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Benutzername: 
robertp
Wohnort: 
Guntramsdorf

Bewertungen

Insgesamt 30 Bewertungen
Bewertung vom 20.11.2024
Gefährliche Betrachtungen
Eckardt, Tilo

Gefährliche Betrachtungen


sehr gut

Urlaub eines Pedanten
Das Titelbild zeigt einen Mann im Anzug, allein an einem Strand umgeben von zwei kahlen Bäumen, die wie ein Periskop den Blick auf die einsame Gestalt fokussiert. Ein Wanderer, ein Verirrter oder ein Suchender? Tatsächlich ist es Thomas Mann, der im kleinen Künstlerdorf Nidden (Ostpreußen) seinen Sommerurlaub verbringt. Das Haus dort hat er sich von seinem Nobelpreis 1929 erbauen lassen.
Der Erzähler, der junge litauischen Übersetzer Žydrūnas Miuleris, von Mann Müller genannt, möchte das Werk des Schriftstellers in seine Heimatsprache übersetzen. Bei seiner ersten Begegnung kann der Eidetiker einen Blick auf einige Seiten der aktuellen Notizen des Künstlers werfen und fertigt leichtsinnig eine Kopie davon an. So beginnt das Schlamassel, denn er verliert diese Niederschrift. Die Suche danach führt uns durch den kleinen Ort, wir lernen die Familie Mann, die Bewohner und das Künstlervolk kennen. Die beiden verrennen sich in Theorien über den Verbleib der Blätter und erhalten das Gesuchte letztlich durch den Verlust eines Menschenlebens.
Die noch unberührte Küste der Nehrung wird eindrucksvoll in langen Spaziergängen beschrieben. Überhaupt bewegt sich die Suche wie Dünen in langgezogenen Bahnen an immer denselben Stellen. Statisch ohne viel Aufheben kehren die Suchenden an dieselben Orte (Gasthaus, Sommerhaus, Pension, Küste) zurück, mit neuen Ansätzen um die verlorenen Blätter zu finden. Thomas Mann wird als arrogant und Pedant beschrieben. Sein Aufenthalt ist minuziös geplant, die Aktionen von Müller unterbrechen aber immer wieder diese Abläufe. Sherlock und Watson oder Mann und Müller nennt sich das Gespann bei ihren Versuchen die Notizen wiederzubekommen. Falsche Fährten überwiegen und es braucht lange den aktuellen Besitzer zu enttarnen.
Der Beginn des Nationalsozialismus, die Auflösung der Weimarer Republik und die Position von Mann in der Politik (sieht die Gefahr einer „ faschistischen Pöbelherrschaft“) bilden den Hintergrund der Geschichte. Die Position des Künstlers gegenüber der Politik wird immer wieder thematisiert. Wie politisch darf und muss ein Schriftsteller sein, wie „outet“ er sich? Miuleris erzählt die Geschichte aus seinem Gedächtnis, sechzig Jahre später, und kann so einige Informationen einfließen lassen, die 1930 noch nicht bekannt waren.
Liest man den Untertitel „Der Fall Thomas Mann“ denke ich an Serien wie Miss Merkel von Safier, Queen Elisabeth (Bennett) oder US Präsident Clinton (Clinton/Patterson) – das ist dieses Buch aber nicht. Ich bekomme hier einen Einblick in das Leben des berühmten deutschen Schriftstellers unter Einbezug seiner historischen und familiären Umgebung. Der „Krimi“ ist dazu nur eine Klammer, um diese Konstellation einzufangen.
Für alle die sich für die Geschichte Deutschlands kurz für der Machtübernahme der Nationalsozialisten interessieren. Sie können sich dies in Form einer sich langsam entwickelnden, nur bedingt heiteren, Krimihandlung im Schriftstellermilieu einer Künstlerkolonie zu Gemüte führen.

