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Benutzername: 
robertp
Wohnort: 
Guntramsdorf

Bewertungen

Insgesamt 36 Bewertungen
Bewertung vom 01.03.2025
Die Fletchers von Long Island
Brodesser-Akner, Taffy

Die Fletchers von Long Island


ausgezeichnet

Keine Erklärung
Reiche Leute haben keine Probleme. So denken alle im Umfeld der Familie Fletcher, die im idyllischen Vorort Middle Rock, an der Küste, ein eindrucksvolles Imperium errichtet haben. Middle Rock ist definiert durch Reichtum und in den 80igern waren die Fletchers hier die Könige – bis der Erbprinz Carl entführt wurde. Nach fünf Tagen und der Bezahlung eines Lösegeldes wurde er freigelassen, aber er war nicht mehr derselbe und mit ihm litt die ganze Familie bis heute.
In mehreren Rückblenden erzählt Brodesser Akner die Geschichte aus der Sicht der Kinder Carls. Nathan – ängstlich, sein Leben lang – kann sich als Anwalt nicht durchsetzen, er bleibt immer in der zweiten Reihe, da er mit Menschen nicht kommunizieren kann.
Bernard „Beamer“ wird Drehbuchautor eines erfolgreichen Filmes (ein Entführungsdrama) und vermag sich nicht weiterzuentwickeln. Drogen, Sexsucht und Alkohol führen zu seinem persönlichen Untergang. Nur die – nicht jüdische – Ehefrau erhält ihm am Leben.
Jenny, die Jüngste und nach der Entführung geboren, trennt sich von der Familie, bleibt aber, als ewig Studierende Gewerkschaftlerin, im Gegenspiel reich und arm verhaftet.
Die Geschichte ist interessant erzählt. Die Entführung wird nie aufgeklärt. Dem Leser fallen während des Lesens immer neue kleine Puzzlesteine in den Schoß, sodass er sich ein Bild zusammensetzen kann, das dem Opfer Carl niemals vorgelegt wird.
Die Figuren sind durch die Entführung beschädigt worden, bewusst Carl und seine Ehefrau, unbewusst die Kinder, die durch diese Tat verbunden und verwundbar gemacht wurden. Eingesponnen in ihrem familiären Netz können sie nicht mit der Außenwelt in Kontakt treten. Sie leben in einer Blase, deren Wand sie vom „richtigen“ Leben abschirmt. Auch wenn sie mit anderen Menschen in Kontakt treten ist immer die Wand – auch ihr Reichtum – als Puffer dazwischen.
„Was man nie gesehen hatte, … konnte man nicht haben wollen.“ (S. 534)
Man lernt einiges über die jüdischen Sitten und Gebräuche, Familienbande und Snobismus. Sobald man sich auf die Geschichte einlässt kann man nicht mehr aufhören zu lesen. Die Geschichte aus drei Perspektiven erklärt zu bekommen, macht Spaß, da jedes Kind andere Aspekte in seinem Leben für wichtig hält und so immer mehr Details bekannt werden.
Für die Familie Fletcher gibt es keine Erlösung aus dem Trauma der Entführung. Als Carl und seine Mutter 27 Jahre nach der Entführung sterben hinterlassen sie alle in eine neue Freiheit, aber sie werden ihre Familiengeschichte nicht ausblenden.
Für alle die sich mit dem Leben von reichen, jüdischen Familien auseinandersetzen und sich dabei unterhalten wollen. Etwas Kritik an diesem Leben fließt so nebenbei mit, macht die Personen aber nicht unsympathisch.

