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Benutzername: 
robertp
Wohnort: 
Guntramsdorf

Bewertungen

Insgesamt 33 Bewertungen
Bewertung vom 27.01.2025
Sing mir vom Tod
Pochoda, Ivy

Sing mir vom Tod


gut

Gewalt
Im Gefängnis erzählt eine Mörderin über ein Bild, ein Wandbild an einer Kreuzung in L.A., das sich beim Betrachten bewegen soll. Es ist die Geschichte zweier Frauen, Dios und Florida und an dieser Kreuzung endet alles.
Der Roman spielt in der Zeit um 2020, Corona lässt die Städte Amerikas vereinsamen. Die Straßen sind leer, nur wenige laufen ohne Maske durch die endlosen Straßenzüge. Was ist das Geheimnis der beiden Frauen? Kace, eine Mörderin, erzählt die Geschichte aus dem Gefängnis heraus, sie war mit einer der beiden in einer Zelle eingesperrt.
Florida kommt aus geordneten Verhältnissen, wird jedoch früh eine Müßiggängerin und steht immer kurz davor das Gesetz zu verletzen. Schließlich wird sie mitschuldig am Tod zweier Menschen.
Dios Vergangenheit bleibt rätselhaft, von Gönnern unterstützt macht sie ihren Highschoolabschluß und muss dann wegen schwerer Körperverletzung in den Knast.
Die beiden sind verbunden durch Tina, ein Mithäftling, die bei einer Revolte zu Tode kommt. Seit diesem Zeitpunkt verfolgt Dios Florida, da sie diese für Tinas Tod verantwortlich macht.
Beide Frauen werden vorzeitig entlassen, sollen die Quarantäne im selben Motel absitzen. Als Florida Essen holen will ergreift sie die Möglichkeit mit einem illegalen verkehrenden Reisebus in ihre Heimat L.A. zurückzukehren. Die sie beobachtende Dios steigt ebenfalls in den Wagen, ein mitfahrender Gefängnisaufseher stirbt und eine Spirale der Gewalt beginnt sich um die beiden Frauen zu drehen.
Im ersten Teil wird die Geschichte in schwierig zu lesenden Passagen aus Retrospektive und Gegenwart erzählt. Dominat ist hier Kace, die von Toten aufgesucht wird und von diesen Informationen über Florida und Dios erhält. Erst mit dem Auszug aus dem Gefängnis und dem Auftritt der ermittelnden Kriminalistin Lobos entsteht ein gleichförmiger Erzählstrang. Auch Lobos ist eine Getriebene, sie ist die weitaus bestens beschriebene Figur des Romans. Ihr Leben, so problematisch es auch ist, kann nachvollzogen werden und macht sie sympathisch. Auch sie wird von Dämonen getrieben (ihrem Ehemann) wird aber am Ende diese abstreifen.
Spannend sind die losen Enden (wer hat wen getötet) die erst spät verknüpft werden. Die Gewalt die Dios ausübt, um Florida auf ihre – die dunkle – Seite zu ziehen, ist für mich nicht nachvollziehbar, so wahllos tötet diese Frau. Ein Satz von Dios ist für mich prägend „Nichts .. ist vorbei. Es hat gerade erst angefangen“. Und so schreibt Ivy Pochoda auch diesen Roman, immer nach vorne zum nächsten Unglück, zum nächsten Toten. Es gibt den Stillstand – wie beim Western – erst auf der leeren Straße, wenn sich die Frauen gegenüberstehen und Lobos eine Entscheidung treffen muss.
Lob meinerseits geht vor allem an den Übersetzer Stefan Lux, der unter anderem die komplexen Gedanken von Kace sehr ansprechend niederschreibt.
Für alle die einen Roman lesen wollen, in dem ausschließlich Frauen von Gewalt beherrscht werden und ihrerseits diese Gewalt ausüben. Das Geschehen spielt im übervollen Gefängnis und auf nahezu einsamen – dank Korona – leeren Straßen, wie wir es aus den alten Western kennen und mit einem „shootout“ endet es ja auch.

