeublatt eine Biene aus dem Brunnen fischt und wartet, bis sie weggeflogen ist und sie fragt sich, ob das immer da ist? Aber dann braucht Ewa eine Pause und fährt für Wochen nach Hause.

Fazit: Mit großem Feingefühl hat Petra Pellini ein junges Mädchen gezeichnet, das sich überflüssig findet. Wirklich gelungen lässt die Autorin ihre Ich-Erzählerin aus der Sicht einer coolen Jugendlichen erzählen, mit starkem Charakter und wenig Selbstwert. Die Geschichte ist wunderbar verwoben mit Lindas Schicksal, Huberts Demenz und Ewas Überforderung. Die Stimme der Autorin ist humorvoll und selbstironisch. Obwohl Lindas Weg immer wieder von unerwarteter Tragik gekreuzt wird, wächst sie über sich hinaus und findet ein Licht am Ende des Tunnels, das hell und vielversprechend strahlt. Ein gelungenes, bewegendes Debüt, das mich sehr berührt hat.

Bewertung vom 30.08.2024
Mein Mann
Ventura, Maud

Mein Mann


sehr gut

Seit dreizehn Jahren liebt sie ihren Mann über alles und ist voller Angst, ihn zu verlieren. Sie leidet unter ihrer vollkommenen Liebe, darunter zurück geliebt werden zu müssen, unter der Erwartung, dass er ihre riesige Leere füllt.

Ihr Beruf als Englischlehrerin macht ihr seit fünfzehn Jahren große Freude. Eine Stunde lang steht sie im Zentrum der Aufmerksamkeit und kontrolliert die Zeit. Am liebsten sind ihr die Montage, wenn sie mit neuem Schwung die Klasse erobert.

Wenn sie nach Hause kommt, korrigiert sie die Arbeiten ihrer Schülerinnen. Sie achtet darauf, immer ein aufgeschlagenes Büchlein neben sich liegen zu haben, in das sie ihre Deklinationen schreibt. Sie mag es nicht, wenn er früher zu ihr kommt und sie am Computer sitzen sieht, es wirkt so gewöhnlich. Normalerweise bereitet sie dann das Essen vor und wartet auf dem Sofa im Wohnzimmer sitzend, den Blick in ein Buch gerichtet, im Moment ist es der Liebhaber von Dumas, im Schein einer schmeichelnden Lampe. Sie weiß, dass sie ihm so am besten gefällt, ihrem Mann. Um 21 Uhr 20 beschleunigt ihr Herzschlag und sie weiß, dass sie in Alarmbereitschaft ist. Noch ein kurzer Blick in den Spiegel, den Rock zurechtgerückt. 21 Uhr 30, sein Auto hält, die Tür schlägt zu und dann fährt der Schlüssel ins Schloss.

Gestern ist er eingeschlafen, ohne ihr „Gute Nacht“ zu wünschen, deshalb dreht sie sich am Morgen von ihm weg, als er sie umarmen will. So sind die Regeln, die muss sie einhalten.

Schon damals hat er ihr mit einer Grippe die Flitterwochen versaut. Sie waren in einem der schönsten Hotels, in dem er sieben Tage lang im Bett lag. Fast wäre die Erholung und die Unterhaltung, auf die sie sich doch so gefreut hat, an ihr vorbeigegangen.

Fazit: Ich mag die französische Klangfarbe von Maud Ventura. Alles ist leise und sehr genau beobachtet. Sie lässt ihre Protagonistin in permanente Innenschau gehen, zeigt, wie kontrollierend und selbstbezogen sie ist. Jede kleinste Veränderung im Verhalten ihres Mannes lässt sie das schlimmste vermuten und mit Selbstzweifeln martern. Die Abhängigkeit ist übergroß. Die Protagonistin erlebt die gesamte Kaskade an Gefühlen, die uns sabotieren können. Eifersucht, Neid, Missgunst, Minderwertigkeit und versucht sich durch ihren Alltag zu hangeln. Ihre Kompensationsversuche erregen Mitgefühl. So wenig wie ich über den Charakter ihres Mannes erfahre, so sehr dreht sich die Welt um seine anstrengende Frau. Das Ende hat mich völlig überrascht. Ich bin erleichtert, dass ich nicht in der Haut der Protagonistin stecke. Meine Leseempfehlung für diese feinsinnige Geschichte, die es in sich hat.