Bewertung vom 13.02.2025
Der große Riss
Henríquez, Cristina

Der große Riss


ausgezeichnet

Gigantisches Vorhaben
Gerade jetzt, wo der gerade angelobte Präsident der USA wieder seine Hand auf den Panamakanal legen möchte kommt dieses Buch in den Handel.
An Hand mehrerer Einzelschicksale, überwiegend Frauen, wird die erste amerikanische Bauphase des Kanals geschildert. Die sozialen Unterschiede auf „neutralem Boden“ wurden nicht aufgehoben, eher verstärkt. Auf der einen Seite die Amerikaner, die es sich gut gehen ließen, das Ganze als Abenteuer verstanden bei dem man gut verdienen konnte und kaum Arbeit hatte. Auf der anderen Seite, die für die Arbeit eingewanderten Arbeiter, die von früh bis spät gruben und schaufelten, um die notwendigen Erdmassen zu bewegen. Grub die eine Seite auf, wurde an anderer Stelle wieder aufgeschüttet, um die notwendigen Staumauern zu gestalten. Ein mächtiger Strom von Erde wurde jahrelang durchs Land bewegt.
Diese Geschichte erzählen einige Menschen durch ihre Taten, die in diesem Buch eine Stimme finden, aber es nicht in die Geschichtsbücher geschafft haben. Dort stehen die Ingenieure und der Name des ersten Schiffes, welches den Kanal durchquerte.
Aus der Vielzahl der ProtagonistenInnen ist mir Ada Bunting ans Herz gewachsen. Sie kommt als blinder Passagier nach Panama, weil sie Geld verdienen muss, um ihrer Schwester eine Operation zu bezahlen. Sie finden bald Arbeit als Pflegerin einer kranken Amerikanerin, Marian Oswald, die in ihr eine (die einzige) Freundin findet. Nach dem Tod von Marian kehrt sie wieder nach Barbados zurück. Ihre Schwester ist wieder gesund geworden. Die einzelnen Geschicke verzahnen sich ineinander und könnten sich tatsächlich so abgespielt haben, wie die Autorin Christina Henriquez es hier niederschreibt. Es gelingt ihr die Zeit anhand der Menschenschicksale eindrücklich darzustellen. Eine erste „sit in“ Demo wird beschrieben um die Ansiedelung eines Ortes zu verhindern. Die Einsamkeit und Sprachlosigkeit der Menschen untereinander zieht sich über hunderte von Seiten und betrifft Arme (Fischer und Sohn) ebenso wie reiche Amerikaner (Familie Oswald). Das Buch versteht es die Geschichte mit Geschichten darzustellen und überzeugt.
Für alle die Geschichte aus der Sicht der betroffenen Menschen kennenlernen möchten. Hier besonders aktuell der Panamakanal als Spielball der Amerikaner einst und jetzt.

Bewertung vom 06.02.2025
Ab ins Bett, Winnifrett!
Sabbag, Britta

Ab ins Bett, Winnifrett!


ausgezeichnet

Genau richtig
Das Vorlesebuch greift sich genau richtig an - 22 Seiten, Pappkarton, robust, wasserabweisend, bunt bedruckt. Genau richtig für ein kleines Kind, das erst lernen muss mit Büchern umzugehen.
Die Zeichnungen sind aquarelliert und in gedeckten Farben gemalt. Als nicht allzu bunt und farbenfroh, um die Aufmerksamkeit nicht zu sehr abzulenken. Die Zeichnungen sind sehr verspielt, nicht realistisch, sondern lassen die Phantasie noch einige Gedanken anregen.
Das Frettchen Winnifrett möchte nicht schlafen und entzieht sich Vater und Mutter mit allerlei Tricks vor dem zu Bett gehen. Dabei zieht er alle Register, um ja nicht schlafen gehen zu müssen.
Die Zeichnungen konzentrieren sich auf die jeweilige Situation, Hintergründe sind fast immer einfarbig, die Szenerie aber sehr detailliert ausgeführt. Während die Geschichte vorgelesen wird, kann das Kind sich ganz auf die Bilder konzentrieren. Die Seitentexte sind kurz, gereimt und stehen immer am Bildrand. Zusätzlich gibt es meist eine Frage, um die Aufmerksamkeit aufs Buch zu lenken.
Als Einschlafbuch gedacht, bietet es viele Anregungen wie man dasselbe umgehen und vermeiden kann. Witzige Zeichnungen mit liebevoll gezeichneten Details.
Mein Enkelkind ist beim ersten Vorlesen nicht eingeschlafen, aber wir haben vor das Buch noch einige Male zu lesen. Was kann man also mehr erwarten! Genau richtig.