Bewertung vom 11.12.2024
Not your Darling
Blake, Katherine

Not your Darling


ausgezeichnet

Ein spannender Einblick ins Hollywood der 50iger Jahre
Am Titelbild blickt mich eine junge Frau an. Sie trägt einen weichen Filzhut, der ihre langen lockigen Haare bedeckt. Eine Kostümjacke mit leichtem Karomuster vollendet diesen Auftritt. Der Blick wirkt fordernd, ja einladend – wie die ersten Seiten des Buches. Was folgt ist ein witziger, spannender Roman, eingebettet in die Atmosphäre der Filmstudios Kaliforniens der 50iger Jahre.
Ich habe sie gleich ins Herz geschlossen, diese Kleinkriminelle Loretta. Sie wirkt frisch, dem Abenteuer Hollywood stellt sie sich entschlossen entgegen und die Wahrheit, nun die ist ja wohl eine Ansichtssache. Kalifornien, Sunset Boulevard, Filmkarriere - der Traum aller jungen Menschen, aber Loretta möchte Maskenbildnerin werden. Ihre ersten Kunden sind die Prostituierten aus dem Nebenhaus. Nach der Hochzeit mit Raphael Goddard, Chef der Blue Book Modellagentur und angehender Filmstar, gerät sie in die Mühlen der L.A. Partyszene, eine Orgie übersteht sie nur mit der Hilfe des Drehbuchschriftstellers Eliot Scott. Dank ihrer Frechheit wird sie beim berühmtesten Visagisten in Hollywood angestellt.
K. Blake gelingt es die Atmosphäre des Hollywoods der 50iger einzufangen. Die Hauptfigur Loretta behauptet sich in der Männerwelt der Filmstudios mit natürlichem Charme und Chuzpe. Diese Frau hat Potenzial (auch für eine TV-Serie) und nutzt jeden Vorteil, den sie bekommt. Ihre kleinkriminelle Ader hilft ihr in manch ausweglosen Situationen. Die Emanzipation der Frau beginnt hier, in der Gestalt der Loretta Darling.
Für alle die sich auf einen kurzweiligen Ausflug nach Hollywood begeben und Anspielungen auf zeitgenössische Akteure entschlüsseln wollen. In einer Zeit in der die Frauen beginnen sich gegen die männlichen Chauvinisten aufzulehnen und mit allen (wirklich allen) Möglichkeiten gegen die etablierten Rollen ankämpfen, findet sich in Loretta Darling eine geeignete Kämpferin.

Bewertung vom 26.11.2024
Carmilla
Le Fanu, Sheridan

Carmilla


sehr gut

Das Titelbild zeigt eine blutrote Flamme, blickt man aber genauer hin erkennt man einen Frauenkörper, der von langen schwarzen Haaren geformt wird. Mehrdeutig, wie auch der Roman der vor über 180 Jahren entstanden ist.
Zunächst wird die Geschichte Lauras erzählt, die mit ihrem Vater abgeschieden in einem Schloss in der Provinz lebt und sich mit der Ankunft einer jungen Frau – Carmilla – etwas Abwechslung im Alltag erhofft. Carmilla bleibt aber meist bis mittags in ihrem Zimmer und gleichzeitig verschlechtert sich die Gesundheit von Laura rapide. Die Zuneigung der beiden Frauen zueinander kann auch als Liebesbeziehung gedeutet werden, in der sich die jüngere der beiden gleichsam auflöst.
Als ein alter Freund im Schloss eintrifft und die Symptome der Krankheit Lauras dem Einfluss eines Vampirs zuordnet beginnt die Jagd auf die im naheliegenden, verlassenen Dorf befindliche Brutstätte der Bösen.
Der Roman soll das Vorbild aller nachfolgenden Vampirgeschichten sein. Der Vampirismus wird hier subtil behandelt. Erst mit dem Versuch die „Urmutter“ des Bösen zu vernichten werden die üblichen Methoden einen Vampir zu töten angesprochen. Bis dahin verbleibt die LeserIn noch immer der Gedanke, dass eine Krankheit, oder die Melancholie (Liebesschmerz) schuld am Gesundheitszustand Lauras ist. Sicherlich kannte man 1872 keine knallharten Schocker Horrorromane sondern verklausulierte alles unter dem Mantel der reinen Gefühle. So muss der letzte Teil des Buches wie ein Schock für die LeserIn gewesen sein, als eine lebendige Leichen geköpft, gepfählt und verbrannt wurde.
Für alle die einen historischen Vampirroman lesen wollen. Kein Splatter oder Horrorroman sondern eine „gothic novel“ die im Grunde eine Liebe beschreibt die tragisch endet.