Bewertung vom 30.08.2024
Juli, August, September
Grjasnowa, Olga

Juli, August, September


sehr gut

Lou ist promovierte Kunsthistorikerin und Mutter. Nachdem sie von ihrem ersten Mann verlassen wurde, der sich dem Studium seiner Religion widmen wollte, ging Lou möglichst weit weg. Sie schrieb sich an der Columbia ein und zog nach New York, wo sie Sergej kennenlernte. Obwohl sie nahezu ein Paar waren, fehlte die letzte Konsequenz, denn Lou wollte sich nicht mehr binden. Da Sergej weltweit Konzerte gab, verloren sie sich aus den Augen.

Erst nach ihrem Studium trafen sie sich in Berlin wieder und bekamen ihr erstes Kind. Lous Mutter kam mit Lou aus Aserbaidschan nach Berlin. Sie arbeitete als Klavierlehrerin und konnte sich eine kleine Wohnung leisten. Jetzt lebt Lou mit Sergej in seiner großzügigen Altbauwohnung und es fehlt ihr an nichts, deshalb fühlt sie sich manchmal wie eine Betrügerin, die sich etwas erschlichen hat, das ihr nicht zusteht. Genau dieses Gefühl gibt ihr ihre Schwiegermutter, als wäre Lou nicht gut genug für ihren Sohn.

Wenn Sergej sich auf seine Konzerte vorbereitet, taucht er tagelang ab und ist kaum ansprechbar. Bei seinem letzten Auftritt bekam er im Angesicht des Publikums und dem Wissen über dessen Erwartungen solche Atemnot, dass er fürchtete ohnmächtig zu werden. Und dann wird Lous Großtante neunzig und Lous Mutter will unbedingt, dass Lou sie zu der Feier begleitet.

Fazit: Olga Grjasnowa hat einen leichten Unterhaltungsroman geschaffen. Die Protagonistin ist Jüdin, die, wie der Rest der Familie in der ehemaligen Sowjetunion aufgewachsen ist. Während der Rest der Familie nach Israel zieht, geht ihre Mutter mit ihr nach Berlin und fortan sind die beiden die Außenseiter. Während Lous Mutter um ihre Existenz kämpfte, haben die anderen in Israel ihre schicken Appartements, auf dem Grund, der ihnen nicht gehört, abbezahlt und lassen es sich gut gehen. Missgunst ist der innerfamiliäre Tenor und Scham über die Schande, die der Großvater über alle hat hereinbrechen lassen. Die Autorin versucht recht schwere Themen abzuarbeiten, bleibt dabei aber im Oberflächlichen verhaftet. Die flockige Sprache kaschiert das Tragische und war mir zu flach. Da sich der Roman jedoch gut liest, kann ich mir vorstellen, dass er bei den Leser*innen, die leichte Literatur bevorzugen, gut ankommen wird.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.02.2024
Freunde lieben. Die Revolte in unseren engsten Beziehungen
Liebl, Ole

Freunde lieben. Die Revolte in unseren engsten Beziehungen


ausgezeichnet

Zunächst einmal führt Ole Liebl mich in die sexuellen Begrifflichkeiten ein, was mir hilft zu differenzieren und dem folgenden Text zu folgen. Dafür bin ich dankbar, denn ich merke, dass ich eingerostet bin. D*ie Autor*in unterscheidet die F+ Beziehung, also Frindship with benefits, oder Freundschaft+ Erotik, von Hookup, Fickbeziehung, One Night Stand, BootyCall, Fuck Buddys, Casual Sex (No Strings Attached) und von der Affäre.