Bewertung vom 27.01.2025
Sing mir vom Tod
Pochoda, Ivy

Sing mir vom Tod


gut

Gewalt
Im Gefängnis erzählt eine Mörderin über ein Bild, ein Wandbild an einer Kreuzung in L.A., das sich beim Betrachten bewegen soll. Es ist die Geschichte zweier Frauen, Dios und Florida und an dieser Kreuzung endet alles.
Der Roman spielt in der Zeit um 2020, Corona lässt die Städte Amerikas vereinsamen. Die Straßen sind leer, nur wenige laufen ohne Maske durch die endlosen Straßenzüge. Was ist das Geheimnis der beiden Frauen? Kace, eine Mörderin, erzählt die Geschichte aus dem Gefängnis heraus, sie war mit einer der beiden in einer Zelle eingesperrt.
Florida kommt aus geordneten Verhältnissen, wird jedoch früh eine Müßiggängerin und steht immer kurz davor das Gesetz zu verletzen. Schließlich wird sie mitschuldig am Tod zweier Menschen.
Dios Vergangenheit bleibt rätselhaft, von Gönnern unterstützt macht sie ihren Highschoolabschluß und muss dann wegen schwerer Körperverletzung in den Knast.
Die beiden sind verbunden durch Tina, ein Mithäftling, die bei einer Revolte zu Tode kommt. Seit diesem Zeitpunkt verfolgt Dios Florida, da sie diese für Tinas Tod verantwortlich macht.
Beide Frauen werden vorzeitig entlassen, sollen die Quarantäne im selben Motel absitzen. Als Florida Essen holen will ergreift sie die Möglichkeit mit einem illegalen verkehrenden Reisebus in ihre Heimat L.A. zurückzukehren. Die sie beobachtende Dios steigt ebenfalls in den Wagen, ein mitfahrender Gefängnisaufseher stirbt und eine Spirale der Gewalt beginnt sich um die beiden Frauen zu drehen.
Im ersten Teil wird die Geschichte in schwierig zu lesenden Passagen aus Retrospektive und Gegenwart erzählt. Dominat ist hier Kace, die von Toten aufgesucht wird und von diesen Informationen über Florida und Dios erhält. Erst mit dem Auszug aus dem Gefängnis und dem Auftritt der ermittelnden Kriminalistin Lobos entsteht ein gleichförmiger Erzählstrang. Auch Lobos ist eine Getriebene, sie ist die weitaus bestens beschriebene Figur des Romans. Ihr Leben, so problematisch es auch ist, kann nachvollzogen werden und macht sie sympathisch. Auch sie wird von Dämonen getrieben (ihrem Ehemann) wird aber am Ende diese abstreifen.
Spannend sind die losen Enden (wer hat wen getötet) die erst spät verknüpft werden. Die Gewalt die Dios ausübt, um Florida auf ihre – die dunkle – Seite zu ziehen, ist für mich nicht nachvollziehbar, so wahllos tötet diese Frau. Ein Satz von Dios ist für mich prägend „Nichts .. ist vorbei. Es hat gerade erst angefangen“. Und so schreibt Ivy Pochoda auch diesen Roman, immer nach vorne zum nächsten Unglück, zum nächsten Toten. Es gibt den Stillstand – wie beim Western – erst auf der leeren Straße, wenn sich die Frauen gegenüberstehen und Lobos eine Entscheidung treffen muss.
Lob meinerseits geht vor allem an den Übersetzer Stefan Lux, der unter anderem die komplexen Gedanken von Kace sehr ansprechend niederschreibt.
Für alle die einen Roman lesen wollen, in dem ausschließlich Frauen von Gewalt beherrscht werden und ihrerseits diese Gewalt ausüben. Das Geschehen spielt im übervollen Gefängnis und auf nahezu einsamen – dank Korona – leeren Straßen, wie wir es aus den alten Western kennen und mit einem „shootout“ endet es ja auch.