Bewertung vom 20.11.2024
Gefährliche Betrachtungen
Eckardt, Tilo

Gefährliche Betrachtungen


sehr gut

Urlaub eines Pedanten
Das Titelbild zeigt einen Mann im Anzug, allein an einem Strand umgeben von zwei kahlen Bäumen, die wie ein Periskop den Blick auf die einsame Gestalt fokussiert. Ein Wanderer, ein Verirrter oder ein Suchender? Tatsächlich ist es Thomas Mann, der im kleinen Künstlerdorf Nidden (Ostpreußen) seinen Sommerurlaub verbringt. Das Haus dort hat er sich von seinem Nobelpreis 1929 erbauen lassen.
Der Erzähler, der junge litauischen Übersetzer Žydrūnas Miuleris, von Mann Müller genannt, möchte das Werk des Schriftstellers in seine Heimatsprache übersetzen. Bei seiner ersten Begegnung kann der Eidetiker einen Blick auf einige Seiten der aktuellen Notizen des Künstlers werfen und fertigt leichtsinnig eine Kopie davon an. So beginnt das Schlamassel, denn er verliert diese Niederschrift. Die Suche danach führt uns durch den kleinen Ort, wir lernen die Familie Mann, die Bewohner und das Künstlervolk kennen. Die beiden verrennen sich in Theorien über den Verbleib der Blätter und erhalten das Gesuchte letztlich durch den Verlust eines Menschenlebens.
Die noch unberührte Küste der Nehrung wird eindrucksvoll in langen Spaziergängen beschrieben. Überhaupt bewegt sich die Suche wie Dünen in langgezogenen Bahnen an immer denselben Stellen. Statisch ohne viel Aufheben kehren die Suchenden an dieselben Orte (Gasthaus, Sommerhaus, Pension, Küste) zurück, mit neuen Ansätzen um die verlorenen Blätter zu finden. Thomas Mann wird als arrogant und Pedant beschrieben. Sein Aufenthalt ist minuziös geplant, die Aktionen von Müller unterbrechen aber immer wieder diese Abläufe. Sherlock und Watson oder Mann und Müller nennt sich das Gespann bei ihren Versuchen die Notizen wiederzubekommen. Falsche Fährten überwiegen und es braucht lange den aktuellen Besitzer zu enttarnen.
Der Beginn des Nationalsozialismus, die Auflösung der Weimarer Republik und die Position von Mann in der Politik (sieht die Gefahr einer „ faschistischen Pöbelherrschaft“) bilden den Hintergrund der Geschichte. Die Position des Künstlers gegenüber der Politik wird immer wieder thematisiert. Wie politisch darf und muss ein Schriftsteller sein, wie „outet“ er sich? Miuleris erzählt die Geschichte aus seinem Gedächtnis, sechzig Jahre später, und kann so einige Informationen einfließen lassen, die 1930 noch nicht bekannt waren.
Liest man den Untertitel „Der Fall Thomas Mann“ denke ich an Serien wie Miss Merkel von Safier, Queen Elisabeth (Bennett) oder US Präsident Clinton (Clinton/Patterson) – das ist dieses Buch aber nicht. Ich bekomme hier einen Einblick in das Leben des berühmten deutschen Schriftstellers unter Einbezug seiner historischen und familiären Umgebung. Der „Krimi“ ist dazu nur eine Klammer, um diese Konstellation einzufangen.
Für alle die sich für die Geschichte Deutschlands kurz für der Machtübernahme der Nationalsozialisten interessieren. Sie können sich dies in Form einer sich langsam entwickelnden, nur bedingt heiteren, Krimihandlung im Schriftstellermilieu einer Künstlerkolonie zu Gemüte führen.