Die Freundschaft+ ist im Gegensatz zu den anderen erwähnten Spielarten der Erotik eine Vereinigung mit mehr oder weniger großer Verbindlichkeit, wobei die Freundschaft an erster Stelle steht und nicht der Sex.

Ole Liebl hat aufwendig recherchiert und nimmt uns mit auf eine Reise in die Geschichte der Sexualität. Beleuchtet das Konstrukt der Ehe, mit all ihren Abhängigkeiten, Machtgefällen und Sicherheiten, beleuchtet die Aufgabe der katholischen Kirche und wie diese durch den Staat abgelöst wurde. Wie wichtig die kontrollierte Geburtenrate der Ehe zu Zeiten der Kriege wurden. Wie sehr Frauen aber auch Minderheiten begrenzt und beschnitten wurden/werden. Lange Zeit hatte man der Frau jegliche eigenständige Sexualität abgesprochen, sie zum passiven, empfangenden Weibchen erkoren, frei von Rückgrat, geschwätzig und zu Hysterie neigend. Ole zeigt, wie sehr wir diese Rollenbilder bis ins Heute interniert haben, was uns das “freiwillige” unentgeltliche Kümmern von Frauen in der Care Arbeit (Pflege von Angehörigen, Kindererziehung, Hausarbeit) zeigt.

Ich mochte diesen Exkurs sehr, weil ich viele Informationen bekommen habe, die ich nicht kannte. Besonders gelungen fand ich das Kapitel, Liebe, Sex und Kapital: 150 Jahre sexuelle Kommerzialisierung. Sex sells, wie sich durch Werbung Geschlechteridentität und sexuelle Orientierung kristallisiert hat.

Um sexuell begehrenswert zu sein, so verspricht die kapitalistische Gegenwart, muss also konsumiert werden. S. 61

Ein Dogma, dem sich immer noch die Mehrheit der weiblichen Bevölkerung beugt.

Ole Liebl propagiert den verantwortlichen Umgang mit Sexualität im algemeinen und die Wichtigkeit eines gemeinsamen Konsens, damit niemand verletzt wird, weder physisch noch emotional. Er glaubt, dass in der Intimität und dem Vertrauen, das Freundschaft mit sich bringt, die Chance liegt seine Wahlfamilie zu festigen und den sinnlichen Horizont, dessen was guttut, zu erweitern.

Während in romantischen Beziehungen oft hohe Erwartungen an ein “geschlechtergerechtes” Verhalten bestehen, die mit Performancedruck einhergehen, unterliegt die Freundschaft solcher gesellschaftlicher Normen kaum. S. 91

Fazit: Ein gut geschriebenes Buch, das mit seinen revolutionären Thesen, definitiv meinen Horizont erweitert hat.

Bewertung vom 24.02.2024
Trabant
Sommer, Stefan

Trabant


sehr gut

Georg Himmel ist ein besonderer junger Mann mit einer Vorliebe für das Weltall. Dabei interessieren ihn weniger die Planetenkonstellationen als viel mehr was der unendliche Raum noch alles birgt. Sterne, die uns umkreisenden Satelliten, deren Halbwertszeit und natürlich, der Schrott.

Wenn er sich allein fühlt, lauscht er den Schwingen des Beteigeuze, die in seiner Einbauküche lagern, wenn er nervös ist, dem Lichtblitz FRB 121102. Sein Zweifel, seine Person, seine Welt versinkt im Flüstern der Sterne. S. 12

Georg ist der Sohn eines erfolgreichen Einzelhandelskaufmanns, der sich bestens auf Haustürgeschäfte versteht und einer Mutter, die ihre Lehre zur Automechanikerin abgeschlossen hätte, wenn sie nicht mit Sohnemann schwanger geworden wäre. Mitte der Neunziger sind sie nach Bayern gekommen. Zuvor haben sie immer wieder den Wohnort gewechselt und Georg die Schule, die Mitschüler und Freundschaften. Seit seinem Abitur arbeitet Georg als Hausmeister im örtlichen Planetarium.