Bewertung vom 11.12.2024
Not your Darling
Blake, Katherine

Not your Darling


ausgezeichnet

Ein spannender Einblick ins Hollywood der 50iger Jahre
Am Titelbild blickt mich eine junge Frau an. Sie trägt einen weichen Filzhut, der ihre langen lockigen Haare bedeckt. Eine Kostümjacke mit leichtem Karomuster vollendet diesen Auftritt. Der Blick wirkt fordernd, ja einladend – wie die ersten Seiten des Buches. Was folgt ist ein witziger, spannender Roman, eingebettet in die Atmosphäre der Filmstudios Kaliforniens der 50iger Jahre.
Ich habe sie gleich ins Herz geschlossen, diese Kleinkriminelle Loretta. Sie wirkt frisch, dem Abenteuer Hollywood stellt sie sich entschlossen entgegen und die Wahrheit, nun die ist ja wohl eine Ansichtssache. Kalifornien, Sunset Boulevard, Filmkarriere - der Traum aller jungen Menschen, aber Loretta möchte Maskenbildnerin werden. Ihre ersten Kunden sind die Prostituierten aus dem Nebenhaus. Nach der Hochzeit mit Raphael Goddard, Chef der Blue Book Modellagentur und angehender Filmstar, gerät sie in die Mühlen der L.A. Partyszene, eine Orgie übersteht sie nur mit der Hilfe des Drehbuchschriftstellers Eliot Scott. Dank ihrer Frechheit wird sie beim berühmtesten Visagisten in Hollywood angestellt.
K. Blake gelingt es die Atmosphäre des Hollywoods der 50iger einzufangen. Die Hauptfigur Loretta behauptet sich in der Männerwelt der Filmstudios mit natürlichem Charme und Chuzpe. Diese Frau hat Potenzial (auch für eine TV-Serie) und nutzt jeden Vorteil, den sie bekommt. Ihre kleinkriminelle Ader hilft ihr in manch ausweglosen Situationen. Die Emanzipation der Frau beginnt hier, in der Gestalt der Loretta Darling.
Für alle die sich auf einen kurzweiligen Ausflug nach Hollywood begeben und Anspielungen auf zeitgenössische Akteure entschlüsseln wollen. In einer Zeit in der die Frauen beginnen sich gegen die männlichen Chauvinisten aufzulehnen und mit allen (wirklich allen) Möglichkeiten gegen die etablierten Rollen ankämpfen, findet sich in Loretta Darling eine geeignete Kämpferin.

Bewertung vom 26.11.2024
Carmilla
Le Fanu, Sheridan

Carmilla


sehr gut

Das Titelbild zeigt eine blutrote Flamme, blickt man aber genauer hin erkennt man einen Frauenkörper, der von langen schwarzen Haaren geformt wird. Mehrdeutig, wie auch der Roman der vor über 180 Jahren entstanden ist.
Zunächst wird die Geschichte Lauras erzählt, die mit ihrem Vater abgeschieden in einem Schloss in der Provinz lebt und sich mit der Ankunft einer jungen Frau – Carmilla – etwas Abwechslung im Alltag erhofft. Carmilla bleibt aber meist bis mittags in ihrem Zimmer und gleichzeitig verschlechtert sich die Gesundheit von Laura rapide. Die Zuneigung der beiden Frauen zueinander kann auch als Liebesbeziehung gedeutet werden, in der sich die jüngere der beiden gleichsam auflöst.
Als ein alter Freund im Schloss eintrifft und die Symptome der Krankheit Lauras dem Einfluss eines Vampirs zuordnet beginnt die Jagd auf die im naheliegenden, verlassenen Dorf befindliche Brutstätte der Bösen.
Der Roman soll das Vorbild aller nachfolgenden Vampirgeschichten sein. Der Vampirismus wird hier subtil behandelt. Erst mit dem Versuch die „Urmutter“ des Bösen zu vernichten werden die üblichen Methoden einen Vampir zu töten angesprochen. Bis dahin verbleibt die LeserIn noch immer der Gedanke, dass eine Krankheit, oder die Melancholie (Liebesschmerz) schuld am Gesundheitszustand Lauras ist. Sicherlich kannte man 1872 keine knallharten Schocker Horrorromane sondern verklausulierte alles unter dem Mantel der reinen Gefühle. So muss der letzte Teil des Buches wie ein Schock für die LeserIn gewesen sein, als eine lebendige Leichen geköpft, gepfählt und verbrannt wurde.
Für alle die einen historischen Vampirroman lesen wollen. Kein Splatter oder Horrorroman sondern eine „gothic novel“ die im Grunde eine Liebe beschreibt die tragisch endet.