Bewertung vom 11.11.2024
Wir finden Mörder Bd.1
Osman, Richard

Wir finden Mörder Bd.1


ausgezeichnet

Personenschutz einmal anders
Schnell wird man in die Welt der Personenschützerin Amy Wheeler integriert. Die Figur ist lebendig beschrieben, ihre Aufgabe – die Ermordung der berühmten Schriftstellerin Rosie D’Antonio zu verhindern – kehrt sich aber schon bald ins Gegenteil. Amy selbst wird Ziel von Mordanschlägen und kann sich nur mit Hilfe ihrer Klientin am Leben halten. Als weiterer Helfer dient der Schwiegervater Steve, der in England eigentlich einen ruhigen Lebensabend verbringen will, aber alsbald um die Welt reisen wird. Spaßig und mit Spannung versetzt ist diese Verfolgungsjagd beschrieben. Tatsächlich sind die ersten beiden Drittel des Buches sogenannte „pageturner“, man kann gar nicht aufhören zu lesen. Erst im letzten Drittel kommen allzu viele Verdächtige und Lösungen aufs Tableau und ich erhoffe bald den Bösewicht hinter Gittern zu sehen.
Der Roman ist eine Mischung aus weiblichem James Bond und skurrilem britischen Humor. Er verrinnt praktisch zwischen den Fingern. Eine Lektüre, die sich als perfekter Zeitvertreib im Urlaub eignet.
Am Titelblatt sonnt sich eine Katze, die auf einem Gewehrlauf sitzt, im Licht der Abendsonne. Ein Insiderwitz zwischen dem Künstler Richard Bravery und dem Autor (Quelle: Danksagung S.423). Und solche Witze dürfte es mehr geben, denn der Autor hat auch die Donnerstagsmordclub Bücher geschrieben. Ich kenne davon nur den ersten Band und bin somit noch nicht Teil des Osman Universums. Ein großes Lob auch an Sabine Roth und Elke Link. Ihre Übersetzung erzählt die Geschichte so witzig und lebhaft wie es das Original nicht besser könnte.
Der deutsche Buchtitel scheint mir jedoch vollständig am Inhalt vorbeigegangen, heißt das Original doch „We solve Murder“ und entspricht dem Inhalt viel mehr als der platte Untertitel – Sie haben den Fall. Wir haben die Lösung.
Für alle die Abenteuer mit Spannung wie bei James Bond und Humor a la Monty Python lieben und diese Eigenschaften in einem skurrilen Trio wiederfinden wollen.

Bewertung vom 04.11.2024
Tage einer Hexe
Dimova, Genoveva

Tage einer Hexe


sehr gut

Schmutzige Tage
Nimmt man das Buch zur Hand gefällt mir der geprägte Titel des Schutzumschlags und der Buchschnitt mit dem vom Titelbild übernommenen Blumenmotiv.
Die Autorin Genoveva Dimova (geboren in Bulgarien) kann ihre Herkunft in dem vorliegenden Erstling nicht verleugnen. Der von Balkanfolklore inspirierte Fantasyroman hat viele Anspielungen an die Dämonnwelt des östlichen Europas. Es wimmelt hier von Varklolaks (Werwölfen), Karakonjuls (Menschenfleichfresser) oder Ruskala (Geister von Ertrunkenen), die aber das kleinere Problem der Hauptperson des Romans sind. Die Hexe Korsara nämlich hat ihren Schatten verspielt und ohne diesen wird sie in Kürze sterben. Der Roman verfolgt nun die Bemühungen Korsaras innerhalb weniger „schmutziger Tage“, den Schatten zurückzubekommen. Zunächst innerhalb der Stadtmauern der verfluchten Stadt Chernograd, aber bald schon im Nachbarort Belograd. Dort kommt sie in (enge) Verbindung zum Polizisten Asen, der sie in ihrem Kampf gegen den Zar der Monster Zmey unterstützt.
Liest man das Buch wird man in eine gewalttätige Welt entführt. Während der Schmutzigen Tage sind die Menschen Chernograds Freiwild für die Dämonen. Die Schilderung der Monster erinnert an Geschichten aus den ehemaligen Ostblockländern und auch die gewaltige Mauer, die jeden Fluchtversuch verhindern möchte, verstärkt diesen Gedanken. Kosara ist keine sympathische Person, immer auf ihren Vorteil bedacht, von ihren Dämonen der Vergangenheit besessen, wird man nur langsam warm mit ihr, fiebert aber letztlich bei ihrem Überlebenskampf mit.
Als Sidekick hat sie sich einen Polizisten eingefangen, der selbst einige Geheimnisse hütet, sie bis zum Äußersten unterstützt, was nicht immer auf Gegenseitigkeit beruht. Dieser Polizist möchte einen Mordfall aufklären dessen Spuren in den verfluchten Stadtteil führen. Sind die beiden Jäger oder Gejagte? Nicht immer ist ihre Rolle eindeutig.
Ich habe den Roman unterschätzt, zunächst als Gruselgeschichte abgetan, aber mit zunehmender Länge wird er komplexer und spannender, sodass ich ihn bis zum Ende nicht mehr weglegen konnte.
Für alle die Geistergeschichten aus dem russischen Umfeld lesen wollen und auf eine Krimihandlung nicht verzichten können. Durchaus und wie es scheint tatsächlich (s. hompage der Autorin) der Beginn einer Serie.