Bewertung vom 11.11.2024
Wir finden Mörder Bd.1
Osman, Richard

Wir finden Mörder Bd.1


ausgezeichnet

Personenschutz einmal anders
Schnell wird man in die Welt der Personenschützerin Amy Wheeler integriert. Die Figur ist lebendig beschrieben, ihre Aufgabe – die Ermordung der berühmten Schriftstellerin Rosie D’Antonio zu verhindern – kehrt sich aber schon bald ins Gegenteil. Amy selbst wird Ziel von Mordanschlägen und kann sich nur mit Hilfe ihrer Klientin am Leben halten. Als weiterer Helfer dient der Schwiegervater Steve, der in England eigentlich einen ruhigen Lebensabend verbringen will, aber alsbald um die Welt reisen wird. Spaßig und mit Spannung versetzt ist diese Verfolgungsjagd beschrieben. Tatsächlich sind die ersten beiden Drittel des Buches sogenannte „pageturner“, man kann gar nicht aufhören zu lesen. Erst im letzten Drittel kommen allzu viele Verdächtige und Lösungen aufs Tableau und ich erhoffe bald den Bösewicht hinter Gittern zu sehen.
Der Roman ist eine Mischung aus weiblichem James Bond und skurrilem britischen Humor. Er verrinnt praktisch zwischen den Fingern. Eine Lektüre, die sich als perfekter Zeitvertreib im Urlaub eignet.
Am Titelblatt sonnt sich eine Katze, die auf einem Gewehrlauf sitzt, im Licht der Abendsonne. Ein Insiderwitz zwischen dem Künstler Richard Bravery und dem Autor (Quelle: Danksagung S.423). Und solche Witze dürfte es mehr geben, denn der Autor hat auch die Donnerstagsmordclub Bücher geschrieben. Ich kenne davon nur den ersten Band und bin somit noch nicht Teil des Osman Universums. Ein großes Lob auch an Sabine Roth und Elke Link. Ihre Übersetzung erzählt die Geschichte so witzig und lebhaft wie es das Original nicht besser könnte.
Der deutsche Buchtitel scheint mir jedoch vollständig am Inhalt vorbeigegangen, heißt das Original doch „We solve Murder“ und entspricht dem Inhalt viel mehr als der platte Untertitel – Sie haben den Fall. Wir haben die Lösung.
Für alle die Abenteuer mit Spannung wie bei James Bond und Humor a la Monty Python lieben und diese Eigenschaften in einem skurrilen Trio wiederfinden wollen.

Bewertung vom 04.11.2024
Tage einer Hexe
Dimova, Genoveva

Tage einer Hexe


sehr gut

Schmutzige Tage
Nimmt man das Buch zur Hand gefällt mir der geprägte Titel des Schutzumschlags und der Buchschnitt mit dem vom Titelbild übernommenen Blumenmotiv.
Die Autorin Genoveva Dimova (geboren in Bulgarien) kann ihre Herkunft in dem vorliegenden Erstling nicht verleugnen. Der von Balkanfolklore inspirierte Fantasyroman hat viele Anspielungen an die Dämonnwelt des östlichen Europas. Es wimmelt hier von Varklolaks (Werwölfen), Karakonjuls (Menschenfleichfresser) oder Ruskala (Geister von Ertrunkenen), die aber das kleinere Problem der Hauptperson des Romans sind. Die Hexe Korsara nämlich hat ihren Schatten verspielt und ohne diesen wird sie in Kürze sterben. Der Roman verfolgt nun die Bemühungen Korsaras innerhalb weniger „schmutziger Tage“, den Schatten zurückzubekommen. Zunächst innerhalb der Stadtmauern der verfluchten Stadt Chernograd, aber bald schon im Nachbarort Belograd. Dort kommt sie in (enge) Verbindung zum Polizisten Asen, der sie in ihrem Kampf gegen den Zar der Monster Zmey unterstützt.
Liest man das Buch wird man in eine gewalttätige Welt entführt. Während der Schmutzigen Tage sind die Menschen Chernograds Freiwild für die Dämonen. Die Schilderung der Monster erinnert an Geschichten aus den ehemaligen Ostblockländern und auch die gewaltige Mauer, die jeden Fluchtversuch verhindern möchte, verstärkt diesen Gedanken. Kosara ist keine sympathische Person, immer auf ihren Vorteil bedacht, von ihren Dämonen der Vergangenheit besessen, wird man nur langsam warm mit ihr, fiebert aber letztlich bei ihrem Überlebenskampf mit.
Als Sidekick hat sie sich einen Polizisten eingefangen, der selbst einige Geheimnisse hütet, sie bis zum Äußersten unterstützt, was nicht immer auf Gegenseitigkeit beruht. Dieser Polizist möchte einen Mordfall aufklären dessen Spuren in den verfluchten Stadtteil führen. Sind die beiden Jäger oder Gejagte? Nicht immer ist ihre Rolle eindeutig.
Ich habe den Roman unterschätzt, zunächst als Gruselgeschichte abgetan, aber mit zunehmender Länge wird er komplexer und spannender, sodass ich ihn bis zum Ende nicht mehr weglegen konnte.
Für alle die Geistergeschichten aus dem russischen Umfeld lesen wollen und auf eine Krimihandlung nicht verzichten können. Durchaus und wie es scheint tatsächlich (s. hompage der Autorin) der Beginn einer Serie.