Bewertung vom 20.11.2024
Gefährliche Betrachtungen
Eckardt, Tilo

Gefährliche Betrachtungen


sehr gut

Urlaub eines Pedanten
Das Titelbild zeigt einen Mann im Anzug, allein an einem Strand umgeben von zwei kahlen Bäumen, die wie ein Periskop den Blick auf die einsame Gestalt fokussiert. Ein Wanderer, ein Verirrter oder ein Suchender? Tatsächlich ist es Thomas Mann, der im kleinen Künstlerdorf Nidden (Ostpreußen) seinen Sommerurlaub verbringt. Das Haus dort hat er sich von seinem Nobelpreis 1929 erbauen lassen.
Der Erzähler, der junge litauischen Übersetzer Žydrūnas Miuleris, von Mann Müller genannt, möchte das Werk des Schriftstellers in seine Heimatsprache übersetzen. Bei seiner ersten Begegnung kann der Eidetiker einen Blick auf einige Seiten der aktuellen Notizen des Künstlers werfen und fertigt leichtsinnig eine Kopie davon an. So beginnt das Schlamassel, denn er verliert diese Niederschrift. Die Suche danach führt uns durch den kleinen Ort, wir lernen die Familie Mann, die Bewohner und das Künstlervolk kennen. Die beiden verrennen sich in Theorien über den Verbleib der Blätter und erhalten das Gesuchte letztlich durch den Verlust eines Menschenlebens.
Die noch unberührte Küste der Nehrung wird eindrucksvoll in langen Spaziergängen beschrieben. Überhaupt bewegt sich die Suche wie Dünen in langgezogenen Bahnen an immer denselben Stellen. Statisch ohne viel Aufheben kehren die Suchenden an dieselben Orte (Gasthaus, Sommerhaus, Pension, Küste) zurück, mit neuen Ansätzen um die verlorenen Blätter zu finden. Thomas Mann wird als arrogant und Pedant beschrieben. Sein Aufenthalt ist minuziös geplant, die Aktionen von Müller unterbrechen aber immer wieder diese Abläufe. Sherlock und Watson oder Mann und Müller nennt sich das Gespann bei ihren Versuchen die Notizen wiederzubekommen. Falsche Fährten überwiegen und es braucht lange den aktuellen Besitzer zu enttarnen.
Der Beginn des Nationalsozialismus, die Auflösung der Weimarer Republik und die Position von Mann in der Politik (sieht die Gefahr einer „ faschistischen Pöbelherrschaft“) bilden den Hintergrund der Geschichte. Die Position des Künstlers gegenüber der Politik wird immer wieder thematisiert. Wie politisch darf und muss ein Schriftsteller sein, wie „outet“ er sich? Miuleris erzählt die Geschichte aus seinem Gedächtnis, sechzig Jahre später, und kann so einige Informationen einfließen lassen, die 1930 noch nicht bekannt waren.
Liest man den Untertitel „Der Fall Thomas Mann“ denke ich an Serien wie Miss Merkel von Safier, Queen Elisabeth (Bennett) oder US Präsident Clinton (Clinton/Patterson) – das ist dieses Buch aber nicht. Ich bekomme hier einen Einblick in das Leben des berühmten deutschen Schriftstellers unter Einbezug seiner historischen und familiären Umgebung. Der „Krimi“ ist dazu nur eine Klammer, um diese Konstellation einzufangen.
Für alle die sich für die Geschichte Deutschlands kurz für der Machtübernahme der Nationalsozialisten interessieren. Sie können sich dies in Form einer sich langsam entwickelnden, nur bedingt heiteren, Krimihandlung im Schriftstellermilieu einer Künstlerkolonie zu Gemüte führen.