Bewertung vom 16.10.2024
Antichristie
Sanyal, Mithu

Antichristie


gut

Postkoloniale Verwerfung
Das Titelbild ist oben und unten mit einem indischen Ornament geschmückt, ein riesiger Tiger scheint die Queen Elizabeth II anzugreifen. In diesem Buch wird England und die Geschichte Indiens eine große Rolle spielen.
Durga ist Deutsche mit indischem Vater. Ihre Mutter eine emanzipierte Unabhängigkeitskämpferin, sei es für Frauenrechte oder später für die indische Unabhängigkeit, stirbt gleich am Anfang und beim Verstreuen ihrer Asche spürt Durga nochmals ihre Mutter zwischen den Zähnen. Die Erinnerung an Sie dominiert die Kindheit der jungen Drehbuchautorin und auch noch in ihren späteren Jahren wird ihre Begeisterung für den Freiheitskampf der Inder ihr Leben beeinflussen. Wie?
Nun knapp nach der Beerdigung (besser Verschüttung der Asche) reist Durga zu einem Workshop nach London. Im Agatha Christie Writers Room sollen neue Ansätze für eine politisch korrekte Verfilmung von Hercule Poirots Romanen erarbeitet werden. Durga findet sich aber plötzlich als Mann und im indischen Widerstand gegen die Kolonialmacht England im Jahre 1905 wieder. Im India House lernt sie all die Helden des Befreingskampfes kennen, die ihre Mutter in ihrem Leben idealisiert hatte. Im Verlauf des Romans wechselt sie nun laufend (wirklich rasant) die beiden Epochen.
Der Roman spielt nun zwischen den beiden Zeitebenen. Als junger Inder Janjeev lernt sie, dass gewaltloser Widerstand zunächst von Gewalt (Attentate, Bombenbau) angetrieben werden muss, als Durga, dass Agatha Christie sakrosankt in England ist. Die Zeiten wechseln für mich als Leser so abrupt, dass ich (und auch Durga) stellenweise nur durch den Namen der Protagonisten feststellen kann in welcher Gestalt ich mich befinde – .. Welche Zeit war real? Die Kutschentaxis-und-Bombenbau-India-House-Zeit oder die Poirot-umschreiben-und-vor-der-Tür-dafür-beschimpft-werden-Zeit-im-Florin-Court?. S. 224. Beim Lesen erfährt man viel über Aufstände, Massaker und Attentate, die überlagert wurden von DER Geschichte des gewaltfreien Marsches von Mahatma Gandhi und Kurzweiliges darüber einen Film kulturhistorisch richtig zu inszenieren. Gott sei Dank ergänzt das Buch ein Glossar mit den wichtigsten Personen, dennoch ist es schwierig den langen Passagen über den Freiheitskampf zu folgen.
Ein Buch für alle die sich über den Freiheitskampf der Inder informieren wollen und nicht zögern langatmige Passagen über den Widerstand zwischen verschiedenen Fraktionen der Freiheitskämpfer zu lesen. Für mich war es schwierig bis zum Schluss durchzuhalten.