Bewertung vom 16.10.2024
Antichristie
Sanyal, Mithu

Antichristie


gut

Postkoloniale Verwerfung
Das Titelbild ist oben und unten mit einem indischen Ornament geschmückt, ein riesiger Tiger scheint die Queen Elizabeth II anzugreifen. In diesem Buch wird England und die Geschichte Indiens eine große Rolle spielen.
Durga ist Deutsche mit indischem Vater. Ihre Mutter eine emanzipierte Unabhängigkeitskämpferin, sei es für Frauenrechte oder später für die indische Unabhängigkeit, stirbt gleich am Anfang und beim Verstreuen ihrer Asche spürt Durga nochmals ihre Mutter zwischen den Zähnen. Die Erinnerung an Sie dominiert die Kindheit der jungen Drehbuchautorin und auch noch in ihren späteren Jahren wird ihre Begeisterung für den Freiheitskampf der Inder ihr Leben beeinflussen. Wie?
Nun knapp nach der Beerdigung (besser Verschüttung der Asche) reist Durga zu einem Workshop nach London. Im Agatha Christie Writers Room sollen neue Ansätze für eine politisch korrekte Verfilmung von Hercule Poirots Romanen erarbeitet werden. Durga findet sich aber plötzlich als Mann und im indischen Widerstand gegen die Kolonialmacht England im Jahre 1905 wieder. Im India House lernt sie all die Helden des Befreingskampfes kennen, die ihre Mutter in ihrem Leben idealisiert hatte. Im Verlauf des Romans wechselt sie nun laufend (wirklich rasant) die beiden Epochen.
Der Roman spielt nun zwischen den beiden Zeitebenen. Als junger Inder Janjeev lernt sie, dass gewaltloser Widerstand zunächst von Gewalt (Attentate, Bombenbau) angetrieben werden muss, als Durga, dass Agatha Christie sakrosankt in England ist. Die Zeiten wechseln für mich als Leser so abrupt, dass ich (und auch Durga) stellenweise nur durch den Namen der Protagonisten feststellen kann in welcher Gestalt ich mich befinde – .. Welche Zeit war real? Die Kutschentaxis-und-Bombenbau-India-House-Zeit oder die Poirot-umschreiben-und-vor-der-Tür-dafür-beschimpft-werden-Zeit-im-Florin-Court?. S. 224. Beim Lesen erfährt man viel über Aufstände, Massaker und Attentate, die überlagert wurden von DER Geschichte des gewaltfreien Marsches von Mahatma Gandhi und Kurzweiliges darüber einen Film kulturhistorisch richtig zu inszenieren. Gott sei Dank ergänzt das Buch ein Glossar mit den wichtigsten Personen, dennoch ist es schwierig den langen Passagen über den Freiheitskampf zu folgen.
Ein Buch für alle die sich über den Freiheitskampf der Inder informieren wollen und nicht zögern langatmige Passagen über den Widerstand zwischen verschiedenen Fraktionen der Freiheitskämpfer zu lesen. Für mich war es schwierig bis zum Schluss durchzuhalten.