Bewertung vom 11.11.2024
Wir finden Mörder Bd.1
Osman, Richard

Wir finden Mörder Bd.1


ausgezeichnet

Personenschutz einmal anders
Schnell wird man in die Welt der Personenschützerin Amy Wheeler integriert. Die Figur ist lebendig beschrieben, ihre Aufgabe – die Ermordung der berühmten Schriftstellerin Rosie D’Antonio zu verhindern – kehrt sich aber schon bald ins Gegenteil. Amy selbst wird Ziel von Mordanschlägen und kann sich nur mit Hilfe ihrer Klientin am Leben halten. Als weiterer Helfer dient der Schwiegervater Steve, der in England eigentlich einen ruhigen Lebensabend verbringen will, aber alsbald um die Welt reisen wird. Spaßig und mit Spannung versetzt ist diese Verfolgungsjagd beschrieben. Tatsächlich sind die ersten beiden Drittel des Buches sogenannte „pageturner“, man kann gar nicht aufhören zu lesen. Erst im letzten Drittel kommen allzu viele Verdächtige und Lösungen aufs Tableau und ich erhoffe bald den Bösewicht hinter Gittern zu sehen.
Der Roman ist eine Mischung aus weiblichem James Bond und skurrilem britischen Humor. Er verrinnt praktisch zwischen den Fingern. Eine Lektüre, die sich als perfekter Zeitvertreib im Urlaub eignet.
Am Titelblatt sonnt sich eine Katze, die auf einem Gewehrlauf sitzt, im Licht der Abendsonne. Ein Insiderwitz zwischen dem Künstler Richard Bravery und dem Autor (Quelle: Danksagung S.423). Und solche Witze dürfte es mehr geben, denn der Autor hat auch die Donnerstagsmordclub Bücher geschrieben. Ich kenne davon nur den ersten Band und bin somit noch nicht Teil des Osman Universums. Ein großes Lob auch an Sabine Roth und Elke Link. Ihre Übersetzung erzählt die Geschichte so witzig und lebhaft wie es das Original nicht besser könnte.
Der deutsche Buchtitel scheint mir jedoch vollständig am Inhalt vorbeigegangen, heißt das Original doch „We solve Murder“ und entspricht dem Inhalt viel mehr als der platte Untertitel – Sie haben den Fall. Wir haben die Lösung.
Für alle die Abenteuer mit Spannung wie bei James Bond und Humor a la Monty Python lieben und diese Eigenschaften in einem skurrilen Trio wiederfinden wollen.

Bewertung vom 04.11.2024
Tage einer Hexe
Dimova, Genoveva

Tage einer Hexe


sehr gut

Schmutzige Tage
Nimmt man das Buch zur Hand gefällt mir der geprägte Titel des Schutzumschlags und der Buchschnitt mit dem vom Titelbild übernommenen Blumenmotiv.
Die Autorin Genoveva Dimova (geboren in Bulgarien) kann ihre Herkunft in dem vorliegenden Erstling nicht verleugnen. Der von Balkanfolklore inspirierte Fantasyroman hat viele Anspielungen an die Dämonnwelt des östlichen Europas. Es wimmelt hier von Varklolaks (Werwölfen), Karakonjuls (Menschenfleichfresser) oder Ruskala (Geister von Ertrunkenen), die aber das kleinere Problem der Hauptperson des Romans sind. Die Hexe Korsara nämlich hat ihren Schatten verspielt und ohne diesen wird sie in Kürze sterben. Der Roman verfolgt nun die Bemühungen Korsaras innerhalb weniger „schmutziger Tage“, den Schatten zurückzubekommen. Zunächst innerhalb der Stadtmauern der verfluchten Stadt Chernograd, aber bald schon im Nachbarort Belograd. Dort kommt sie in (enge) Verbindung zum Polizisten Asen, der sie in ihrem Kampf gegen den Zar der Monster Zmey unterstützt.
Liest man das Buch wird man in eine gewalttätige Welt entführt. Während der Schmutzigen Tage sind die Menschen Chernograds Freiwild für die Dämonen. Die Schilderung der Monster erinnert an Geschichten aus den ehemaligen Ostblockländern und auch die gewaltige Mauer, die jeden Fluchtversuch verhindern möchte, verstärkt diesen Gedanken. Kosara ist keine sympathische Person, immer auf ihren Vorteil bedacht, von ihren Dämonen der Vergangenheit besessen, wird man nur langsam warm mit ihr, fiebert aber letztlich bei ihrem Überlebenskampf mit.
Als Sidekick hat sie sich einen Polizisten eingefangen, der selbst einige Geheimnisse hütet, sie bis zum Äußersten unterstützt, was nicht immer auf Gegenseitigkeit beruht. Dieser Polizist möchte einen Mordfall aufklären dessen Spuren in den verfluchten Stadtteil führen. Sind die beiden Jäger oder Gejagte? Nicht immer ist ihre Rolle eindeutig.
Ich habe den Roman unterschätzt, zunächst als Gruselgeschichte abgetan, aber mit zunehmender Länge wird er komplexer und spannender, sodass ich ihn bis zum Ende nicht mehr weglegen konnte.
Für alle die Geistergeschichten aus dem russischen Umfeld lesen wollen und auf eine Krimihandlung nicht verzichten können. Durchaus und wie es scheint tatsächlich (s. hompage der Autorin) der Beginn einer Serie.