Sein bester Freund Vedad, den er unter abstrusesten Umständen kennengelernt hat heiratet, und als erstklassiger Trauzeuge hat Georg natürlich eine glänzende Rede vorbereitet. Leider wecken die Unmengen fremder Menschen Georgs Urangst, sich vor den Augen Fremder seltsam zu verhalten und an ihn gerichtete Erwartungen nicht erfüllen zu können. Deshalb kommt Georg, die sowohl unverständliche, wie geheimnisvolle SMS seines Vaters nicht ungelegen. Überraschend bricht Georg auf und stürzt sich ungewollt ins Abenteuer.

Fazit: Die Geschichte ist überraschend unterhaltsam. Ein kunterbuntes kleines Potpourrie an komischen aufeinanderfolgenden Ereignissen. Der Protagonist begibt sich auf einen Roadtrip an dessem Ende er seinen Vater zu finden hofft. Unterwegs hegt er ängstliche Befürchtungen. Verschiedene Situationen und Anekdoten seiner jungen und doch ereignisreichen Vergangenheit fallen ihm ein. Der Autor hat einen jungen Charakter mit Ecken und Kanten geschaffen, dem ich gerne dabei zu gesehen habe, wie er seine Ängste und Unsicherheiten überwindet. Eine feine humorvolle Storry, die ich gerne gelesen habe.

Bewertung vom 22.02.2024
Mutternichts
Vescoli, Christine

Mutternichts


ausgezeichnet

Mutter war acht Jahre, als sie eine Dirn wurde. Ihre Eltern schickten sie zu fremden Bauern, auf einen großen Hof einige Kilometer entfernt. Das war nichts Ungewöhnliches. Familien, die nicht alle ihrer Kinder ernähren konnten brachten die Überzahl woanders unter. Befremdlich war, dass die Eltern nach Mutters Weggabe weitere Kinder bekamen. Und warum traf es ausgerechnet Mutter? Die Protagonistin fährt in das Tal, zu dem Hof, der Mutter verschluckte, sucht nach den Spuren, die Mutter in Nichts auflösten, nach Worten, die Mutters Schweigsamkeit begründen.

Die Protagonistin möchte das Mutterrätsel über ihr Schreiben ergründen und hegt den Anspruch ihre Mutter so zu zeichnen, wie sie war und nicht, wie sie sie gern gehabt hätte. Sie versinkt in Erinnerungen und sieht Mutter, wie sie ihre Arbeit mit großer Sorgfalt und Dringlichkeit erledigte. Wie sie an Karfreitagen im Haus schuftete und danach mit großer Ernsthaftigkeit betete. Mit dem Vorrücken der Zeiger sank ihre Stimmung, bis sie zu der Stunde als der Heiland ans Kreuz geschlagen wurde, langsam aus ihrer Erstarrung erwachte.

Ich hörte Mutter lautlos beten. Am Morgen am Tisch. In der Stube, wo die Uhr laut tickte und in die Stille schlug. S. 133

Die Bäuerin auf dem Hof soll eine bösartige Frau gewesen sein. So oft es ging lief Mutter bei Wind und Wetter zu ihrer Familie. Sang laut gegen ihre zahlreichen Ängste an und schrie Gedichtzeilen in die Luft. Doch Zuhause lud niemand sie ein zu bleiben. Sie gehörte nirgendwohin, war überflüssig und wertlos.

Fazit: Ich liebe diese Geschichte! Selten habe ich so eine Sicherheit im Umgang mit Worten erlebt. Die Autorin schreibt sich mit wortgewandter Poesie durch diese Geschichte, die von Anfang bis Ende überzeugt. Die Sprachbilder sind sinnlich und wecken Bilder und Gefühle. Die Autorin schreibt über schlimme Dinge ohne jeden Pathos, sondern mit einer Ruhe, die mich eines Spaziergangs gleich, durch die Zeilen führt. In ihrer Sprachmelodie glaube ich einen Österreichischen Dialekt zu hören. Die Reise von der Tochter zur Mutter deckt die Vergangenheit bis zu ihren Urgroßeltern auf. Es ist eine der schönsten Vergangenheitsbewältigungen, die ich je gelesen habe. Jeder Satz ein Genuss.