Bewertung vom 20.08.2024
Sobald wir angekommen sind
Lewinsky, Micha

Sobald wir angekommen sind


ausgezeichnet

Krise, aber überwiegend heiter
Das Titelbild zeigt uns eine geheimnisvolle Dschungelstadt. Ein Raubtier blickt uns bedrohlich ins Gesicht und über allem steht der volle Mond. Das Titelbild ist ansprechend und schon nach einigen Seiten gefällt mir dieses Buch außergewöhnlich gut. Der Krieg an der Grenze zu Europa, Ben ein Schweizer, der nicht weiß wohin er im Fall der Fälle flüchten soll. Obwohl die Lage nicht lustig ist, ist der Humor in den Zeilen immanent. Während die NATO vom Atomkrieg ausgeht stellt seine noch Ehefrau Marina fest, dass kein Olivenöl mehr im Haus ist.
Ben ist Jude, Verfolgung liegt in seinen Genen, seine neue Freundin Julia ist eine Schweizer Künstlerin. Bei ihr verbringt er die Hälfte der Woche, da er Sorgerecht und Bett mit Marina teilt – wohnen ist teuer in der Schweiz. Hals über Kopf will die Noch-Ehefrau nach Brasilien, ein Atomanschlag ist unvermeidlich sagen die Medien. Marina nimmt ihren Ehemann mit nach Recife. Ben wollte eigentlich nach Petropolis, wie sein Vorbild Stefan Zweig. Und so geht es ins Exil – „.. er konnte unmöglich mit Julia nach Brasilien fahren …. Brasilien war ein Flucht-, kein Urlaubsziel, das musste man strikt trennen ..“ (S. 35).
Eine tragisch komische Geschichte breitet Micha Lewinsky hier aus. Der Autor aus der Schweiz kommt aus dem Filmgenre und das merkt man dem Roman auch an. Die Handlung findet in Innenräumen statt, die Schweiz und Brasilien bieten die große Hintergrundkulisse. In seinem zweiten Buch schreibt der Drehbuchautor über einen erfolglosen (Drehbuch)Autor – einige Dialoge entspringen vielleicht aus eigenem Erlebnissen.
Der Protagonist sieht in seinem Leben immer die Möglichkeiten, er kann sich aber nicht entscheiden, also folgt er dem geringsten Widerstand. „Vielleicht war das Flickwerk aus Neurosen … das Ben großspurig „sein Leben“ nannte …“ (S.167). Letztlich kommt es zu einer Aussprache mit Marina und einer Rückkehr in die Schweiz. Zuvor erlebt er aber ein enttäuschendes Erlebnis beim Besuch der Casa Zweig.

Für alle die sich kurzweilig unterhalten wollen und dem Humor, auch dem jüdischen, nicht abgeneigt sind.