Bewertung vom 20.08.2024
Sobald wir angekommen sind
Lewinsky, Micha

Sobald wir angekommen sind


ausgezeichnet

Krise, aber überwiegend heiter
Das Titelbild zeigt uns eine geheimnisvolle Dschungelstadt. Ein Raubtier blickt uns bedrohlich ins Gesicht und über allem steht der volle Mond. Das Titelbild ist ansprechend und schon nach einigen Seiten gefällt mir dieses Buch außergewöhnlich gut. Der Krieg an der Grenze zu Europa, Ben ein Schweizer, der nicht weiß wohin er im Fall der Fälle flüchten soll. Obwohl die Lage nicht lustig ist, ist der Humor in den Zeilen immanent. Während die NATO vom Atomkrieg ausgeht stellt seine noch Ehefrau Marina fest, dass kein Olivenöl mehr im Haus ist.
Ben ist Jude, Verfolgung liegt in seinen Genen, seine neue Freundin Julia ist eine Schweizer Künstlerin. Bei ihr verbringt er die Hälfte der Woche, da er Sorgerecht und Bett mit Marina teilt – wohnen ist teuer in der Schweiz. Hals über Kopf will die Noch-Ehefrau nach Brasilien, ein Atomanschlag ist unvermeidlich sagen die Medien. Marina nimmt ihren Ehemann mit nach Recife. Ben wollte eigentlich nach Petropolis, wie sein Vorbild Stefan Zweig. Und so geht es ins Exil – „.. er konnte unmöglich mit Julia nach Brasilien fahren …. Brasilien war ein Flucht-, kein Urlaubsziel, das musste man strikt trennen ..“ (S. 35).
Eine tragisch komische Geschichte breitet Micha Lewinsky hier aus. Der Autor aus der Schweiz kommt aus dem Filmgenre und das merkt man dem Roman auch an. Die Handlung findet in Innenräumen statt, die Schweiz und Brasilien bieten die große Hintergrundkulisse. In seinem zweiten Buch schreibt der Drehbuchautor über einen erfolglosen (Drehbuch)Autor – einige Dialoge entspringen vielleicht aus eigenem Erlebnissen.
Der Protagonist sieht in seinem Leben immer die Möglichkeiten, er kann sich aber nicht entscheiden, also folgt er dem geringsten Widerstand. „Vielleicht war das Flickwerk aus Neurosen … das Ben großspurig „sein Leben“ nannte …“ (S.167). Letztlich kommt es zu einer Aussprache mit Marina und einer Rückkehr in die Schweiz. Zuvor erlebt er aber ein enttäuschendes Erlebnis beim Besuch der Casa Zweig.

Für alle die sich kurzweilig unterhalten wollen und dem Humor, auch dem jüdischen, nicht abgeneigt sind.

Bewertung vom 19.08.2024
Reise nach Laredo
Geiger, Arno

Reise nach Laredo


sehr gut

Der müde König
Das Titelbild ist auf den ersten Blick unspektakulär – alles rot. Blickt man näher hin, entdeckt man zwei Reiter, die auf eine kahle rote Festung zureiten.
Die Geschichte wird vom „Privatmann“ Karl erzählt. Karl ist eigentlich Karl V (1500-1558) Kaiser des Hl. Römischen Reiches und König von Spanien. Seine Titel hat er zurückgelegt und er lebt jetzt zurückgezogen in seinem Palast neben dem Kloster von Yuste, wo alle auf seinen Tod warten.
Karl ist alt und sehr krank – die Gicht plagt ihn. Schon ein Bad erfordert eine wissenschaftliche Übung in Hydraulik und Mechanik. Der Umgang mit seinen Mitmenschen erscheint mir mehr aus einem Meister gegen Knecht Verständnis zu entspringen. Männer und Frauen warten darauf ihn zu bedienen, der Tod (Geier) kreist schon über ihm, aber loslassen will er noch nicht. In seinem Spezialstuhl hält er Hof, sagt beleidigende Dinge und fühlt, dass er beleidigt, kann aber nicht anders.
Seinen Frieden findet er einzig im Schlaf und dieser wird ihm durch Laudanum (Opiumtinktur) ermöglicht. Und hier – im Schlaf - beginnt die Reise nach Laredo. Karl reitet mit dem Jungen Geronimo, seinem illegitimen Sohn, mit Pferd und Esel los. Auf Grund seiner Schmerzen muss er aber den Esel benutzen. Auf der Reise treffen sie ein Geschwisterpaar, retten es aus Kalamitäten und reisen gemeinsam weiter. Die Vier verbringen lange Zeit in einem Gasthof eines verlassenen Dorfes. Essen, Trinken und Kartenspielen wechseln einander ab, die Zeit scheint stillzustehen. Ein tragisches Vorfall führt letztlich zur Weiterreise nach Laredo (an der Atlantikküste im Norden Spaniens) wo sich Karl und Geronimo im Meer ein Bad gönnen.
Der Klappentext macht ziemliche Anspielungen auf Don Quijote und dieses Buch habe ich in meiner Jugend ganz gerne gelesen. Tatsächlich haben die beiden Bücher nur die Reise durch Spaniens Hinterland gemeinsam. Im Buch von Arno Geiger sind kaum komische Situationen zu finden. Der geschichtlich wahre Hintergrund wird literarisch durch die „Reise“ ergänzt. Geiger arbeitet die historischen Figuren im Roman zu Antagonisten der Queste um. Die karge Landschaft, das Leben der Menschen im Hinterland (.. des hohen einsamen Landes ..) Spaniens und die Lebensbedingungen der Cagots werden geschildert. Die Cagots waren Ausgestoßenen, die sich einem Enten- oder Gänsefuß aus Stoff anhängen mussten. Ihnen war ein normales Leben verwehrt, sie hatten keine Rechte – Analogien zum 20. Jahrhundert werden deutlich.
Die Reise endet mit einer großen Welle, die über Karls Kopf hinweg bricht, der Exkaiser stirbt in seinem Bett in Yuste.
Für alle die Lust haben eine historische Figur in einer fiktiven, aber glaubhaften, Reiseerzählung kennenzulernen. Ich habe ziemlich viel über das Leben in Spanien im 16. Jahrhundert erfahren.