Bewertung vom 13.02.2024
Krummes Holz
Linhof, Julja

Krummes Holz


sehr gut

Jirka ist neunzehn als er in sein Heimatdorf “Krummes Holz” zurückkehrt. Erwartungsgemäß ist niemand glücklich ihn zu sehen. Leander nicht, der ihn auf dem Weg zum väterlichen Hof aufsammelt, Magret, seine Schwester nicht und sein Vater Georg ganz sicher auch nicht, aber den wird er erstmal nicht zu sehen bekommen. Er steigt in den verbeulten Taunus und erinnert sich an Leanders Vater Vilém Dorodzala. Er war der beste einarmige Suffkopp, der jemals gelebt hat, bevor der Tod ihn aus Jirkas Leben gepflückt hat. Vilém war der einzige von den ganzen Wanderarbeitern auf dem Hof, der ihn aus dem Hundezwinger wieder rausließ, in den sein Vater ihn regelmäßig sperrte.

Im Grunde hätte Jirka schon eher kommen müssen, weil seine Schwester ihn darum gebeten hatte, vor einigen Wochen. Doch dann hatte der weltbeste Sozialarbeiter Jochen ihn bekifft erwischt und Hausarrest erteilt. Für Jirka war das kein Problem, für seine Schwester schon.

Im Taunus muss er seine heiße Stirn an die kühle Scheibe der Beifahrertür lehnen. Leanders starker Unterarm, mit dem roten Flaum verwirrt ihn, sein Geruch nach Erde und Zigarettenrauch lässt ihn die Augen schließen. Fünf Jahre haben sie sich nicht gesehen. Eine lange Zeit, die alles verändert, wenn man so jung ist wie Jirka.

Fazit: Zuerst einmal, die vielen Namen und Infos brachten mich zu Anfang ins Stolpern. Die Geschichte ist aber so interessant gemacht, dass ich dran bleiben musste. Mir gefällt die Technik des Rückblicks sehr. Die Autorin packt ganz langsam und bedächtig aus, was Jirka und seiner Schwester passiert ist. Die Charaktere sind sensibel gezeichnet. Leanders erotische Aura, die Jirka die Luft nimmt und zutiefst verunsichert, war spürbar, Jirkas Unsicherheit nachvollziehbar. Jirka begibt sich auf Spurensuche, um sich selbst zu verstehen. Er ist ein sensibler, trotziger, junger Mann. Wie traumatisiert er ist, wird ihm erst durch seinen Besuch auf dem Hof klar, wo sein Vertrauen mehrfach missbraucht wurde. Doch ja, ich mag dieses Debüt sehr und empfehle es ganz klar.

Bewertung vom 03.02.2024
Trophäe
Schoeters, Gaea

Trophäe


ausgezeichnet

John Hunter White geht seiner Lieblingsbeschäftigung nach, während seine schöne Frau in Mexico weilt. Normalerweise entwirft Hunter Investitionsblasen, mit denen er seine Käufer blendet. Bevor die Blase platzt holt er das Maximum raus. Es ist durch und durch unethisch, aber schnelles Geld.

Van Heeren hat ihn wieder einmal nach Afrika eingeladen. Er betreibt eine Lodge umgeben von einer Unmenge Land, an den Grenzen zum Nationalpark. Hunter hatte schon alles vor der Linse, wendige Springböcke, schlanke Antilopen, gefräßige Löwen, sogar eine Giraffe, aber das war irgendwie unschön. Das stolze Tier hat sich gar nicht gewehrt. Selbst einen unberechenbaren Büffel, auf diese Drecksviecher verzichtet er lieber. Die rennen einfach weiter, selbst wenn man ihnen längst einen Krater zwischen die Augen verpasst hat. Hunter weiß genau, dass er in der Nahrungskette ganz oben steht.