Bewertung vom 19.08.2024
Reise nach Laredo
Geiger, Arno

Reise nach Laredo


sehr gut

Der müde König
Das Titelbild ist auf den ersten Blick unspektakulär – alles rot. Blickt man näher hin, entdeckt man zwei Reiter, die auf eine kahle rote Festung zureiten.
Die Geschichte wird vom „Privatmann“ Karl erzählt. Karl ist eigentlich Karl V (1500-1558) Kaiser des Hl. Römischen Reiches und König von Spanien. Seine Titel hat er zurückgelegt und er lebt jetzt zurückgezogen in seinem Palast neben dem Kloster von Yuste, wo alle auf seinen Tod warten.
Karl ist alt und sehr krank – die Gicht plagt ihn. Schon ein Bad erfordert eine wissenschaftliche Übung in Hydraulik und Mechanik. Der Umgang mit seinen Mitmenschen erscheint mir mehr aus einem Meister gegen Knecht Verständnis zu entspringen. Männer und Frauen warten darauf ihn zu bedienen, der Tod (Geier) kreist schon über ihm, aber loslassen will er noch nicht. In seinem Spezialstuhl hält er Hof, sagt beleidigende Dinge und fühlt, dass er beleidigt, kann aber nicht anders.
Seinen Frieden findet er einzig im Schlaf und dieser wird ihm durch Laudanum (Opiumtinktur) ermöglicht. Und hier – im Schlaf - beginnt die Reise nach Laredo. Karl reitet mit dem Jungen Geronimo, seinem illegitimen Sohn, mit Pferd und Esel los. Auf Grund seiner Schmerzen muss er aber den Esel benutzen. Auf der Reise treffen sie ein Geschwisterpaar, retten es aus Kalamitäten und reisen gemeinsam weiter. Die Vier verbringen lange Zeit in einem Gasthof eines verlassenen Dorfes. Essen, Trinken und Kartenspielen wechseln einander ab, die Zeit scheint stillzustehen. Ein tragisches Vorfall führt letztlich zur Weiterreise nach Laredo (an der Atlantikküste im Norden Spaniens) wo sich Karl und Geronimo im Meer ein Bad gönnen.
Der Klappentext macht ziemliche Anspielungen auf Don Quijote und dieses Buch habe ich in meiner Jugend ganz gerne gelesen. Tatsächlich haben die beiden Bücher nur die Reise durch Spaniens Hinterland gemeinsam. Im Buch von Arno Geiger sind kaum komische Situationen zu finden. Der geschichtlich wahre Hintergrund wird literarisch durch die „Reise“ ergänzt. Geiger arbeitet die historischen Figuren im Roman zu Antagonisten der Queste um. Die karge Landschaft, das Leben der Menschen im Hinterland (.. des hohen einsamen Landes ..) Spaniens und die Lebensbedingungen der Cagots werden geschildert. Die Cagots waren Ausgestoßenen, die sich einem Enten- oder Gänsefuß aus Stoff anhängen mussten. Ihnen war ein normales Leben verwehrt, sie hatten keine Rechte – Analogien zum 20. Jahrhundert werden deutlich.
Die Reise endet mit einer großen Welle, die über Karls Kopf hinweg bricht, der Exkaiser stirbt in seinem Bett in Yuste.
Für alle die Lust haben eine historische Figur in einer fiktiven, aber glaubhaften, Reiseerzählung kennenzulernen. Ich habe ziemlich viel über das Leben in Spanien im 16. Jahrhundert erfahren.

Bewertung vom 05.08.2024
Das Lied des Propheten
Lynch, Paul

Das Lied des Propheten


ausgezeichnet

Freiheit gesucht
Eilish Stack, Wissenschaftlerin, Mutter von vier Kindern und verheiratet mit Larry wohnt in einem nicht weit entfernten Irland.
Larry wird bei einer Demo von der Polizei inhaftiert und verschwindet im Dschungel der Gerichtsbarkeit. Notstandsgesetze werden einberufen und immer stringenter angewendet. Die Schwester von Eilish, vor Jahren nach Kanada verzogen, bittet diese sich ins Ausland abzusetzen, aber die verzweifelte Frau will weder Heimat noch Ehemann verlassen. Der ältere Sohn geht in den Widerstand, ihr dementer Vater wird nach Kanada überführt, das Eigenheim liegt alsbald in einer Kriegszone und wird teilweise zerstört. Immer noch hält Eilish daran fest zu bleiben, da geschieht das nächste Unglück.
Paul Lynch schreibt von einer Zukunft, die schon eingetreten ist. Kriege in Syrien, aktuell in der Ukraine und Israel bedrohen die Menschen. Per Gesetz werden demokratische Werte abgeschwächt wie zuletzt in Amerika und Ungarn. Somit ist die Geschichte keine Utopie sondern eine Wahrheit und sie zeigt, dass der Mensch sich selbst der größte Feind ist.
Der Autor beschreibt in aufwendiger Bildsprache die Geschehnisse - "Du kannst den Wind nicht aufhalten, .. und der Wind wird durch das ganze Land wehen, .." S. 134 oder " .. das ist ein schwarzes Loch, das sich vor uns auftut, .. und selbst wenn das Regime gestürzt wird, das schwarze Loch wird weiter wachsen und dieses Land auf Jahre verzehren .." S. 155.
Ich habe einige Seiten gebraucht, um mich in die Sprache des Autors einzulesen, je weiter das Geschehen fortschreitet, desto schwieriger wird es die Gedanken von Eilish von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Man ist erschüttert zu lesen wie schnell Bürgerrechte zu leeren Worthülsen verkommen und Menschen zu Dingen werden.
In der Geschichte die völlig aus der Sicht von Eilish erzählt wird, war mir ihr dementer Vater die liebste Figur. Der Mann ist so realistisch dargestellt, so als würde er neben einem stehen. Ich habe mich gefreut als klar wurde, dass er nicht verschollen sondern in Kanada gelandet ist.
Für alle, die über die gegenwärtige Weltlage, ihre Kriege etc. literarisch aufbereitet lesen wollen. Alles Leid, dass ein Krieg mit sich bringt wird geschildert und man hofft, dass dies einen selbst nicht betreffen wird - aber schnell kann. Ein weiteres Buch zum Thema kann ich noch empfehlen - John Lanchester: Die Mauer.