Bewertung vom 05.08.2024
Das Lied des Propheten
Lynch, Paul

Das Lied des Propheten


ausgezeichnet

Freiheit gesucht
Eilish Stack, Wissenschaftlerin, Mutter von vier Kindern und verheiratet mit Larry wohnt in einem nicht weit entfernten Irland.
Larry wird bei einer Demo von der Polizei inhaftiert und verschwindet im Dschungel der Gerichtsbarkeit. Notstandsgesetze werden einberufen und immer stringenter angewendet. Die Schwester von Eilish, vor Jahren nach Kanada verzogen, bittet diese sich ins Ausland abzusetzen, aber die verzweifelte Frau will weder Heimat noch Ehemann verlassen. Der ältere Sohn geht in den Widerstand, ihr dementer Vater wird nach Kanada überführt, das Eigenheim liegt alsbald in einer Kriegszone und wird teilweise zerstört. Immer noch hält Eilish daran fest zu bleiben, da geschieht das nächste Unglück.
Paul Lynch schreibt von einer Zukunft, die schon eingetreten ist. Kriege in Syrien, aktuell in der Ukraine und Israel bedrohen die Menschen. Per Gesetz werden demokratische Werte abgeschwächt wie zuletzt in Amerika und Ungarn. Somit ist die Geschichte keine Utopie sondern eine Wahrheit und sie zeigt, dass der Mensch sich selbst der größte Feind ist.
Der Autor beschreibt in aufwendiger Bildsprache die Geschehnisse - "Du kannst den Wind nicht aufhalten, .. und der Wind wird durch das ganze Land wehen, .." S. 134 oder " .. das ist ein schwarzes Loch, das sich vor uns auftut, .. und selbst wenn das Regime gestürzt wird, das schwarze Loch wird weiter wachsen und dieses Land auf Jahre verzehren .." S. 155.
Ich habe einige Seiten gebraucht, um mich in die Sprache des Autors einzulesen, je weiter das Geschehen fortschreitet, desto schwieriger wird es die Gedanken von Eilish von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Man ist erschüttert zu lesen wie schnell Bürgerrechte zu leeren Worthülsen verkommen und Menschen zu Dingen werden.
In der Geschichte die völlig aus der Sicht von Eilish erzählt wird, war mir ihr dementer Vater die liebste Figur. Der Mann ist so realistisch dargestellt, so als würde er neben einem stehen. Ich habe mich gefreut als klar wurde, dass er nicht verschollen sondern in Kanada gelandet ist.
Für alle, die über die gegenwärtige Weltlage, ihre Kriege etc. literarisch aufbereitet lesen wollen. Alles Leid, dass ein Krieg mit sich bringt wird geschildert und man hofft, dass dies einen selbst nicht betreffen wird - aber schnell kann. Ein weiteres Buch zum Thema kann ich noch empfehlen - John Lanchester: Die Mauer.