Bewertung vom 16.10.2024
Antichristie
Sanyal, Mithu

Antichristie


gut

Postkoloniale Verwerfung
Das Titelbild ist oben und unten mit einem indischen Ornament geschmückt, ein riesiger Tiger scheint die Queen Elizabeth II anzugreifen. In diesem Buch wird England und die Geschichte Indiens eine große Rolle spielen.
Durga ist Deutsche mit indischem Vater. Ihre Mutter eine emanzipierte Unabhängigkeitskämpferin, sei es für Frauenrechte oder später für die indische Unabhängigkeit, stirbt gleich am Anfang und beim Verstreuen ihrer Asche spürt Durga nochmals ihre Mutter zwischen den Zähnen. Die Erinnerung an Sie dominiert die Kindheit der jungen Drehbuchautorin und auch noch in ihren späteren Jahren wird ihre Begeisterung für den Freiheitskampf der Inder ihr Leben beeinflussen. Wie?
Nun knapp nach der Beerdigung (besser Verschüttung der Asche) reist Durga zu einem Workshop nach London. Im Agatha Christie Writers Room sollen neue Ansätze für eine politisch korrekte Verfilmung von Hercule Poirots Romanen erarbeitet werden. Durga findet sich aber plötzlich als Mann und im indischen Widerstand gegen die Kolonialmacht England im Jahre 1905 wieder. Im India House lernt sie all die Helden des Befreingskampfes kennen, die ihre Mutter in ihrem Leben idealisiert hatte. Im Verlauf des Romans wechselt sie nun laufend (wirklich rasant) die beiden Epochen.
Der Roman spielt nun zwischen den beiden Zeitebenen. Als junger Inder Janjeev lernt sie, dass gewaltloser Widerstand zunächst von Gewalt (Attentate, Bombenbau) angetrieben werden muss, als Durga, dass Agatha Christie sakrosankt in England ist. Die Zeiten wechseln für mich als Leser so abrupt, dass ich (und auch Durga) stellenweise nur durch den Namen der Protagonisten feststellen kann in welcher Gestalt ich mich befinde – .. Welche Zeit war real? Die Kutschentaxis-und-Bombenbau-India-House-Zeit oder die Poirot-umschreiben-und-vor-der-Tür-dafür-beschimpft-werden-Zeit-im-Florin-Court?. S. 224. Beim Lesen erfährt man viel über Aufstände, Massaker und Attentate, die überlagert wurden von DER Geschichte des gewaltfreien Marsches von Mahatma Gandhi und Kurzweiliges darüber einen Film kulturhistorisch richtig zu inszenieren. Gott sei Dank ergänzt das Buch ein Glossar mit den wichtigsten Personen, dennoch ist es schwierig den langen Passagen über den Freiheitskampf zu folgen.
Ein Buch für alle die sich über den Freiheitskampf der Inder informieren wollen und nicht zögern langatmige Passagen über den Widerstand zwischen verschiedenen Fraktionen der Freiheitskämpfer zu lesen. Für mich war es schwierig bis zum Schluss durchzuhalten.