Bewertung vom 15.07.2024
Das Schicksal der Fluchträger - Teil 1: Träume und Erinnerungen
Niklas, Philipp C.

Das Schicksal der Fluchträger - Teil 1: Träume und Erinnerungen


gut

Ein im Wasser liegendes, dunkles Schwert ziert den Umschlag und auch der Titel verheißt Unheil im Land Errion. Der Untertitel weist darauf hin, dass noch mindestens ein Folgeband erscheinen wird. Zwei Burschen - Kellen und Fionn - wie Huck Finn und Tom Sawyer, wollen sie auf Abenteuer aufbrechen als sie ein havariertes Segelschiff finden. Als sie dieses wieder flott machen stoßen sie auf ein altes schäbiges Schwert. Als Fionn dieses berührt kommt es zu einer Reaktion und er wird zum sogenannten Fluchträger. In der Folge wird versucht ihm das Schwert wieder abzunehmen. Dabei wird sein Heimatdorf verwüstet und er findet Zuflucht in der Burg seines Herzogs. Parallel dazu wird die Geschichte von Samanta erzählt, die als Junge Sam verkleidet in den Minen von Nindis arbeitet, um ihre Familie durchzubringen.
In diesem ersten Teil haben die beiden Geschichten keine Beziehung zueinander. Wie diese zusammengeführt werden, wird wahrscheinlich der nächste Band zeigen. Mir hat das Schicksal von Sam besser gefallen, hier ist mehr Dynamik – das Mädchen ist ständig der Gefahr ausgesetzt entlarvt zu werden. Die Story in der Mine ist auch viel spannender erzählt, es wird nicht viel herumgeredet sondern bleibt sozusagen immer am Punkt.
Fionn’s Geschichte wird für mich sehr ausgewalzt und verzettelt sich in unzähligen Details, die in diesem Band nicht aufgelöst werden. Somit bleibt sowohl das Verhältnis der beiden Burschen zueinander unbestimmt (wird aus Freundschaft Liebe?), als auch das Schicksal des Fluchträgers total offen, da die Verfolger ebenfalls in einer scheinbar ausweglosen Situation stagnieren.
Für alle die Fantasiebücher a la Tolkien lieben und sich viel Zeit nehmen wollen, um das „Schicksal des Fluchträgers“ auch zu erleben.