Hier, die Gefahr zum Greifen nahe, kann er sein, wer er wirklich ist. Er, Hunter, Mann. S. 27

Van Heeren hat Hunter einen, von nur noch drei Spitzmaulnashornbullen angeboten. Eigentlich stehen sie unter Naturschutz, aber Van Heelen hat in seinem Bestand ein älteres Männchen, das den beiden jüngeren Konkurrenz macht und bevor er die anderen noch verletzt, hat Van Heelen ihn vernünftigerweise zum Schuss freigegeben. Hunter hat für die Jagdlizenz einen sechsstelligen Betrag investiert, für den er extra eine neue Firma eröffnet hat, aber was tut man nicht alles für ein ausgefallenes Geburtstagsgeschenk für die Gattin.

Seit über zwei Jahrzehnten jagen sein Gastgeber und er zusammen. Auch Van Heeren freut sich auf morgen. Nicht jeden Tag, macht einer seiner Gäste die Big Five voll.

Fazit: Ganz großes Kino. Die Geschichte läuft wie ein Film vor Augen ab. Ich war mittendrin, habe geschwitzt, mich verausgabt, gefürchtet und erschrocken. Von Anfang an gewann ich den Eindruck, dass der Protagonist ein selbstgefälliger Mensch ist und das, was er vorhat, nicht richtig. Doch dann flicht die Autorin gute Gründe ein, warum er so tickt und ich verstehe ihn. Der Logebetreiber macht plausibel, warum er selbst bestimmte Ideen protegiert und ich gerate ins schwanken. Am Ende wird mir ganz schwummrig, weil ich richtig und falsch nicht mehr auseinanderhalten kann. In dem Roman stecken so viele Informationen. Ich erfahre viel über die uralte Befölkerung, die fast ausgerottet wurde und deren Lebenseinstellung, ohne von Wissen erschlagen zu werden. Gaea Schoeters führt mir auf gekonnte Art vor, was Doppelmoral bedeutet. Wie verwerflich Menschen gestrickt sind und überlässt mich am Ende der Überzeugung, dass Geld eben doch ganz schön stinkt. Ich liebe dieses Buch, weil es mich fassungslos gemacht hat.

Bewertung vom 22.01.2024
Nachbarn
Oliver, Diane

Nachbarn


sehr gut

In dem Buch finden sich fünfzehn Kurzgeschichten, die alle das gleiche thematisieren. Ein Amerika der Bürgerrechtsbewegung der 50er und 60er Jahre. Es dokumentiert den sozialen Umbruch und die Integration schwarzer Amerikaner*innen in den Südstaaten.

In der Shortstory Nachbarn erleben wir rassistische Anfeindungen gegen Ellies Bruder Tommy. Tommy wird morgen seinen ersten Grundschultag haben, mit der Besonderheit, dort, der erste schwarze Junge zu sein. Sein Vater berät sich mit anderen Männern, was zu tun ist, wie er mit all den Briefen voller Hass umzugehen vermag.

In Die Kammer im ersten Stock lernen wir Winifred kennen. Sie wird von ihren wohlhabenden Eltern in das College gebracht, in dem sie wieder, im dreizehnten Jahr ihrer Schulausbildung, die einzige Schwarze ist. Ihre weißen Komillitoninnen wettern gegen sie, zuerst in suptilerem Flüsterton, später feinden sie Winifred offen an und meiden ihre Nähe.

Vor der Dämmerung erinnert an den tragischen Mord George Floyds, der sich unfassbare siebzig Jahre nach dieser Kurzgeschichte ereignete. Im gemütlichen Roast Crest Tea Room werden nur weiße bedient. Das wollen vier schwarze Jugendliche ändern. Sie ziehen ihre beste Kleidung an und besuchen die Tee Stube, aber statt bedient zu werden, werden sie verhaftet.