Bewertung vom 22.06.2024
Darwyne
Niel, Colin

Darwyne


ausgezeichnet

Das Titelbild zeigt einen finsteren Mangrovenwald. Auf den gewaltigen Wurzeln liegt eine Rieseneidechse und wartet. Ja worauf ? Auf den Jungen Darwyne, den niemand mag oder ein kleines Beutetier? Im Slum Bois Sec, im Dschungel Französisch-Guayanas, lebt der Bub gemeinsam mit seiner Mutter und deren, sich stets erneuernden, Liebhabern. Darwyne will bei seiner Mutter und dicht am Wald leben, wenn möglich sein Leben lang, auch wenn er Stiefväter von Acht bis Tausend hinnehmen muss. Dieser Wald gibt ihm die Kraft sein Leben, andere Menschen, die Schule zu überstehen.
Die den Dschungel liebende Sozialarbeiterin Mathurine erkennt diese Verbindung, sie fühlt sich dem Jungen nahe, kann aber längerfristig keine Bindung zu ihm aufnehmen.
Wir erlesen die Geschichte eines außergewöhnlichen Jungen mit einer heimlichen Gabe. Eines Sohnes, der seine Mutter wahnsinnig liebt und deshalb alles erträgt, damit sie ihn zurückliebt. Auf der Strecke bleiben die Fremden - Männer die Darwyne fürchten und sich nicht zu wehren wissen.
Mathurine ist die einzig positiv besetzte Person in diesem Roman. Allen andere ist Gewalt, Missbrauch und animalische Wildheit immanent. Die Sozialarbeiterin sehnt sich nach einem Leben im Einklang mit der Natur, so wie Darwyne es bereits lebt, schreckt aber vor der Gewalt, die dieses Leben braucht zurück.
Für alle die Lust haben sich auf eine düstere Familiengeschichte in den Tropen einzulassen. Unheimlich und langsam steigert sich die Spannung und löst sich in einem gewaltigen Tropensturm, der alles zerstört auf.
Die Ähnlichkeit des Namens Darwyne mit Charles Darwin (Evolutionstheoretiker) ist natürlich vom Autor gewollt.

Bewertung vom 12.05.2024
Allzumenschliches
Meurisse, Catherine

Allzumenschliches


sehr gut

Philosophische Leckerbissen
Ich gestehe, dass ich für dieses Buch länger als eine Woche gebraucht habe. Eine grapic novel, ein Comic mit knapp hundert Seiten – überall Bilder, das hätte ja schneller gehen sollen – denkt man sich. Tatsächlich konzentriert „Allzu menschliches“ von Catherine Meurisse ein Lexikon der Philosophie auf engsten Raum und mit viel Witz. 46 mal hat sie auf je zwei Seiten ein Zitat oder die Essenz der Gedanken der jeweiligen Person eingefangen und mit einem Schlusswitz neutralisiert. Ohne diesen Schlussgag würde man in der jeweiligen Idee verharren und (in meinem Fall wohl) verzweifeln. Die Geschichten werden in den Alltag einer modernen Frau gestellt. Der männliche Denker (nur 3 Frauen finden hier Platz) verfügt über den Raum, den seine Gedanken mehr oder weniger befüllen, sprich als Sprechblase überfüllen oder lautmalerisch ausschmücken. Der Autorin bleibt das letzte Panel (Zeichnung) um sich mit einer witzigen Bemerkung/Darstellung aus der Gedankenwelt zu befreien.
In dem Buch finden sich überwiegend Franzosen (20) gefolgt von acht Deutschen Denkern. Den Griechen, die ja die Philosophie erfunden haben, werden fünf Kapitel gewidmet. Platon der mit seinem Höhlengleichnis wohl Bekannteste wird mit knapp 50 Buchstaben treffend desavouiert.
Die Zeichnerin und Autorin hat sich hier selbst als Beobachterin oder Fragende in jedem Kapitel eingebracht. Mit mehr (Martin Heidegger) oder weniger (Platon) Text füllt sie die die Zeichnungen. Diese sind vor allem bei der Darstellung der Gelehrten äußerst wirklichkeitsnahe. Der Hintergrund ist meist nur monochrom, Ortsdarstellung/Häuser/Landschaften sehr detailliert ausgeführt.
Das Handlettering von Olav Korth und die Übersetzung von Kilian Pithan sind sensationell gut gelungen.
Für alle die Zeit und Lust haben sich auf ein philosophisches Abenteuer einzulassen, Bilder mehrmals anzusehen und sich vor langen Textpassagen nicht fürchten – sie erhalten ein kurzweiliges Studium und eine Einführung in die Gedanken der letzten dreitausend Jahre.