In der Geschichte Stau arbeitet Libby als Hausmädchen bei der weißen Mrs. Nelson. Libby selbst hat fünf Kinder um die sie sich kümmern müsste, das Jüngste gerade erst geboren. Mrs. Nelson kümmert es nicht, dass Libby keine Zeit für Überstunden hat. Libby braucht das bisschen Geld, das sie verdient dringend, denn ihr Mann Hal ist vor einer Weile abgehauen.

Fazit: Die Geschichten sind sensibel erzählt. Sie zeichnen ein genaues Bild der Armut und Ausgrenzung schwarzer Amerikaner*innen Frauen waren kinderreich, arm und abhängig von schlecht bezahlten Jobs, in denen sie ausgebeutet wurden. Ihre Männer haben ihre Herkunftsländer, in den Südstaaten verlassen, weil es keine Zukunftschancen gab. Die wenigen wohlhabenderen schwarzen Frauen, die Aussicht auf Bildung hatten, waren heftigen Anfeindungen ausgesetzt. Das besondere an diesem Buch ist, dass es die einzigen, jemals veröffentlichten Kurzgeschichten von Diane Oliver sind, weil sie im Alter von 22 Jahren, bei einem Motorradunfall ums Leben kam.

Bewertung vom 02.01.2024
Lichtungen
Wolff, Iris

Lichtungen


sehr gut

Lev lernte Kato auf eigentümliche Weise kennen, auf eine Art, die er sich nicht gewünscht hat, denn eigentlich wollte er mit dem eigenbrötlerischen Mädchen, aus seiner Klasse nichts zu tun haben. Doch dann lernen sie sich kennen und schätzen. Viel später, nach dem Fall der Grenzen, fahren sie gemeinsam von Zurich, nach Paris, Nantes, Montpellier, Richtung Osten, an der Küste entlang.

Dann erscheint Tom, der göttlich aussehende Hamburger, mit langem blondem Haar und goldbraunen Augen, der auf anziehende Weise keine Manieren hat und sich nicht um Konventionen schert, der Sprachbarrieren einfach weglächelt. Katos Interesse für den unabhängigen Tom wächst, ihr fiebriger Blick verrät es. Er ist ihr Freifahrtschein in die Welt, um ihrem Unglücklichsein zu entkommen.

Sie schreibt Lev regelmäßig Postkarten und auf einer davon, stehen nach fünf Jahren die Worte: Wann kommst du? Nicht mehr, nur diese drei Worte.

Fazit: Zuerst tat ich mich schwer, hatte Schwierigkeiten der Erzählung zu folgen, wenn mitten in einer interaktiven Szene, Levs eigene Gedanken auftauchten, konnte ich das nicht gleich ihm zuordnen. Im weiteren Verlauf klarte meine anfängliche Verwirrung auf. Die Autorin begann die Geschichte in der Gegenwart und widmete jedes Kapitel Levs Vergangenheit, schrieb immer weiter zurück und verdichtete ihr Konstrukt zu einem stimmigen Gesamtbild. Lichtungen, so der Titel, sind die Flächen in einem Wald, die heller, weil frei von Bäumen sind. So habe ich die Geschichte empfunden. Jedes Kapitel bringt mehr Licht ins Dunkel, Levs Geschichte, seine Freunde, Familie, sein Land und seine Werte, ans Tageslicht. Ich verstehe, was er erlebt hat und wer er dadurch ist. Verstehe, wer Kato ist. Die Sprache ist poetisch, zart und besonders, jedes Wort sitzt und gehört an die Stelle, für die es steht. Kein unnötiger Balast stört die Wahrnehmung. Lichtungen ist kein bequemes Buch, das man mit einem Haps wegliest, es mag erarbeitet werden. Wer sich darauf einlässt, wird mit einer außergewöhnichen Geschichte belohnt, die einen tiefen Eindruck hinterlässt.